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Märchenbasar

Prinz Ali

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Prinz Ali sah auf und erblickte den Staub hinter sich. Seine junge Frau wandte sich an ihn und sprach: »Nimm dich ja in Acht! Ach, mein Vater hat alles bereut und Fusstruppen und Reiter gegen dich gesandt, die wollen dich töten und mich wieder heimbringen!« Ali wandte sich an seine Diener und gebot: »Zieht ruhig weiter!« Jene zogen weiter und verschwanden bald. Er aber trat den Heerschaaren ihres Vaters allein entgegen. Der Wesir blickte ihn an und rief ihm zu: »Lass von dem ehrbaren Manchen ab und geh allein unbehindert weiter!« Ali erwiderte jenem: »Ich habe meine Frau mit Fug und Recht erworben, ich lasse sie nicht los!« Der Wesir entgegnete: »Mein Sohn, dann verteidige dich!« Ali erwiderte: »Ihr habt nicht vor euch einen, der flieht!« Jetzt umzingelten sie ihn; er aber stürmte gegen sie an und tötete von ihnen fünfhundert. Man kämpfte, bis die Nacht einbrach; in der Nacht aber stellte man die Feindseligkeiten ein, um auszuruhen.
Prinz Ali kehrte zu seiner Gemahlin ins Gebirge zurück und brachte die Nacht daselbst zu. Am folgenden Morgen bestieg er sein Ross und ritt gegen die feindliche Reiterschaar, um sie zu bekämpfen. Er blickte den Wesir an und sprach: »Tretet einzeln an gegen mich! Des Mannes Gegner soll ein Mann sein!« Der Wesir entgegnete: »Das ist richtig!« Dann sprach er zu den Soldaten: »Der Sultan beköstigt euch und kleidet euch, und ihr bekommt euren Sold, wohlan, zeiget euren Mannesmut! Greifet ihn an, einer nach dem andern!« Die Ritter machten nun, einer nach dem andern ihren Angriff auf Ali; schliesslich tötete derselbe zweihundert Ritter. Da sprach wieder der Wesir zu den Soldaten: »Greift ihn alle zusammen auf einmal an!« Die sämtlichen Soldaten griffen ihn auf einmal an, und er begann sie zu bekämpfen, bis die Nacht einbrach. Dann kehrte er zurück zu seiner Gemahlin, betäubt, müde und verwundet. Seine Frau geriet in Angst seinetwegen und sprach zu ihm: »Mein Herr, es ist zu viel für dich!« Er entgegnete ihr: »Mein Hort ist Gott; das Alles thut weiter nichts!« So war er also wieder geschützt (für diese Nacht); da dachte er bei sich nach und sprach: »Habe ich denn nicht die Haare des Menschenfressers? Er sagte mir doch: ›Wenn du einmal in eine schlimme Lage kommst, so räuchere mir mit einem solchen Haar!‹« Ali blickte seine Frau an und sprach zu ihr: »Bring mir einen Gluttopf mit Feuer!« Sie brachte ihm einen Gluttopf, und er verbrannte ein solches Haar. Der Rauch stieg noch von demselben in die Höhe, da rief schon der Menschenfresser: »Was willst du, mein Herr?« Ali entgegnete: »Du siehst es ja; ich befinde mich in einer peinvollen Lage, und Pein beengt mich zur Stunde, wo du mich siehst!« Der Menschenfresser entgegnete: »Hab‘ keine Angst weiter! Dir stehen lauter tüchtige Leute zu Gebote! Bleib du nur morgen ganz ruhig und sieh bloss zu!« Diese Nacht blieb der Menschenfresser bei Ali als Gast; Ali schlachtete für ihn vier Kameele, denn jener war ein grosser Fresser.
Am folgenden Morgen stiess die feindliche Reiterschaar auf Herrn Ali; da erhob sich der Menschenfresser, empfahl sich Gott und begann den einen mit dem andern zu erschlagen, er hob einen Mann empor und erschlug mit ihm einen andern. So kämpfte man eine Zeit lang; als dann die Feinde sahen, dass sie überwunden wurden, und nur noch wenige von ihnen übrig waren, da flohen sie und kehrten zum Wesir zurück. Sie sprachen zu demselben: »Wir haben fliehen müssen und sind umgekehrt; jenen können wir nicht bezwingen, der ist ein Menschenfresser, der erschlägt einen mit dem andern von uns, er kämpft gegen uns ohne Waffen, er nimmt einen Mann empor und erschlägt mit ihm einen andern!«
Prinz Ali nahm nun ungehindert seine Gemahlin und zog weiter; er reiste weiter und erblickte schliesslich vor sich eine Stadt. Er sprach zu sich: »Ich will hier etwa einen Monat ausruhen und mich pflegen!« Er betrat die Stadt, mietete sich in derselben ein Haus und brachte in demselben seine Diener und seine Gemahlin unter. Jeden Tag ging er des Morgens aus, um einzukaufen und seinen Leuten zu bringen, was gegessen und getrunken wird, und um sich die Stadtviertel und verschiedenen Strassen anzusehen. Als er eines Tages so umherwanderte, da kam er an dem Laden eines Ringelbäckers vorüber; plötzlich erblickte er den Sohn des Wesirs, Muhammed, bloss mit einem Schurze bekleidet und mit einem alten Lappen auf dem Kopfe, mit dem er sich den Kopf umwickelt hatte. Ali trat ein und sprach: »Ich möchte zehn Pfund Eingel haben.« Dann wandte er sich an den Ringelbäcker und sagte zu demselben: »Hast du jemanden, der sie mir nach Hause schaffen könnte?« Der Bäcker entgegnete (indem er auf Muhammed zeigte): »Ich habe den armen Menschen hier; wenn du ihm eine kleine Belohnung giebst, so wird er sie dir gar zu gern heimschaffen.« Ali sprach zu jenem: »Trage also das Gebäck!« Muhammed legte alles auf ein Tragebrett und trug es. Er ging mit Prinz Ali; der begab sich mit ihm nach dem Obergeschosse seines Hauses und sprach: »Setze dort die Eingel hin, mein Bursche!« Nun kannte der Prinz den Wesirsohn, aber jener hatte den Prinzen nicht wiedererkannt. Da sah Ali jenen an und sagte zu ihm: »Bist du nicht Muhammed der Sohn des Wesirs?« Muhammed sah jenen an, brach in Thränen aus und stürzte zu Boden. Ali sprach aber: »Weine nicht, erzähle mir, was dir geschehen ist!« Muhammed erwiderte: »Frage mich nicht danach,, was mir geschehen ist!« Ali fragte: »Wo ist denn dein Ross, dein Geld und deine Kleider?« Muhammed entgegnete: »Fort sind sie, ich habe sie allesamt verkauft und mit ihrem Erlöse lustig gelebt!« Da sandte Ali jenen ins Bad, gab ihm einen neuen Anzug, schor ihm den Kopf und schnitt ihm das zottige Haar ab, kurz, machte ihn wieder zu einem netten Menschen, sodass er wie ein Krystall mit Ali heimkam.
Jene Nacht verbrachte Muhammed in Ali’s Hause, am nächsten Morgen aber gab ihm der Prinz ein Ross und Waffen; dann stieg man zu Pferde, empfahl sich Gottes Schütze und ritt ab. Als sie einen oder anderthalb Monat gereist waren, da ging ihnen das Wasser aus. Man suchte nach Wasser und fand schliesslich einen Brunnen. Nun hatte aber Muhammed, der Wesirsohn, als er beim Prinzen die Frau und die Diener gesehen hatte, Eifersucht zu empfinden begonnen und sich gesagt: »Wie kommt’s, dass der Prinz mit einer Frau und mit Dienern heimzieht, während ich ohne alles das heimkehren muss, wie der Piquebube?!« Als man zum Brunnen kam, da hiess es: »Wer soll hinabsteigen?« Ali forderte Muhammed auf: »Steig du hinab und befördere uns Wasser herauf, dass wir trinken und unsre Tiere tränken!« Muhammed entgegnete: »Das sind deine Tiere, was gehen die mich an? Ich habe bloss ein Pferd, für das werde ich Wasser sammeln und dann ziehe ich ab; aber du hast ja eine Masse Tiere und Diener und eine Frau, steig du hinab!« Prinz Ali stieg nun hinab, beförderte Wasser herauf und versorgte die Pferde mit Wasser; sie tranken; er liess auch die Wasserschläuche füllen. Nachdem man oben fertig war mit der Füllung der Wasserschläuche, rief Ali hinauf: »Ziehe mich empor!« Muhammed begann jenen emporzuziehen; als jener aber halb emporgekommen war, da zog Muhammed sein Schwert und schnitt das Seil durch. Prinz Ali stürzte wieder hinab und blieb unten liegen. Der Wesirsohn Muhammed begann die Leute des Prinzen einzuschüchtern mit den Worten: »Wer nicht mit mir weiterzieht, dem schneide ich den Kopf ab!« So zog man weiter, und schliesslich gelangte Muhammed nach seiner Vaterstadt.
Der Wesir fragte seinen Sohn: »Wo ist denn der Prinz?« Muhammed entgegnete: »Ich weiss weder von ihm, ob er auf einem Baugerüste arbeitet, noch ob er als Gehülfe den Badeofen heizt.« Der Wesir dachte bei sich nach und sprach zu sich: »Diese That (solche Diener und eine so schöne Frau sich zu verschaffen,) kann unmöglich mein Sohn fertig gebracht haben, mein Sohn bringt keine Prinzessin heim; alles dies kann nur der Prinz zu Stande gebracht haben, meinen Sohn kenne ich als Taugenichts!« Der Sultan hörte ebenfalls, dass der Sohn des Wesirs zurückgekehrt sei; er sprach zum Wesir: »Rufe mir deinen Sohn, ich will ihn fragen!« Der Sohn des Wesirs kam zum Sultan, der fragte ihn: »Wo ist dein Vetter?« Muhammed entgegnete: »Wir verweilten in einer Stadt, etwa einen halben Monat lang, da begann er seine Habe zu verkaufen und übermässige Ausgaben zu machen, bis er schliesslich ganz mittellos wurde. Ich habe ihn beständig zur Vernunft ermahnt, er aber wollte nicht auf meine Worte hören!« Da ward der Sultan sehr aufgebracht, als er solche Kunde über seinen Sohn vernahm; er wandte sich an den Wesir und sprach zu ihm: »Wenn du hörst, dass mein Sohn die Stadt wieder betreten hat, so nimm ihn fest und töte ihn und bring mir ein Glas von seinem Blute, denn er macht mir Schande!«
Die Erzählung möge nun zu Prinz Ali im Brunnen zurückkehren! Sein Pferd war durchgegangen, und niemand hatte es einfangen können, als Muhammed den Strick, an dem der Prinz hing, durchgeschnitten hatte, und jener hinabgestürzt war. Prinz Ali war aber in eine schlimme Lage geraten und ward ungeduldig da unten. Als er so dasass, da erschien ihm plötzlich ein weiblicher und ein männlicher Affe; die wollten sich vor ihm einen Streit schlichten lassen; der Affe und die Äffin gehörten aber zu den Wesen der anderen Welt. Wenn nun Herr Ali bei dem Schiedsgerichte in einem Punkte dem Affen Recht gab, da prügelte ihn die Äffin durch; gab er aber der Äffin Recht, so prügelte ihn der Affe. Ali blickte auf und sprach zu sich: »Ich muss ihre Sache schnell schlichten, sonst prügeln sie mich noch tot!« Somit wandte er sich an den Affen und sprach zu ihm: »Du Affe, wenn du klug und verständig wärest und Wahrsageschrift zu lesen verständest, (dann dächtest du an folgenden Rat) behalte lieber eine Äffin, die sich an dich gewöhnt hat, und lass ab von einer Gazelle in Freiheit!« So machte Ali Frieden zwischen dem Affen und der Äffin. Der Affe ward froh und sprach zu Ali: »Steig auf meinen Rücken!« Dann kletterte jener mit Ali empor, brachte ihn oben aus dem Brunnen hinaus und setzte ihn oben nieder. –
Der Wesir hatte Wächter angestellt, welche ihn benachrichtigen sollten, wenn sie sähen, dass der Prinz heimkäme. An dem Tage, wo der Prinz die Stadt wieder betrat, da sah ihn einer von den Wächtern, der begab sich zum Wesir und meldete ihm: »Der Prinz ist wiedergekommen.« Der Wesir ging dem Prinzen entgegen, bewillkommte ihn und sprach zu ihm: »Sei gegrüsst! Wie geht’s dir?« Dann nahm er ihn mit in seinen Palast und beherbergte ihn drei Tage als seinen Grast, ohne dem Vater des Prinzen etwas zu sagen. Denn er dachte: »Wenn mir auch der Sultan gesagt hat, ich solle ihn töten, so will ich es doch nicht thun; denn wer nicht die Ausgänge der Dinge ins Auge fasst, der hat keinen Freund auf der Welt!«
Die Erzählung möge jetzt zu Sineddur zurückkehren. Als sie aus dem Schlafe erwachte, da fand sie, dass sie guter Hoffnung sei. Was sprach sie? Sie sprach: »Mein Zustand ist nicht der gewöhnliche!« So verging denn einige Zeit, und schliesslich gebar sie; sie brachte einen Sohn zur Welt. Sie zog den Ehekontrakt, den Prinz Ali geschrieben hatte, hervor unter dem Kopfkissen und las ihn. Sie fand darin geschrieben: »Thue niemandem ein Unrecht! Niemand anders hat sich dir genaht als Prinz Ali!« Sie liess nun einige Zeit verstreichen, und schliesslich wurde ihr Sohn drei Jahre alt. Eines Tages blickte der Knabe seine Mutter an und sprach zu ihr: »Mütterchen, habe ich denn keinen Vater?« Sie entgegnete: »Du hast einen, aber er wohnt in einem fernen Lande.« Der Knabe sprach: »Aber wir müssen nach dem Lande gehen, wo der Vater sich befindet.« Sie entgegnete: »Gott befohlen, mein Sohn!« Sie drehte die Krone auf ihrem Haupte um, da erschienen sieben Geisterkönige. Sie befahl denselben: »Ich wünsche ein königliches Heer!« Das Heer erschien, und sie bestieg ihr Ross und ritt in der Mitte dieses Heeres, während man über ihr Fahnen schwenkte; so gelangte sie nach der Stadt, wo sich Prinz Ali befand. Sie befahl dem Heere, draussen vor der Stadt haltzumachen; dann schlug man die Soldatenzelte und ihr Prachtzelt mit seinen vier goldnen Kuppeln auf.
Ein Muezzin in der Stadt stieg auf das Minaret, um zum Gebete zu rufen; da erblickte er diese Heermassen rings um die Stadt geschart! Zitternd stieg er herab, begab sich schnell zum Sultan und berichtete: »Ringsum die Stadt haben sich Truppen geschart: alle Steine unsrer Stadt kommen ihnen nicht an Zahl gleich!« Der Sultan sprach zum Wesir: »Begieb dich hin, frage und erkundige dich, was dies Heer bedeuten soll, kommen sie und wollen sie uns töten, oder was wollen sie sonst!« Der Wesir stieg zu Ross und ritt hin. Er stieg am Eingange des Prachtzeltes ab und begrüsste sie ehrfurchtsvoll als Majestät. Er liess sich neben Sineddur nieder und küsste ihr die Hand; dann blickte er sie an und sprach zu ihr: »Benachrichtige mich! Dies Alles bedeutet doch nichts Schlimmes?« Sie entgegnete dem Wesir: »Ich wünsche, dass ihr mir jetzt denjenigen bringet, der mein Land und mein Schloss betreten hat!« Der Wesir entgegnete: »Ich weiss von alledem nichts!« Sie aber sprach: »Aus eurer Stadt müsst ihr ihn mir jetzt bringen!« Der Wesir versetzte: »Da will ich wieder in die Stadt reiten und den Beherrscher der Stadt hiervon in Kenntnis setzen!«
Der Wesir ritt wieder zum Sultan zurück und sprach: »Mein Herr, so etwas war uns nicht in den Sinn gekommen!« Der Sultan entgegnete: »Ich werde mit dir hinreiten!« Sie stiegen beide auf, und als sie an den Eingang des Zeltes für die Unterhändler gelangten, stiegen sie ab und gingen zu Fuss weiter bis an das Prachtzelt. Dann brachten sie ihren königlichen Gruss vor. Jene forderte sie auf, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Der Sultan blickte auf und sprach: »Was ist die Kunde?« Sie entgegnete: »Ich wünsche, dass ihr mir denjenigen bringt, der mein Schloss und mein Land betreten hat!« Der Sultan sprach hierauf zum Wesir: »Gieb mir einen Bat! Du bist in deine Stellung eben zu dem Zwecke gelangt, um mir zu raten!« Der Wesir erwiderte: »Mein Herr, da will ich in die Stadt gehen und meinen Sohn fragen; mein Sohn war ja verreist, möglicherweise hat er jene That ausgerichtet!«
Der Wesir ritt in die Stadt zurück und rief seinen Sohn zu sich. Er sprach zu ihm: »Mein Sohn, bist du nach dem Lande der Sineddur gelangt?« Jener entgegnete: »Jawohl.« Da sprach sein Vater: »Komm jetzt mit, damit dich Sineddur sieht!« Sein Sohn ritt mit ihm hin, und sie kamen nach dem Lager. Als sie an den Eingang des Abgesandtenzeltes gelangten, stiegen sie ab und begaben sich zu Fuss zur Königin; sie begrüssten sie als Königin. Muhammed trat nun mit seinem Vater vor sie hin; sie blickte den Wesir an und fragte ihn: »Wo ist der, welcher mein Land betreten hat?« Er entgegnete ihr: »Da ist er!« Da sprach Sineddur zu Muhammed: »Wo ist dein Beweis?« Der Wesirsohn entgegnete: »Ich habe kein Beweisstück, ich habe keines mitgenommen.« Da befahl sie: »Legt ihn in Ketten und führt ihn ins Gefängnis, denn er ist ein Lügner!« Dann wandte sie sich an den Sultan und sprach zu ihm: »Suchet nach und bringet mir den, der mein Schloss betreten hat, sonst zerstöre ich eure Stadt Stein um Stein!« Da blickte der Wesir auf und sprach zum Sultan: »Gieb mir Urlaub! Ich will in die Stadt, um dort ein Weilchen nachzudenken und die Lage zu betrachten!«
Der Wesir begab sich in die Stadt zurück, ging in sein Schloss und zwar in das Zimmer des Prinzen Ali. Demselben küsste er die Hand und sprach zu ihm: »Mein Herr, steh uns mit deinem Rate bei; denn wir befinden uns in einer grossen Pein!« Prinz Ali begriff ohne Weiteres, worum es sich handelte und sprach: »Setz dich zu mir her, Vater, lass mich dir jetzt erst eine Geschichte erzählen!«
Er begann: »Es war einst ein Sultan, derselbe hatte keine Söhne. Eines Tages ging er spazieren, da fand er einen kleinen Knaben, den man im Wickeltuche ausgesetzt hatte. Der Sultan wollte an demselben vorübergehen; da blickte ihn der Wesir an und sprach: ›Dieses Knäbchen, das man hier ausgesetzt hat, bringt dir vielleicht die göttliche Vorsehung in den Weg; du thust wohl gut, wenn du ihn zu deinem Sohne machst; du hast ja keine Söhne!‹ Der Sultan nahm den Knaben mit und besorgte eine Amme für denselben. Schliesslich wuchs der Knabe heran. Als er Gutes und Böses unterscheiden konnte, begann er Dinge anzustellen, die weder Gott noch den Menschen gefallen konnten, Zu denselben gehörte ein Ding, das er vom Wesir verlangte; er sprach nämlich zu demselben: ›Was sagt das Wasser, wenn man es auf das Feuer setzt, und wenn es kocht?‹ Der Wesir entgegnete ihm: ›Mein Herr, ich bin nicht Salomo, der alle möglichen Sprachen verstand!‹ Der Sultan blickte den Wesir an und sprach zu demselben: ›Was mein Sohn wünscht, das muss erfüllt werden; du musst meinem Sohne Antwort geben auf das, wonach er dich gefragt hat; und wenn du meinem Sohn nicht binnen neun Tagen Antwort bringen kannst, so lasse ich dir den Kopf abschlagen!‹ Der Herr Wesir nahm von den Leuten feierlich Abschied und bestieg sein Ross. Er ritt planlos umher und kam schliesslich an das Zelt eines Beduinen. Da stieg er ab und bemerkte ein kleines Mädchen. Er wandte sich an sie und sprach zu ihr: ›Was ist’s, warum bist du allein im Zelte? Wo ist deine Mutter?‹ Das Mädchen entgegnete: ›Meine Mutter ist ausgegangen, um Gott zu bekämpfen.‹ Der Wesir fragte darauf: ›Wo ist denn aber dein Vater?‹ Das kleine Mädchen entgegnete: ›Er lässt den Bedränger auf den Bedrängten los.‹ Während der Wesir dort im Zelte sass, da kam ihre Mutter; dieselbe kam heim und wehklagte, denn ihr Sohn war gestorben. Das Mädchen blickte den Wesir an und sprach zu demselben: ›Habe ich dir nicht gesagt, meine Mutter bekämpft Gott? Eine Sache, die Gott eben einmal so gebracht hat, deretwegen sollten wir nicht dergleichen anstellen; ein Ding, das dahin ist, nach dem sollten wir nicht weiter fragen!‹ Während er noch so dasass, da kam auch der Vater des Mädchens heim; er kam mit einem Windhunde und trug eine junge Gazelle. Das Mädchen blickte den Wesir an und sprach zu ihm: ›Habe ich dir nicht gesagt, mein Vater lässt den Bedränger auf den Bedrängten los? Der Windhund ist der Bedränger und die Gazelle der Bedrängte!‹ Der Vater nahm ein Lamm aus der Herde, schlachtete es und bereitete es für das Abendessen. Man forderte den Wesir auf: ›Iss mit uns!‹ Er entgegnete: ›Ich vermag weder zu essen, noch zu trinken!‹ Man fragte ihn: ›Warum?‹ Er entgegnete: ›Der Sohn des Sultan, dem ich in seinem Leben nur Gutes erzeigt habe, hat an mich eine Anforderung gestellt, die der Satan nicht begreifen würde!‹ Man fragte den Wesir: ›Welcher Art ist dieselbe?‹ Er entgegnete: ›Nun, da sagt ihr mir, was das Wasser spricht, wenn man es aufs Feuer setzt, und es kocht!‹ Da blickte der Beduine den Wesir an und sprach zu ihm: ›Das ist eine leichte Frage!‹ Hiermit rief er sein kleines Töchterchen heran und sprach zu demselben: ›Sag du es ihm!‹ Das kleine Mädchen sprach zum Wesir: ›Weh‘, weh‘ schrei‘ ich; vom Himmel floss ich; im Grunde lag‘ ich; das Holz, das ich belebte, durch das verbrenn‘ ich!‹«
Da verstand der Wesir (was jene Erzählung bedeuten solle,) dass Prinz Ali seinem Sohne Muhammed Gutes erwiesen, jener aber ihm Böses angethan hatte. Der Wesir nahm den Prinzen mit und brachte ihn ins Lager der Sineddur; jener gelangte an das Thor des Prachtzeltes und trat auf die Anwesenden zu. Sineddur erhob sich und fragte ihn: »Bist du der, welcher mein Schloss und Land betrat?« Ali entgegnete: »Ja.« Jene sprach zu ihm: »Zeig mir dein Beweisstück!« Er entgegnete ihr: »Da ist dein Ring!« Sie erwiderte: »Ja, das ist mein Ring.« Darauf blickte sie der Prinz an und sprach zu ihr: »Zeige mir den Ehekontrakt!« Sie zog ihn hervor und zeigte ihn dem Prinzen; dann holte sie ihren gemeinsamen Sohn herbei und sprach: »Dies ist dein und mein Sohn, ein rechtmässiges Kind!« Nun erhob sich auch der Sultan und begann seinen Sohn und dessen Gemahlin zu umarmen und beide zu küssen; er sprach zu ihr: »Du sollst meine liebe Tochter in dieser und in jener Welt sein!« – Sineddur blickte auf und befahl dem Befehlshaber ihrer Truppen, sie sollten sich nach ihrer Heimat begeben. Jene zogen ab. Prinz Ali nahm seine Frau und kehrte mit ihr in die Stadt zurück, nebst seinem Vater und dem Gefolge.
Doch bevor er die Hochzeit feierte, sprach er zu ihr: »Ich muss dich auf ein Ding aufmerksam machen: ich habe schon eine Frau, diese habe ich früher als dich genommen. Du bist von den Geistern und lässt vielleicht Zorn in deinem Herzen gegen sie entstehen.« Sineddur aber entgegnete: »Ich werde nicht garstig sein! Gott so mache sie zu meiner Schwester in dieser und jener Welt!« – Der Sultan blickte den Wesir an und sprach: »Hast du all das Böse vernommen, das dein Sohn meinem Sohne angethan hat? Was für ein Urteil verdient er?« Der Wesir entgegnete: »Er verdient den Tod, und ich werde ihn mit eigner Hand töten!« Man brachte Muhammed herbei und stellte ihn in den Blutkreis. Da eilte Prinz Ali herbei, warf sich auf den jungen Menschen und sprach zu seinem Vater: »Lass mich zu seinen Gunsten reden, Vater! Sein Vergehen schädigte niemanden, ausser einen nobeln Menschen; er hat böse an mir gehandelt, ich aber werde gut mit ihm handeln; denn jeder handelt so, wie seine Natur ist!«

[Afrika: Tunesien. Märchen der Welt]

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