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Märchenbasar

Pechvogel und Glückskind

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In einer kleinen Stadt, nicht weit von dem Orte, wo ich wohne, lebte einmal ein junger Mann, dem alles zum Unglück ausschlug, was er anfing. Sein Vater hatte Pechvogel geheißen, und so hieß er denn auch Pechvogel. Beide Eltern waren ihm früh gestorben, und die lange, dürre Tante, die ihn damals zu sich genommen hatte, prügelte ihn jedes Mal, wenn sie aus der Messe kam. Da sie nun aber jeden Tag in die Messe ging, so prügelte sie ihn eben auch alle Tage. Er hatte aber auch wirklich viel Unglück. Denn wenn er ein Glas trug, fiel es ihm gewöhnlich hin; und wenn er dann weinend die Scherben auflas, schnitt er sich stets in die Finger.
So ging es in allen Dingen. Zwar die lange Tante starb eines Tages, und er pflanzte um ihr Grab so viel Büsche und Bäume, als wenn er auf ihnen noch einmal alle die Stöcke ziehen wolle, die sie auf seinem Rücken zerschlagen hatte; aber sein Unstern schien mit jedem Jahre nur mehr und mehr zuzunehmen. Da bemächtigte sich seiner eine große Traurigkeit, und er beschloss, in die weite Welt zu gehen. Schlechter kann’s nimmer werden, dachte er; vielleicht wird’s besser. Er steckte daher seine ganze Barschaft in die Tasche und wanderte zum Tor hinaus.
Vor dem Tor, auf der steinernen Brücke, blieb er noch einmal stehen und lehnte sich über das Geländer. Er sah in die Wellen hinab, die reißend an den Pfeilern vorbeischäumten, und es wurde ihm gar wehmütig ums Herz. Es war ihm fast, als wenn es ein Unglück wäre, die Stadt, in der er so lange gelebt, zu verlassen. Und vielleicht hätte er noch lange so gestanden, wenn ihm nicht plötzlich der Wind den Hut vom Kopfe geweht und in den Fluss geworfen hätte. Da erwachte er aus seinen Träumen, aber der Hut war schon unter der Brücke fortgeschwommen und tanzte auf der anderen Seite mitten im Strom; und jedes Mal, wenn ihn eine Welle hochhob, schien er höhnisch zurückzurufen: „Adieu, Pechvogel! Ich reise; bleibe du zu Hause, wenn du Lust hast.“
So machte sich denn Pechvogel ohne Hut auf den Weg. Lustige Gesellen zogen oft genug singend und jubilierend an ihm vorüber und luden ihn ein, in Gemeinschaft mit ihnen die Wanderschaft fortzusetzen. Doch er schüttelte jedes Mal traurig den Kopf und sagte: „Ich passe nicht zu euch und würde euch nicht viel Glück bringen! Außerdem heiße ich Pechvogel!“ Sobald sie diesen Namen hörten, wurden die lustigen Burschen ernsthaft und verlegen und machten sich eilends aus dem Staube. Erreichte er abends müde ein Wirtshaus und saß er an einer einsamen Ecke des Schanktisches, den Kopf in die Hand gestützt und vor sich den zinnernen Krug mit Wein, der nimmer leer werden wollte, so trat wohl zuweilen das Wirtstöchterlein leise zu ihm heran, tippte ihn auf die Schulter, so dass er sich erschrocken umdrehte, und fragte, warum er so traurig sei. Wenn er aber dann seine Geschichte erzählte oder gar seinen Namen nannte, schüttelte sie den Kopf, ging zu ihrem Spinnrad zurück und ließ ihn allein sitzen und seinen Gedanken nachhängen.
Nachdem Pechvogel mehrere Wochen lang gewandert war, ohne recht eigentlich zu wissen wohin, kam er eines Tages an einen wundervollen großen Garten, der von einem hohen, vergoldeten Geländer umgeben war. Durch das Geländer hindurch sah man uralte Bäume und niedriges Buschwerk, abwechselnd mit großen Rasenplätzen. Dazwischen schlängelte sich ein Bach, über den eine Menge kleiner Brücken führte. Zahme Hirsche und Rehe spazierten auf den gelben Sandwegen umher, kamen bis ans Gitter, streckten ihre Köpfe heraus und fraßen ihm das Brot aus der Hand. In der Mitte des Gartens aber sah man aus den Bäumen ein stattliches Schloss hervorragen. Die silbernen Dächer blitzten in der Sonne, und von den Türmen wehten bunte Fahnen und Banner. Er ging das Geländer entlang; endlich fand er einen großen, offenstehenden Torweg, von dem eine lange schattige Allee gerade auf das Schloss führte. Im Garten selbst war alles still; kein Mensch ließ sich sehen oder hören. Am Tor hing eine Tafel. Aha! dachte er, wie gewöhnlich! Wenn man an einem recht schönen Garten vorbeikommt, wo die Tore einladend offen stehen, dann hängt immer eine Tafel daneben, worauf steht, dass der Eintritt verboten ist. Zu seiner Überraschung sah er jedoch, dass er sich diesmal täuschte: denn auf der Tafel stand weiter nichts als: „Hier darf nicht geweint werden!“ – „So, so“, sagte er, „eine närrische Inschrift“, zog das Taschentuch heraus und rieb sich ein wenig die Augen; denn er war nicht ganz sicher, ob nicht in einer Ecke irgendwo doch eine halbe Träne sitzen geblieben sei. Darauf trat er in den Garten ein. Der große breite Weg, der schnurstracks aufs Schloss zulief, machte ihn beklommen. Er schlug lieber einen Seitengang mitten zwischen hohen Jasmin- und Rosenhecken ein. Den verfolgte er und gelangte in einen kleinen Wald, aus dem ein Weg mit vielen Windungen zu einem Hügel hinaufführte. Als er jetzt abermals um eine Ecke bog, lag die Spitze des Hügels vor ihm, und auf dem Hügel im Grase saß ein wunderschönes Mädchen.
Sie hatte eine goldene Krone auf dem Schoß, auf die sie fortwährend hauchte. Dann nahm sie ihre seidene Schürze, rieb die Krone mit ihr, und als sie sah, dass sie wieder ganz blank wurde, klatschte sie vor Freude in die Hände, strich sich ihre langen Haare hinter die Ohren und setzte sich die Krone wieder auf.
Den armen Pechvogel überfiel bei ihrem Anblicke eine sonderbare Angst. Sein Herz pochte so laut, als wenn es zerspringen wollte. Er trat hinter einen Busch und duckte sich nieder. Aber es war eine Berberitze, und ein Zweig legte sich ihm gerade quer übers Gesicht. Und wie der Wind den Busch leise hin und her bewegte, kitzelte ihm ein Dorn fortwährend an der Nasenspitze herum, so dass er laut niesen musste. Erschrocken drehte sich das Mädchen mit der Krone um und sah Pechvogel hinter dem Busche kauern.
„Warum versteckst du dich?“ rief sie. „Willst du mir etwas Böses tun, oder fürchtest du dich vor mir?“
Da trat Pechvogel zitternd wie Espenlaub hinter dem Busche hervor.
„Du tust mir nichts!“ sagte sie lachend. „Komm her, setze dich ein wenig zu mir; meine Gespielinnen sind alle fortgelaufen und haben mich allein gelassen. Du kannst mir etwas recht Hübsches erzählen, aber was zum Lachen! Hörst du? Aber du siehst ja so traurig aus! Was fehlt dir denn? Wenn du kein so finsteres Gesicht machtest, wärst du wirklich ein ganz hübscher Mensch.“
„Wenn du es haben willst“, antwortete Pechvogel, „will ich mich wohl einen Augenblick zu dir setzen. Aber wer bist du denn? Ich habe ja mein Lebtag noch nie etwas so Schönes und Herrliches gesehen wie dich!“
„Ich bin die Prinzessin Glückskind, und dies ist meines Vaters Garten.“
„Was machst du denn hier so allein?“
„Ich füttere meine Rehe und Hirsche und putze meine Krone.“
„Und nachher?“
„Dann füttere ich meine Goldfische!“
„Und wenn du damit fertig bist?“
„Dann kommen meine Gespielinnen wieder, und dann lachen wir und singen und tanzen!“
„Ach, was du für ein glückseliges Leben führst! Und das geht so alle Tage?“
„Ja, alle Tage! Nun sage aber auch einmal, wer du bist und wie du heißt.“
„Ach, allerschönste Prinzessin, verlangt nur das nicht von mir! Ich bin der allerunglücklichste Mensch unter der Sonne und habe den allerhässlichsten Namen.“
„Pfui!“ sagte sie, „ein hässlicher Name ist sehr hässlich! In meines Vaters Ländern gibt es einen, der heißt Entengrütze, und einen anderen, der heißt Fettfleck; du wirst doch nicht etwa so heißen?“
„Nein“, antwortete er, „Entengrütze heiße ich nicht, auch nicht Fettfleck. Mein Name ist noch viel hässlicher. Ich heiße Pechvogel.“
„Pechvogel? Das ist ja zum Totlachen! Kannst du denn keinen anderen Namen kriegen? Höre, ich will mir einmal einen recht hübschen Namen für dich ausdenken, und dann will ich meinen Vater bitten, dass er dir erlaubt, ihn zu tragen. Mein Vater kann alles, was er will; denn er ist König. Aber nur unter der Bedingung tu ich es, dass du ein ganz vergnügtes Gesicht machst. Nimm doch die Hand vom Gesicht; du musst dir nicht immer so an der Nase herumzupfen! Du hast eine ganz hübsche Nase und wirst sie dir noch ganz und gar verderben. Streich dir einmal die Haare aus der Stirn! So! Nun siehst du doch einigermaßen vernünftig aus. – Sage einmal, warum bist du eigentlich so traurig? Denn ich bin immer vergnügt, und jeder, mit dem ich rede, freut sich. Nur dir sieht man’s gar nicht an!“
„Warum ich so traurig bin? Weil ich mein ganzes Leben traurig war und stets Unglück habe. Und du bist immer lustig? Wie fängst du das an?“
„Mich hat eine Fee über die heilige Taufe gehalten, der hatte mein Vater früher einmal einen großen Dienst erwiesen. Sie nahm mich auf den Arm, küsste mich auf die Stirn und sagte zu mir: ‚Du sollst immerdar fröhlich sein und alle Welt fröhlich machen. Wenn dich ein recht trauriger Mensch ansieht, soll er sein Unglück vergessen! Glückskind sollst du heißen!‘ – Dich aber hat wohl keine Fee geküsst?“
„Nein, nein!“ antwortete er hastig, „niemals!“
Darauf wurde die Prinzessin sehr still und nachdenklich und sah ihn mit ihren großen blauen Augen so sonderbar an, dass es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. Dann hub sie wieder an: „Ob es auch immer eine Fee sein muss? Eine Prinzessin ist auch etwas. Komm her, knie dich einmal hin; denn du bist mir zu groß.“
Darauf trat sie vor ihn, gab ihm einen Kuss und lief lachend fort.
Ehe sich Pechvogel noch recht besinnen konnte, war sie verschwunden. Langsam stand er auf. Es war ihm, als wenn er aus einem Traum erwachte; und doch fühlte er, dass es kein Traum sein könne, denn eine wunderbare Fröhlichkeit war über sein Herz gekommen. „Wenn ich nur meinen Hut hätte“, sagte er, „dass ich ihn in die Luft werfen könnte. Vielleicht finge er an zu trillern und flöge als Lerche davon! Zumut ist es mir so. Ich glaube wirklich, ich bin lustig. Das wäre doch zu merkwürdig.“ – Er pflückte sich noch einen großen Blumenstrauß im Garten und wanderte singend die Landstraße weiter.
Sobald er in die nächste Stadt kam, kaufte er sich ein rotsamtnes Wams mit Atlasschlitzen und ein Barett mit einer langen weißen Feder, besah sich im Spiegel und sagte: „Pechvogel heiße ich? Wir wollen doch sehen, ob ich nicht einen anderen Namen bekomme. Aber den schönsten, den es gibt, sonst nehme ich ihn nicht an.“ Dann stieg er auf ein Pferd, gab ihm die Sporen, dass es lustig dahintanzte, und setzte seine Reise fort.
Prinzessin Glückskind aber, nachdem sie dem Pechvogel den Kuss gegeben hatte, lief und lief. Dann ging sie langsamer und langsamer, und zuletzt setzte sie sich auf eine Bank unweit vom Schlosse und fing an, bitterlich zu weinen. Als ihre Gespielinnen zurückkehrten und sie fanden, weinte sie immer noch. Sie versuchten sie zu trösten, aber es half nichts. Da liefen sie in ihrer Angst zum König und riefen: „Um Gottes Willen, Herr König! Ein Unglück für das ganze Land! Prinzessin Glückskind sitzt im Garten und weint, und niemand kann ihr helfen.“ Als dies der König hörte, wurde er vor Schrecken blass und sprang eilig die Treppe in den Garten hinunter. Da saß die Prinzessin weinend auf der Bank und hatte die Krone auf dem Schoß, und es waren auf sie so viele Tränen gefallen, dass sie in der Sonne blitzte, als wenn sie mit tausend Diamanten besetzt wäre. Der König nahm seine Tochter in den Arm und tröstete sie und redete ihr zu; aber sie weinte immerfort. Er führte sie in das Schloss und ließ ihr aus dem ganzen Lande alles, was es nur Schönes und Kostbares gab, kommen; doch sie blieb traurig; und so oft er sie auch bat, ihm doch zu sagen, welch ein schweres Herzeleid ihr widerfahren sei, sie antwortete nicht. Aber der König fragte immer wieder, und zuletzt musste sie es sagen; und sie erzählte, wie sie im Garten gesessen und wie ein junger Mensch gekommen wäre, der so überaus traurig ausgesehen, und wie sie ihn geküsst hätte, um zu sehen, ob er dadurch nicht vielleicht etwas fröhlicher würde.
Da schlug der König die Hände über dem Kopf zusammen. „Einen fremden, hergelaufenen Menschen, wahrscheinlich einen ganz gewöhnlichen Handwerksburschen! Mit schlechten Kleidern; und noch dazu ohne Hut! Es ist unglaublich!“
„Er dauerte mich so sehr!“
„Ein hübscher Grund für eine Prinzessin, den ersten besten Strolch zu küssen! Und Pechvogel heißt er? Unerhört! Aber den Menschen muss ich haben, und wenn ich ihn habe, wird er geköpft. Das ist die allergeringste Strafe, die ihn treffen kann!“
Darauf befahl der König seinen Reitern, das Land nach allen Richtungen hin zu durchstreifen und auf den armen Pechvogel zu fahnden. „Wenn ihr einen jungen Menschen findet, der aussieht, als hätten ihm die Mäuse das Brot weggefressen, und keinen Hut hat, der ist’s! Den bringt ihr sofort hierher!“ Und die Reiter stoben auseinander wie Spreu, in die der Wind fährt, und durchzogen das ganze Land. Manche von ihnen kamen auch an Pechvogel vorbei, der in seiner vornehmen Kleidung stolz auf dem Pferde saß; aber sie erkannten ihn nicht, und die meisten von ihnen kehrten unverrichteterdinge in das Schloss zurück, wo sie der König zornig anfuhr und alberne, ungeschickte Menschen schalt, die zu gar nichts zu gebrauchen seien. Die Prinzessin aber blieb traurig wie zuvor und kam jeden Mittag mit verweinten Augen zu Tisch; und der König tat auch weiter nichts, als dass er immer wieder seine schöne, traurige Tochter ansah, und ließ darüber Suppe und Braten kalt werden.
So ging es Woche um Woche. Eines Tages jedoch entstand plötzlich ein Lärmen auf dem Schlosshofe. Alles lief zusammen, und ehe noch der König Zeit gehabt, ans Fenster zu treten, um nach der Ursache zu sehen, führten schon zwei Reiter den armen Pechvogel in sein Zimmer. Sie hatten ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, aber sein Gesicht strahlte, als wenn ihm in seinem Leben noch nie etwas Lieberes widerfahren wäre. Er verneigte sich vor dem Könige und richtete sich dann stolz auf, abwartend, was er über ihn beschließen würde.
„Wir haben den sauberen Vogel gefangen, Majestät!“ sagte der ältere der beiden Reiter. „Er muss sich aber inzwischen gemausert haben; denn Eure Beschreibung passt wie die Faust aufs Auge! Gewiss hätten wir ihn auch nie gefunden, wenn uns nicht der dumme Tölpel, als wir im Wirtshaus mit ihm zusammentrafen, die ganze Geschichte selbst erzählt hätte. Und wisst ihr, was er getan hat, nachdem wir ihn gefangen und gebunden? Weitergelacht und weitergesungen! Und wie wir ihn auf sein Pferd gesetzt, zwischen unsere Pferde genommen und hierher gejagt? Geschimpft und gezankt, dass wir so langsam ritten! Als wenn er es nicht erwarten könne, bis er geköpft würde. Wenn das der traurigste Mensch in der ganzen Christenheit sein soll, Majestät, so möchte ich wohl den allerlustigsten sehen. Der muss sich dann zum Frühstück die Beine ausreißen und in den Kaffee tauchen. Alles andere hat der hier schon unterwegs gemacht!“
Als der König dies gehört, trat er vor Pechvogel mit gekreuzten Armen hin und sagte: „Also du bist der Mensch, der die Frechheit gehabt hat, sich von der Prinzessin küssen zu lassen?“
„Ja, Herr König! Und ich bin seitdem der allerglückseligste Mensch der Welt geworden!“
„Werft ihn in den Turm, er soll morgen geköpft werden!“
Hierauf führten die Reiter Pechvogel hinaus und in den Turm; der König aber ging mit langen Schritten in seinem Zimmer auf und ab. „Das ist ein schlimmer Handel“, sagte er. „Haben tu ich ihn, und geköpft wird er; aber davon allein wird mein Glückskind nicht wieder lustig.“ Dann ging er leise bis an das Zimmer seiner Tochter, sah durchs Schlüsselloch, schüttelte den Kopf, ging wieder lange auf und ab und ließ endlich seinen Geheimen Rat kommen. Als dieser alles gehört, besann er sich und sagte:
„Ich weiß nicht, ob’s hilft, aber man könnte es versuchen. Dass der Pechvogel vorher traurig war und jetzt lustig ist, ist sicher; ebenso, dass unsere schöne Prinzessin früher stets fröhlich war und nun fortwährend weint. Dass der Kuss daran schuld ist, ist doch sehr wahrscheinlich. Also, der Pechvogel muss der Prinzessin den Kuss wiedergeben. Majestät, das ist meine untertänigste Meinung!“
„Das ist ja ganz unmöglich“, erwiderte der König ärgerlich, „und ganz gegen die Sitte meines Hauses!“
„Ehrwürdige Majestät müssen die Sache nur als Staatsakt betrachten, dann geht es wohl, und niemand kann etwas dagegen einwenden.“
Der König überlegte sich die Angelegenheit noch etwas, dann sagte er: „Gut, wir wollen es versuchen. Rufe alle Grafen und Ritter ins Thronzimmer und lass den Gefangenen heraufführen!“
Darauf legte der König seine Staatskleidung an und nahm auf dem Throne Platz. Neben ihm stand die Prinzessin, der er gar nicht gewagt hatte zu sagen, weshalb er sie hatte rufen lassen, und um ihn herum in großem Kreise der ganze Hof; lauter vornehme Herren in goldgestickten Kleidern mit Sternen und Schärpen. Alles war ganz still. Da ging die Tür auf, und Pechvogel wurde hereingebracht.
„Du wirst morgen geköpft“, fuhr ihn der König an, „aber zuvor wirst du augenblicklich und vor allen diesen edlen und erlauchten Herren meiner Tochter den Kuss wiedergeben, den sie dir unüberlegterweise gegeben hat!“
„Wenn Ihr nur das wünscht, Herr König“, entgegnete Pechvogel, „so will ich es herzlich gern tun, und wenn es möglich ist, dass ein Mensch noch glücklicher werden kann, als ich es jetzt schon bin, so werde ich es gewiss werden!“
„Das wollen wir erst einmal sehen“, unterbrach ihn der König barsch. „Diesmal könntest du dich verrechnet haben!“
Darauf schritt Pechvogel auf die Prinzessin zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss. Sie aber nahm seine Hand, sah ihn sehr freundlich an, und beide blieben vor dem Throne stehen.
„Bist du nun wieder vergnügt, meine liebe Tochter?“ fragte der König.
„Ein klein bisschen, Herr Vater“, entgegnete sie. „Aber es wird gewiss nicht lange vorhalten.“
„Ja, ja!“ sagte der König traurig, „ich sehe es schon. Er ist ja nicht wieder traurig geworden, wie es sein müsste, wenn’s richtig wäre. Er steht ja noch immer da und lächelt und macht immer noch das unverschämt vergnügte Gesicht! Was nun anfangen?“
Da schlug die Prinzessin die Augen nieder und sagte leise: „Ich weiß es, Vater, und will es dir sagen; aber bloß ins Ohr.“
Darauf ging der König mit der Prinzessin auf den Vorsaal, und wie sie wieder hereintraten, nahm er die Hand Pechvogels, legte sie in die der Prinzessin und sagte zu allen den versammelten Herren und Grafen:
„Es ist nicht zu ändern, Gottes Wille geschehe; dies ist mein lieber Sohn, der König wird, wenn ich einmal sterbe.“
Und Pechvogel wurde Prinz und später König. Er wohnte in dem goldenen Schlosse und gab der Prinzessin so viele Küsse, dass sie noch viel fröhlicher wurde als zuvor. Prinzessin Glückskind aber schenkte ihm für seinen hässlichen Namen die allerschönsten; jeden Tag einen anderen. Nur zuweilen, wenn sie recht übermütig lustig war, sagte sie zu ihm: „Weißt du noch, wie du früher hießest?“ und dann wollte sie sich totlachen. Er aber hielt ihr den Mund zu und sprach: „Still! was sollen die Leute denken, wenn sie es hören? Ich verliere ja allen Respekt!“

Quelle:
(Richard von Volkmann-Leander)

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