Suche

Märchenbasar

Schlammkönigs Tochter

0
(0)
Die Störche erzählen ihren Kleinen gar viele Märchen, alle aus dem Moore und Röhricht; sie sind in der Regel dem Alter und der Befähigkeit angemessen; die kleinsten Jungen sind zufrieden Jungen sind zufrieden, wenn „kribbel, krabbel, plurremurre“ gesagt wird, das finden sie schon ausgezeichnet; allein die älteren wollen einen tieferen Sinn, oder wenigstens etwas von der Famile wissen. Von den beiden ältesten und längsten Märchen, die sich bei den
Störchen erhalten haben, ist uns allen das eine, das von Moses bekannt, den seine Mutter in den Nil aussetzte, der von des Königs Tochter aufgefunden wurde, eine gute Erziehung genoß und ein großer Mann ward, von dem man später nicht wußte, wo er begraben liegt. Das zweite Märchen ist noch unbekannt, vielleicht, weil es fast ein inländisches Märchen
ist. Es ist von Mund zu Mund, von Storchmama auf Storchmama durch Tausende von Jahren hindurchgegangen, und jede von ihnen hat es besser und besser erzählt, und wir
erzählen es nun am besten:
Das erste Storchenpaar, das es erzählte und selbst darin eine Rolle spielte, hatte seinen Sommeraufenthalt auf dem Blockhause, eines Wilkins *) in Jütland, nicht weit von den Skagen entfernt. Noch heute ist dort ein ungeheures Moor, wie man es aus der Beschreibung des Kreises Hjörring entnehmen kann. Ehemals heißt es, sei hier Meeresgrund gewesen, der sich erhoben habe; jetzt erstreckt sich das Moorland meilenweit nach allen Seiten, umgeben von feuchten Wiesen und schwankenden, gleichsam zitterndem Sumpfgrunde, von Torfmoor mit Beeren und verkrüppelten Bäumen. Fast immer schwebt der Nebel über die Landschaft,
und vor siebzig Jahren hausten hier noch Wölfe. So heißt sie mit Fug und Recht das „Wildmoor „ – und man kann sich denken, wie öde und unwegsam es hier sein mag, wie viel Sumpf und See hier vor tausend Jahren gewesen. Im einzelnen erblickte man damals hier dasselbe, was heute noch zu sehen ist: das Röhricht hatte dieselbe Höhe, trug dieselbe Art langer Blätter und bläulichbrauner Federblüten, die es jetzt noch trägt; Die Birke stand, wie jetzt, mit ihrer weißen Rinde und ihren feinen, losen herabhängenden Zweigen da, und was die lebenden Wesen, die hier lebten, betrifft, so trug die Fliege ihr Florkleid von demselben Schnitte wie jetzt, die Lieblingsfarbe des Storchs war Weiß mit Schwarz und rote Strümpfe dazu; dagegen hatten die Menschen damals einen anderen Rockschnitt als heutzutage, aber jeden, mochte er Jäger oder Knappe, Herr oder Knecht sein, jedweden, der auf das schwankende, schaukelnde Moorland hinaustrat, ereilte vor tausend Jahren, wie heutzutage, dasselbe Schicksal: er versank und ging hinab zu dem Schlammkönige, wie sie ihn nannten, der unten in dem großen Moorreiche herrschte. Moorkönig oder Sumpfkönig könnte man ihn auch nennen, uns aber gefällt Schammkönig besser, und so nennen ihn auch die Störche. Gar wenig weiß man von des Schlammkönigs Regierung, aber das ist vielleicht gut so.
In der Nähe des Moorlandes, hart an dem großen Meeresarme zwischen Nordsee und Kateglatt, Lymfjord heißt, lag des Blockhaus der Wilkins (Nordische Seefahrer) mit seinen steinernen, wasserdichten Kellern, seinem Turme und seinen drei Stockwerken; auf dem Dachfirst hatte der Storch sein Nest gebaut, und die Storchenmama brütete dort die Eier aus
und war ihrer Sache gewiß, daß ihr Brüten zu etwas führe.
Eines Abends blieb der Storchenpapa sehr lange aus, und als er nach Hause kam, sah er merkwürdig aufgeregt und eilfertig aus. „Ich habe dir etwas Entsetzliches mitzuteilen!“ sagte er zur Storchmama. „Verschone mich damit“ bedenke, daß ich Eier ausbrüte, es könnte mir schaden, und das wirkt dann auf die Eier ein.“ – „Du musst es wissen!“ fuhr er fort. „Sieh ist hier angelangt, die Tochter unseres Wirtes in Ägypten; sie hat es gewagt, die Reise hier herauf zu machen – und fort ist sie!“
„Sie, die dem Geschlechte der Feen entsprungen ist?
Erzähl’ doch! Du weißt, daß ich in der Zeit, da ich brüte, leicht ungeduldig werde. „Siehst du Mütterchen, sie hat doch an das geglaubt, was der Doktor sagte, und was du mir erzähltest; sie hat daran geglaubt, daß die Moorblumen hier oben ihrem kranken Vater Heilung bringen würden. Sie ist im Schwanengefieder, in Begleitung der andern Schwanenprinzessinnen, die jedes Jahr hierher nach dem Norden kommen, um sich zu verjüngen, hergeflogen; sie ist hergekommen, und fort ist sie!“ – „Du erzählst gar zu weitschweifig!“ sagte die Storchmama, „die Eier könnten sich erkälten! Ich vertrage es nicht, in solcher Spannung zu sein!“
„Ich habe aufgepaßt!“ fuhr der Storchpapa fort, „und heute abend, als ich ins Röhricht ging, dort wo der Sumpfgrund mich tragen kann, kamen drei Schwäne an. Etwas in ihrem Fluge sagte mir: „Halt, das sind keine Schwäne, das sind nur Schwanenhäute! Unsereins – du wie ich – hat das so im Gefühl.“ – „Jawohl!“ sagte sie „aber erzähle doch von der Prinzessin; ich habe es satt, nur immer von Schwanenhäuten zu hören!“
„Hier, mitten im Moorgrund, ist, wie du weißt, ein See“ – sprach der Storchpapa. „Du kannst einen Zipfel davon sehen, wenn du dich ein wenig erhebst; dort, an dem Röhricht und dem grünen Schlick, lag ein großer Erlenstumpf; auf diesen setzten sich die drei Schwäne, schlugen mit den Flügeln und schauten um sich; der eine warf die Schwanenhaut ab, und ich erkannte in ihm sogleich unsre Prinzessin aus Ägypten.“
Da saß sie nun ohne irgend ein anderes Gewand als ihr langes Haar; ich hörte, wie sie die beiden andern bat, auf die Schwanenhaut wohl acht zu haben, wenn sie in die Gewässer hinabtauche, um die Blumen zu brechen, die dort zu erblicken wähnte. Die anderen nickten, hoben das leere Federkleid auf und nahmen es an sich. Ei, was die wohl beginnen werden,
dachte ich, und sie hatte wahrscheinlich denselben Gedanken.
Die beiden nickten, erhoben sich und flogen mit der Schwanenhaut empor. „Tauche, nur hinab!“ riefen sie dann.
„Du wirst Ägypten nimmermehr wieder schauen; bleib nur in dem Moor hier sitzen!“ und damit zerrissen die Schwanenhaut in tausend Stücke, daß die Federn umherstoben, als sei es ein Schneegestöber – und dann flogen die Treulosen davon!“
„Das ist ja entsetzlich!“ sagte die Storchmama; ich halte es nicht aus, mehr davon anzuhören! – Nun, sage mir, was dann weitergeschah!“ – „Die Prinzessin jammerte laut und meinte, ihre Tränen benetzten den Erlenstumpf, und – dieser regte sich
plötzlich, denn er war gar kein Erlenstumpf, sondern der Schlammkönig, der in dem Moorgrunde wohnt und herrscht.
Ich selbst sah es, wie sich der Baumstumpf umkehrte und dann gar kein Baumstumpf mehr war; lange; schlammige Zweige ragten aus ihm empor wie Arme. Da erschrak das arme Kind heftig und sprang davon. Sie eilte auf dem grünen Schlickboden hinüber, allein der vermag nicht einmal mich zu tragen, viel weniger sie; sie versank sogleich, und der Erlenstumpf tauchte gleichfalls unter – er war es, der sie hinabzog. Große schwarze Blasen stiegen aus dem Moorschlamm empor, und – jede Spur der beiden war fort.
Jetzt ist die Prinzessin in dem Wildmoor begraben, nimmermehr wird sie Blume nach Ägypten bringen. Das Herz wäre dir zersprungen, Mütterchen, hättest du das gesehen!“
„So etwas solltest du mir gar nicht in dieser Zeit erzählen, die Eier könnten dadurch leiden! Die Prinzessin wird sich schon zu helfen wissen. Es springt ihr schon jemand bei! Ja, wäre ich, oder wärest du es gewesen, oder überhaupt einer von den Unsern, dann wäre es allerdings aus gewesen!“
„Ich werde aber doch jeden Tag nachsehen, ob sich nichts regt“, sagte der Storchpapa, und das tat er auch. Es verstrich eine lange Zeit, bis er endlich einen grünen Stengel aus dem tiefen Moorgrunde emporschießen sah. Als dieser den Wasserspiegel erreichte, sprosste ein Blatt hervor und entfaltete sich immer breiter; dicht an diesem setzte eine Knospe an und als der Storchpapa eines Morgens über den Stengel hinflog, öffnete die Knospe sich durch die Macht der kräftigen Sonnenstrahlen, und im Kelche der Blume lag ein reizendes Kind, ein kleines Mädchen, ganz so anzuschauen, als sei es eben aus dem Bade ausgestiegen. Die Kleine sah der Prinzessin aus Ägypten so ähnlich, daß der Storch im ersten Augenblick wähnte, es sei die Prinzessin selbst, als er sich aber besann, fand er es doch wahrscheinlicher, daß es ihre und des Schlammkönigs Tochter sein müsse, darum ruhte sie auch im Kelche der Wasserlilie. „Aber dort kann sie doch unmöglich liegen bleiben“, dachte der Storchenpapa, „und in unserem Neste sind wir schon gar zu viel Personen! – Doch, da fällt mir etwas ein: die Frau des Wilkins hat keine Kinder und wünschte sich immer ein Kleines. Es heißt immer: der Storch hat das Kleine gebracht, so will ich doch endlich einmal Ernst damit machen! Ich fliege mit dem Kinde zu der Wilkingsfrau – welchen Jubel wird das dort geben!
Der Storch hob das kleine Mädchen aus dem Blumenkelche flog nach dem Blockhause, hackte dort mit seinem Schnabel ein Loch in die Blase, die das Fenster bildete, legte die reizende Kleine an die Brust der Wilkingsfrau, flog zur Storchenmama hinauf und erzählte ihr, was er gesehen und getan, und die Storchjungen hörten es mit an, sie waren schon groß genug dazu. „Siehst du also, die Prinzessin ist nicht tot, sie hat die Kleine hier herauf gesandt und jetzt ist die auch untergebracht!“ – „Das habe ich ja von Anfang an gesagt!“
rief die Storchmama; – denk aber jetzt auch ein wenig an deine eigene Familie; die Rüstzeit rückt heran, dann und wann kribbelt es mich schon unter den Flügeln. Der Kuckuck und die Nachtigall sind schon fort, und die Wachteln hörte ich sagen, daß sie auch fort wollten, sobald der Wind sich gut anließe. Unsere Jungen werden sich bei der Sache schon brav halten, wie ich sie kenne.“ Die Wilkingsfrau war über die Maßen froh, als sie am anderen Morgen erwachte und an ihrer Brust das kleine, reizende Kind erblickte; sie küßte und herzte es, allein es schrie entsetzlich und schlug um sich mit Händen und Füßen, es schien gar nicht erfreut zu sein; endlich weinte es sich selbst in den Schlaf, und als nun so still dalag, bot es einen gar wunderlichen Anblick dar. Die Wilkingsfrau war sehr froh und fühlte sich gesund an Leib und Seele, ihr war recht leicht ums Herz, und es schien ihr nun auch, als müßte ihr Gemahl und seine Mannen, die gerade abwesend waren, ebenso unerwartet und plötzlich heimkehren, wie die Kleine gekommen war. Sie und das hanze Haus hatten darum vollauf zu tun, als recht schön für den Empfang des Herrn vorzubereiten. Die langen farbigen Decken, die sie und ihre Mägde selbst gefertigt, und in die sie die Bilder ihrer Götzen, Odin, Thor und Freia, eingeweiht hatten, wurden aufgehangen; die Sklaven putzten die alten Schilde, die zur Ausschmückung dienten; Kissen wurden auf die Bänke und trocknes Holz auf die Feuerstelle in der Mitte der Halle gelegt, damit die Flamme sogleich angefacht werden könnte. Die Wilkingsfrau legte selbst mit Hand an, so daß sie gegen Abend sehr ermüdet war und leicht und schnell einschlief.
Als sie gegen morgen erwachte, erschrak sie heftig, denn das Kindlein war verschwunden. Sie sprang vom Lager auf, zündete einen Kienspan an und schaute sich ringsum im Raume, und siehe an der Stelle des Lagers, wo sie ihre Füße gestreckt, lag – nicht das Kindlein, sondern ein großer, häßlicher Frosch. Es wurde ihr schlimm doch bei diesem Anblicke; sie ergriff eine schwere Stange um damit den Frosch zu töten, allein dieser blickte sie mit so wunderbar traurigen Augen an, daß sie den Schlag nicht zu führen vermochte. Nocheinmal spähte sie rings im Zimmer umher; der Frosch ließ ein feines, ängstliches Quaken hören, sie fuhr dabei zusammen, sprang von der Lagerstätte nach der Luftluke hin und ri´ß diese eiligst auf. Die Sonne trat in diesem Augenblick hervor, warf ihre Strahlen durch die Luke auf das Lager, auf den großen Frosch, und plötzlich – siehe da, es war, als ziehe sich das breite Maul zusammen, als werde es klein und rot, die Gliemaßen streckten und reckten sich und nahmen die schönste Gestalt an – und nun lag wieder ihr feines, reizendes Kind da und kein häßlicher Frosch.
„Was ist das nur?“ sagte sie; habe ich einen bösen Traum gehabt? Ist es doch mein eigenes, leibliches Ebenbild, das dort liegt!“ Und sie küßte und herzte es, aber das Kind stieß und schlug um sich wie ein wildes Kätzchen. Nicht an diesem Tage und auch nicht an dem folgenden kehrte der Wilking zurück, obwohl er freilich schon unterwegs nach der Heimat war. Aber der Wind stand ihm entgegen, der blies nach Süden für die Störche. Des einen Freude ist oft andern Leid.
Als einige Tage und Nächte verstrichen waren, wußte die Wilkinsfrau, wie es um ihr Kind stand: daß nämlich entsetzlicher Zauber auf ihm ruhte. Am Tage war es so reizend wie ein Lichtelf, hatte aber eine böse, wilde Natur; nachts dagegen war es ein häßlicher Frosch, still und traurig, mit kummervollen Augen; hier waren zwei Naturen, die nach innen wie nach außen mit dem Sonnenlichte abwechselten. Das war aber darum, so weil das Mägdlein am Tage die äußere Gestalt seiner wirklichen Mutter, aber die Sinnesart des Vaters besaß; nachts dagegen trat die Abstammung vom Vater sichtbar in der Körpergestalt hervor, während dann zugleich im Innern des Kindes Gemüt und Herz der Mutter walteten.
Wer vermocht wohl diesen durch den Zauber bewirkten Bann zu lösen? Die Wilkingsfrau lebte in Angst und Kummer darüber, und doch hing ihr Herz an dem kleinen Geschöpfe, von dessen Zustand sie ihrem Gemahl, sobald er nach Hause käme, nichts erzählen wollte; denn er würde dann wahrscheinlich, wie es Brauch und Sitte war, das arme Kind auf der Heerstraße aussetzen, damit es nehme, wer da wolle.
Das konnte die gute Wilkingsfrau aber nicht geschehen lassen. Sie beschloß daher, daß der Wilking das Kind immer nur bei hellem Tageslichte sehen sollte.

Eines Morgens rauschten Storchflügel über das Dach dahin; mehr als hundert Storchenpaare hatten sich während der Nacht von dem großen Manöver, daß die Störche vor dem Abflug je halten, erholt, und jetzt flogen sie hoch empor, um gen Süden zu ziehen. „Alle Mann da und bereit!“ hieß es; Frau und Kinder auch mit!“ – „Wie leicht uns zumute ist, schrien die Storchjungen im Chore, „es kribbelt und krabbelt uns bis in die Zehen hinunter, als wären wir mit lebenden Fröschen angefüllt. Ach wie schön ist’s doch, ins Ausland zu reisen!“
„Haltet euch hübsch im Zuge mit uns!“ riegen Papa und Mama. „Braucht das Mundwerk nicht so sehr, das greift die Brust an.“ Zur selben Zeit tönten die Klänge des Kriegshorns über die Heide dahin, der Wilking war gelandet mit seinen Mannen; sie kehrten, mit Beute reich beladen, heim von der gallischen Küste, wo das Volk, wie im Britenlande, mit Entsetzen sang: „Befrei’ uns vor den wilden Normannen!“
Leben und rausende Luft zog in dem Wilkingshause an dem Wildmoor ein. Das große Metfaß wurde in die Halle getragen, der Holzhaufen angezündet, Pferde wurden geschlachtet; es sollte nun richtig aufgetischt werden. Der Opferpriester besprengte zur Weihe die Sklaven mit dem warmen Blute, das Feuer knisterte, der Rauch zog unter der Decke hin, der Ruß fiel von den Balken herab, allein das war man schon gewohnt.
Gäste waren eingeladen, und sie bekamen gute Geschenke; Ränke und Falschheit waren vergessen. Getrunken wurde tüchtig, und die Zecher warfen sich gegenseitig die Knochen ins Gesicht, das war ein Zeichen guter Laune. Der Barde – so eine Art Spielmann, der aber auch Krieger war und den Wilkingerzug mitgemacht hatte, und nur Selbsterlebtes vortrug, gab ein Lied zum besten, indem die Wilkinger von ihren Kriegstaten singen hörten von dem, was an jedem Besonders zu loben war; jede Strophe endete mit dem Refrain:
Gut und Gold vergehen, Freude und Freunde sterben, auch du stirbst einmal, doch ein ruhmreicher Name wird nimmer sterben!“ Dabei schlugen sie auf die Schilde und hämmerten mit Messern und Knochen auf die Tischplatte, daß es eine Art hatte. Die Wilkingsfrau saß auf der Querbank in der offenen Halle; sie trug ein seidenes Gewand, goldene Armspangen und große Bernsteinperlen. Sie war im schönsten Staat, und der Sänger nannte auch sie in einem Liede und sprach von dem goldenen Schatze, den sie ihrem reichen Gemahl bringe. Dieser hatte seine herzliche Freude an dem wunderschönen Kinde, er hatte es nur am Tage in seiner Schönheit gesehen, und das wilde Wesen des Kindes gefiel ihm. Aus dem Mädchen, sagte er, könne eine kräftige Schildfrau werden, die ihren Mann stehen würde. Sie würde nicht mit den Augen blinzeln, wenn zum Scherz eine geübte Hand mit scharfem Schwert ihr die Augenbrauen abschlüge. Das volle Metfaß wurde geleert und ein frisches aufgelegt. Ja, das waren Leute die das Leben aus dem vollen genossen! Zwar kannte man schon damals das alte Wort: „Das Vieh weiß, wann es die Weide verlassen muß, aber ein unkluger Mann weiß das Maß seines Magens nicht“ – ja, das wußte man wohl, aber man weiß eben eine und tut das andere. Man wußte auch, daß selbst der Gerngesehene Langweile erregt, wenn er zu lange im Haues sitzen bleibt; Speck und Met sind gute Dinge, es ging lustig her, und nachts schliefen die Leibeigenen in der warmen Asche, tauchten die Finger in den fetten Ruß und leckten sie ab. Es war eine schöne Zeit!
Nocheinmal im Jahre zog der Wiking aus, wenn auch schon die herbstlichen Stürme zu erheben begannen; er ging mit seinen Mannen nach der Küste des Britenlandes, das sei ja nur eine Spazierfahrt über das Wasser, sagte er, und seine Hausfrau blieb zurück mit dem kleinen Mädchen. So viel ist gewiß, daß die Pflegemutter bald den armen Frosch mit den frommen Augen und tiefen Seufzern fast mehr liebte als die Schönheit, die um sich schlug und biß. Der rauhe, feuchte Herbstnebel, der an den Blättern des Waldes zehrt, lag schon auf Wald und Heide. „Vogel Federlos“, wie man dort zu Lande den Schnee nennt, flog in dichten Schwärmen herbei, der Winter war im Anzuge, die Sperlinge bemächtigten des Restes der Störche und beredeten in ihrer Weise die abwesende Herrschaft: diese aber, das Storchenpaar mit allen seinen Jungen, ja, wo waren sie geblieben?

Die Störche befanden sich nun im Land Ägypten, wo die Sonne so warm schien, wie bei uns an einem schönen Tage im Hochsommer. Große Scharen teilten sich in die Nester; die eng aneinander lagen auf ehrwürdigen Säulen und eingestürzten Tempelbogen vergessener Stätten. Das Gewässer des Nils war zurückgetreten, das ganze Flussbett wimmelte von Fröschen, und dieser Anblick war so recht nach dem Geschmacke der Storchfamilien. „So ist es hier, und so leben wir stets in unserem warmen Lande!“ sagte die Storchmama, und es krabbelte dabei den Jungen im Magen. „Ist noch mehr zu sehen?“ fragten sie, „geht es noch weiter ins Land hinein?“ – „Dort ist weiter nichts zu sehen!“ erwiderte die Storchenmama. Sie blieben also dort. Die Eltern saßen im Neste auf dem schlanken Minaret. In den heißen Ländern sind nun einmal alle heftig und hitzig, aber vergnüglich war es doch. Alle Tage war Sonnenschein, alle Tage vollauf zu fressen, man hatte nur Freude und Vergnügen.
In dem reichen Schlosse aber, bei dem ägyptischen Hauswirt, wie sie ihn nannten, war die Freude nicht zu Hause. Der reiche, mächtige Herr lag auf seinem Ruhebett inmitten des Saals mit den buntbemalten Wänden, er war steif und gelähmt an allen Glidern und lag wie eine Mumie da. Die rettende Moorblume aus dem Norden, die von derjenigen gesucht und gepflückt werden mußte, die ihn am innigsten liebte, wurde nicht gebracht. Seine junge, schöne Tochter, die in der Schwanenhaut über Meer und Länder dahingeflogen war, hoch nach dem Norden hinauf, sollte nie wiederkehren.
„Sie ist tot“, hatten die beiden heimgekehrten Schwanenjungfrauen gemeldet. „Morgen werde ich mich doch an den Rand der offenen Kuppel setzen, wenn die Gelehrten und Weisen sich versammeln, um von dem Zustand des Kranken zu reden, vielleicht, daß sie der Wahrheit ein wenig mehr Ehre geben.“ Die Gelehrten kamen zusammen und sprachen des langen und breiten über mancherlei Dinge: aus denen der Storchpapa nicht recht klug wurde; es kam denn auch nichts dabei heraus, weder für den Kranken noch für die Tochter in der schlammigen Moorheide. „Liebe zeugt Leben!
Die höchste Liebe zeugt das höchste Leben! Nur durch Liebe kann ihm des Lebens Rettung werden!“ – „Das ist ein schöner Gedanke!“ hatte der Storchenpapa sofort gesagt. „Ich verstehe ihn nicht recht“, hatte die Storchenmama erwidert. Doch eines verstand der Storchenpapa: alle, hoch und niedrig, hatten aus ihrem innersten Herzen heraus gesprochen und gesagt, es sei ein großes Unglück für Tausende von Menschen, ja für das ganze Land, daß der Mann erkrankt daniederliege; Freude und Segen würde es verbreiten, wenn er wieder aufkäme. Endlich einigte man sich dahin, daß die Hilfe durch die Prinzessin kommen müsse, durch sie, die mit ihrer ganzen Seele an ihrem Vater hing, und man ersann zuletzt sogar ein Mittel, wie in diesem Zustand abzuhelfen sei. Alles das hatten sie ausprobiert. Ja, nun war es schon über Jahr und Tag her, daß sie aus dem tiefen See in der Moorheide, hoch oben im dänischen Lande; die Lotusblume heimbringen müsse, dann würde der Vater Genesung erfahren.

In dem Wilkinghause am Wildmoor, wohin die Störche gegen den Frühling ihren Flug richteten, hatte man dem kleinen Mädchen den Namen Helga gegeben; doch dieser Name war gar zu weich für ein Gemüt wie das, welches sich hier in der schönsten Gestalt verbarg. Mit jedem Monate zeigte sich das Gemüt in immer schärferen Umrissen, und mit den Jahren, während die Störche immer dieselbe Reise machten – im Herbst nach dem Nil, im Frühjahr nach dem Moorsee – wuchs das Kind zu einem großen Mädchen heran, und ehe man sich’s versah, war es eine wunderschöne Jungfrau im sechzehnten Jahre. Schön war die Schale, aber hart und rauh der Kern, wild war sie. wie die meisten in jener harten, finstern Zeit.Wilking; er wußte auch nicht, daß und wie Gemüt und Gestalt bei Helga wechselten. Ohne Sattel saß sie wie auf dem Pferd gegossen, das in vollem Laufe dahinjagte; sie sprang nicht vom Pferde; in den Kleidern warf sie sich oft von dem hohen Uferrande in den reißenden Strom hinab und schwamm dem Wilking entgegegen, wenn sein Boot auf die Hütte zusteuerte. Von ihrem schönen Haar schnitt sie sich die längste Locke ab und flocht sich davon eine Sehne für ihren Bogen. Die Wilkingsfrau war nach der Zeiten Maß und Sitte von starkem Willen und Gemüt, allein gegen die Tochter war sie ein weiches, ängstliches Weib; und sie wußte, daß es ein böser Zauber war, der auf dem beklagenswerte Kinde lastete. Doch ein Band gab es, das Helga im Zaume hielt – es war die Abenddämmerung; in dieser ward sie still und gleichsam sinnend, ließ sich raten und führen; dann zog sie ein inneres Gefühl zu der Mutter hin. Dann nahm die Wilkingsfrau sie auf den Schoß, vergaß die häßliche Gestalt, blickte nur in die traurigen Augen und sprach oft: „Fast möchte ich, daß du immer nur mein stummes Froschkind wärest; du bist noch entsetzlicher, wenn deine Gestalt in Schönheit erstrahlt!“
Und die Wilkingsfrau schrieb Runen gegen Zauber und Siechtum und warf diese auf die Unglückliche – doch eine Besserung zeigte sich nicht.

„Man glaubt es kaum, daß sie so klein gewesen, daß sie in dem Kelche einer Wasserlilie gelegen hat“, sprach der Storchpapa; „jetzt ist sie ein ganzer Mensch und ihrer ägyptischen Mutter wie aus den Augen geschnitten; ja, die sehen wir wohl nie wieder!“
„Und unser gutes Nest ist auch verloren!“ fiel die Storchmama ein; „an das denkst du weniger, als an deinen Gefiederkram und deine Moorprinzessin. Geh doch lieber in den Schlamm hinunter und bleib ganz dort bei ihr; du bist deinen eigenen Kindern kein guter Vater, das habe ich schon oft gesagt, als ich zum erstenmal Eier ausbrütete. Wenn wir oder unsere Jungen nur nicht vom dem wilden Mädchen einen Pfeil in die Flügel kriegen! Helga weiß ja nicht, was sie tut. Wir sind doch länger hier zu Hause als sie, mag sie das bedenken; wir vergaßen nie unsere Schuldigkeit, wir gaben alljährlich unsere Abgaben, eine Feder, ein Ei und ein Junges, wie es recht ist.
Du hättest sie ruhig in der Wasserlilie liegen lassen sollen, dann wäre sie längst nicht mehr.“ – „Du bist besser als deine Rede!“ sagte der Storchpapa – „Ich kenne dich genauer, als du selbst dich kennst!“
Frühzeitig kehrte der Wilking in diesem Herbste heim, beladen mit Beute und Gefangene mit sich führend. Unter diesen befand sich ein Priester, einer von jenem die die Götter der nordischen Lande verspotteten. Gar oft war in letzter Zeit in Halle und Kammer von dem neuen Glauben die Rede gewesen, der sich weit und breit im Süden ausbreitete, ja durch den Mönch Ansgarins selbst bis nach Hedeby* (der ursprüngliche dänische Name der jetzigen Stadt Schleswig) an der Schlei gelangt war.- Die Männer hatten nach der Heimkehr von ihren Seezügen von prächtigen Tempeln aus behauenen, schönem Gestein erzählt, die demjenigen errichtet waren, dessen Gebot die Liebe war. In den tiefen, ausgemauerten Keller des Blockhauses hatte man den Priester hinuntergebracht, und ihm Hände und Füße zusammengeschnürt. Der häßliche kleine Frosch, mit dem verzauberten Körper stand vor der Wilkingsfrau, und richtete die braunen, traurigen Augen auf sie. „Niemals, selbst nicht zu meinem Herrn und Gemahl ist von dem, was ich durch dich zu leiden habe, ein Wort über meine Lippen gekommen!“ sprach die Wilkingsfrau; mein Herz ist voller Kummer um dich, mahr als ich es je gedacht! Groß ist die Liebe einer Mutter; allein noch nie zog die Liebe in dein Gemüt ein, dein Herz ist gleich den nassen, kalten Schlammpflanzen.“ Da zitterte die elende Gestalt, es war, als berührten diese Worte ein unsichtbares Band zwischen Körper und Seele, und große Tränen traten ihr in die Augen. Der zusammengeschrumpfte Frosch saß allein im Winkel; es herrschte lautlose Stille; es war, als wenn aus tiefem Schmerz ein neues Leben gezeugt wäre. Sie tat einen Schritt vorwärts, lauschte, tat noch einen Schritt und ergriff nun mit den unbeholfenen Händen die schwere Stange, die vor die Tür geschoben war. Ganz leise schob sie die Stange zurück, ebenso leise zog sie den Pflock fort, der über die Klinke gelegt war, und ergriff die flackernde Lampe, sie schlich sich zu dem Gefangenen hinunter. Dieser schlummerte; sie berührte ihn mit ihrer kalten, feuchten Hand, und als er dabei erwachte und die häßliche Gestalt erblickte;
schauderte ihn, sie zog ihr Messer, durchschnitt die Stricke und winkte ihm, ihr zu folgen. „Wer bist du? Woher hast du dieses Äußere eines Tieres – und bist doch erfüllt von wohltuender Barmherzigkeit?“ Die Froschgestalt winkte ihm und führte ihn hinter bergenden Vorhängen durch einen einsamen Gang nach dem Stalle, wo sie auf ein Pferd deutete.
Er schwang sich auf dieses, aber auch sie sprang hinauf, setzte sich vor ihn und hielt sich an der Mähne des Tieres fest. Der Gefangene verstand sie, und in schnellem Trabe ritten sie auf einem Wege, den er nie gefunden haben würde, hinaus in die offene Heide. Das Pferd jagte noch wilder dahin, der Himmel färbte sich rot, der erste Sonnenstrahl drang durch die Wolken, und bei dem Erglänzen des klaren Lichtquells trat auch der Wechsel der Gestalt ein: Helga war wieder die junge Schöne mit dem dämonischen, bösen Sinn. Er sprang vom Pferde herab, und zwang es zu stehen; allein Helga war gleichfalls mit einem Satze vom Pferde gesprungen und stand auf dem Boden; sie riß das scharfe Messer aus dem Gürtel und stürzte sich blitzschnell auf den Überraschten. „Laß mich dich nur erreichen“, rief sie – und mein Messer soll dir in den Leib fahren!“ Sie rangen miteinander in schwerem Kampfe, er hielt sie fest, und die alte Eiche, an der sie standen, kam ihm zu Hilfe, indem sie durch ihre vom Boden halb abgelöste Wurzeln gleichsam die Füße des Mädchens fesselten, die sich in das Wurzelwerk verstrickt hatten. Dann sprach er in milden Worten zu ihr von der Tat der Liebe, die sie in der Nacht gegen ihn geübt, als sie in der Gestalt des häßlichen Frosches zu ihm gekommen; auch sei sie gebunden, sprach er, in engere Bande geschlagen, als er es gewesen, allein auch sie solle, durch ihn, zu Licht und Leben geführt werden. Nach Hedeby*
zu dem heiligen Ansgarius wolle er sie bringen, dort müsse der Zauber gehoben werden. Sie ließ sich geduldig auf das Pferd heben, und saß wie eine Nachtwandlerin da. Der Priester band mit Bast zwei Äste zusammen, daß sie ein Kreuz bildeten, und er hielt das Kreuz hoch empor. Sie ritten aus dem Waldesdickicht heraus, über die Heide dahin, und kamen durch unwegsame Wälder; da stießen sie gegen Abend auf eine Räuberbande.
„Wo hast du das reizende Mädchen gestohlen?“ riefen die Räuber, fielen dem Pferde in die Zügel und rissen die beiden Reiter herunter. Der Priester hatte keine andere Wehr als das Messer, das er Helga entwunden, der Räuber schwang die Axt
gegen ihn; und das scharfe Beil traf in den Hals des Pferdes; da stürzte Helga, der Priester stellte sich zum Schutz vor sie hin, einer der Räuber schwang seinen eisernen Hammer, und der Priester fiel tot zu Boden.

Der Räuber fassten Schön – Helga an ihren weißen Armen und um ihren schlanken Leib – da ging die Sonne unter, der letzte Strahl erlosch, und in demselben Augenblick wurde sie in einen Frosch verwandelt; der weißgrüne Mund erweiterte sich über das halbe Gesicht, die Arme wurden dünn und schleimig, eine breite Hand mit der Schwimmhaut dehnte sich fächerförmig aus – da ließen die Räuber entsetzt von ihr ab, und sie stand, ein hässliches Untier, mitten unter ihnen. Und wie die Art des Frosches ist, hüpfte sie empor, höher als ihre eigene Gestalt, und verschwand im Dickicht. Die Räuber verließen voll Entsetzen den Ort. Der Vollmond war schon aufgegangen, bald glänzte und leuchtete es über der Erde, und aus dem Dickicht kroch, in der kläglichen Gestalt eines Frosches, die arme Helga; sie blieb vor der Leiche des Priesters stehen, ließ ein Quaken ertönen, wie wenn ein Kind in Tränen ausbricht. Sie grub eine Höhlung in die Erde, so tief sie nur konnte; sie wollte ihnen ein Grab bereiten. Sie hatte hierzu nur einen Baumzweig und ihre beiden Hände, zwischen ihren fingern war die Schwimmhaut ausgespannt, diese zerriß aber; bei dieser harten Arbeit war die Nacht verstrichen, die Sonne brach hervor – und Schön – Helga stand in ihrem Liebreiz da, mit Tränen auf den jungfräulichen Wangen.
Dort lag noch auf dem aufgeworfenen Grabhügel das Kreuz von Baumzweigen zusammengebunden, die letzte Arbeit desjenigen, der nun unter dem Hügel ruhte. In der Wehmut der Erinnerung brachen Tränen aus ihren Augen, und in dieser weichen Stimmung grub sie dasselbe Zeichen rings um das Grab in den Sand, bildete es doch eine Art Umzäunung; und indem sie mit beiden Händen das Zeichen des Kreuzes schrieb, fiel die Schwimmhaut von ihr ab wie ein zerrissener Handschuh, es floß nun aus ihrem Munde, sie sprach aus: „Jesus Christus!“ Da fiel die Froschhaut, sie war wieder die junge Schönheit; doch das Haupt neigte sich ermüdet, die Glieder bedurften der Ruhe – sie schlummerte ein. Aber ihr Schaf war kurz; gegen Mitternacht wachte sie auf; vor ihr stand das tote Pferd, strahlend voll Leben, das ihm aus den Augen leuchtete, dicht neben dem Rosse erschien der ermordete Priester. „Du Tochter des Schlammes!“ sprach der Priester , – „aus Schlamm , aus Erde stammst du – und aus der Erde sollst du wieder auferstehen.“ Die offene Stirn des Getöteten leuchtete wie ein Diadem; das Kind nahm er vom Grabe, hielt es hoch empor, und nun jagten sie dahin durch die Luft; über den rauschenden Wald, über die Hügel, wo die Recken auf ihren getöteten Streitrossen gebettet waren.
Über Wald und Heide, über Fluß und Sumpf flogen sie dahin, hinauf nach dem Wildmoor; der Priester hob das Kreuz empor, es strahlte wie Gold, und von seinen Lippen tönten fromme Gebete. Schön – Helga stimmte in die Lieder mit ein, wie das Kind beim Gesange mitlallt; Helga wähnte sich sebst in dem Spiegelbilde der stillen Gewässer zu erblicken – doch es ihre Mutter, die sie sah, das Weib des Schlammkönigs, die Prinzessin von den Ufern des Nils.

Da krähte der Hahn in der Wilkinsburg, die Traumgestalten lösten sich auf, flatterten im Winde davon, und Mutter und Tochter standen einander gegenüber. „bin ich es selbst, die da aus dem Wasser heraufblickt!“ sprach die Mutter. „Bin ich es selbst, die da aus dem blanken Schilde hervorstrahlt?“ rief die Tochter, und sie näherten sich einander Brust an Brust, und umschlangen sich; am stärksten klopfte das Herz der Mutter, und sie verstand der Herzen schnellere Schläge. „Mein Kind! Du Blume meines Herzens! Mein Lotus aus tiefem Grund!“
„Im Schwanengefieder kam ich hierher und warf auch hier das Gefieder ab“, sprach die Mutter; ich versank durch das schwankende Moor tief auf den Grund hinab, der mich wie eine Mauer umschloß. Doch bald vernahm ich eine frische Strömung; eine Kraft zog mich tiefer, immer tiefer, ich fühlte den Druck des Schlafes auf meinen Augenlidern, ich schlief ein, Träume umfingen mich – mir war, als läge ich wieder in der Pyramide Ägyptens, doch vor mir stand noch immer der schwankende Erlenstamm, der mir auf der Moorfläche oben einen Schrecken eingejagt. Ich beschaute die Risse und Furchen des Stammes: sie leuchteten in Farben und nahmen Gestalt von Hierolyphen an, es war die Hülle der Mumie, die ich anschaute; diese zerriß endlich, und heraus trat der tausendjährige König, die Mumiengestalt, schwarz wie Pech, glänzend schwarz wie die Waldschnecke oder der fette, schwarze Moorschlamm, der Schlammkönig oder die Mumie der Pyramide- ich wußte es nicht. Er schlang seine Arme um mich, und es war, als müßte ich sterben. Erst dann vernahm ich wieder das Leben; als mein Busen sich erwärmte und darauf ein kleiner Vogel mit den Flügeln schlug, und zwitscherte und sang. Der Vogel flog zu der finsteren, schweren Decke empor, doch ein langes grünes Band verband ihn immer noch mir; ich hörte und verstand wohl die Töne seines Sehnens: Freiheit! Sonne! Zum Vater! Da dachte ich an meinen Vater und an das sonnige Licht der Heimat, an mein Leben und an meine Liebe, und ich löste das Band und ließ den Vogel davonflattern – nach der Heimat, zum Vater.
Seit jener Stunde habe ich nicht geträumt, ich schlief einen Schlaf, einen langen und schweren Schlaf, bis in dieser Stunde Töne und Duft mich erhoben, mich erlösen!“
Das grüne Band vom Herzen der Mutter nach den Flügeln des Vogels, wo flattert es jetzt, wo war es hingeweht? Nur der Storch hatte es gesehen. Das Band war der grüne Stengel, die Schleife die strahlende Blume, die Wiege des Kindes, die jetzt in Schönheit entfaltet war und wieder am Herzen der Mutter lag. Und während die beiden Brust an Brust lagen, flog der Storchpapa in immer engeren Kreisen um sie herum, schoß endlich in schneller Fahrt nach dem Neste davon, holte von dort die jahrelang aufbewahrten Schwanenhäute und warf jeder eine zu; und das Gefieder umschloß sie, und sie hoben sich empor von der Erde, zwei weiße Schwäne.

„Jetzt wollen wir miteinander reden!“ sagte der Storchenpapa, – jetzt verstehen wir uns, wenn auch der Schnabel des einen Vogels anders gewachsen ist als der des anderen! Es trifft sich zu schön, daß ihr diese Nacht kommt, morgen wäre wir schon auf und davon gewesen, Mutter, ich und die Jungen – wir fliegen nach dem Süden! Ja schau mich nur an! Ich bin ein alter Freund aus dem Nillande, und die Mutter auch, sie hat es mehr im Herzen als im Schnabel. Sie meinte immer, die Prinzessin würde sich schon so helfen wissen; ich und Jungen haben die Schwanenhäute hier herauf getragen; -aber wie ich mich freue. Und welch ein Glück, daß ich noch hier bin! Wenn der Tag graut, ziehen wir von dannen, eine große Storchengesellschaft! Wir fliegen voran, fliegt ihr nur hinterdrein, so verfehlt ihr den Weg nicht, ich und die Jungen werden schon ein Auge auf Euch haben. – „Und die Lotusblume, die ich bringen sollte“, sagte die ägyptische Prinzessin, „die fliegt im Schwanengefieder mir zur Seite! Die Blume meines Herzens führe ich mit mir, so hat sich das Rätsel gelöst.
Nach der Heimat! Nach der Heimat!“
Aber Helga sagte, sie könne das dänische Land nicht verlassen, ohne noch einmal ihre Pflegemutter, die liebevolle Wilkingsfrau, gesehen zu haben. Ihr trat jede schöne Erinnerung, jedes liebe Wort, jede Träne vor die Seele, die die Pflegemutter geweint hatte, und in diesem Augenblick war es fast, als liebe sie die Mutter am meisten. „Ja, wir müssen nach der Wilkingsburg“, sagte der Storchpapa, „dort harren unser die Mutter und die Jungen! Wie die die Augen verdrehen und mit dem Schnabel klappern werden! Ich werde gleich eins klappern, damit sie hören, daß wir kommen. Der Storchpapa klapperte, daß es eine Art hatte, und er und die Schwäne flogen nach Wilkingsburg.
In der Burg lagen noch alle friedlich im Schlafe; erst spät am Abend war die Wilkingsfrau zur Ruhe gegangen; sie ängstigte sich um Helga, die nun seit drei vollen Tagen mit dem Christenpriester verschwunden gewesen war. Helga mußte ihm wohl auf der Flucht behilflich gewesen sein, war es doch ihr Pferd, das in dem Stalle vermisst wurde. Durch welche Macht aber war dies alles bewerkstelligt? Die Wilkinsfrau dachte an die Wunder, die man dem weißen Christ nachsagte, die durch ihn und den denjenigen geschahen, die an ihn glaubten und ihm folgten. Die wechselnden Gedanken gestalteten sich bestimmter im Traumleben: es war ihr, als säße sie noch wach auf ihrem Lager, und draußen herrschte Finsternis; der Sturm nähere sich, sie höre das Meer brausen und rollen im Osten und Westen, wie der Nordsee und des Kattegats Fluten; die ungeheure Schlange, welche die Erde in der Meerestiefe umspannte, zitterte in krampfhaften Zuckungen; es sei die Nacht des Unterganges der Götter, Ragnarok, wie die Heiden den jüngsten Tag nannten, da alles vergehen solle, selbst die hohen Götter. Das Kriegshorn ertönte, und über den Regenbogen dahin ritten die Götter, in Stahl gekleidet, um den letzten Kampf zu kämpfen; ihnen voran flogen die beflügelten Walküren, und die Reihe schlossen die Gestalten der toten Kämpen, die ganze Luft umstrahlte sie mit Nordlichtflammen, aber die Finsternis blieb siegreich. Es war eine schreckliche Stunde!
Dicht neben der geängstigten Wilkingsfrau saß auf dem Fußboden Helga, in der häßlichen Gestalt des Frosches, sie zitterte und schmiegte sich an die Pflegemutter, die sie auf den Schoß nahm und in Liebe an sich drückte, wie hässlich auch ihre Froschgestalt war. Die Stunde war da, wo Himmel und Erde zerplatzen, wo die Sterne fallen und alles zu Grunde gehen würde in Suturs Feuermeere; allein sie wußte, daß es eine neue Erde und ein neuer Himmel kommen, daß dort wallen und wogen würden, wo jetzt das Meer dahinrollt über den öden Seegrund, daß der untrennbare Gott herrschen würde – und zu ihm, dem Gott hinauf stieg Baldur, der milde, liebevolle, aus dem Reiche der Toten Erlöste, er kam – die Wilkingfrau sah ihn und erkannte sein Antlitz; es war der gefangenene Christenpriester. „Weißer Christ!“ rief sie laut, und bei dem Ausrufe drückte sie einen Kuß auf die Stirn des häßlichen Froschkindes; da fiel die Froschhülle, und Helga stand vor ihr in ihrer ganzen Schönheit, lieblich und mild wie noch nie und mit strahlendem Auge; sie küßte die Pflegemutter die Hände, segnete sie für alle Pflege und Liebe während der Tage der Prüfung und Drangsal, für die Gedanken, die sie ihr eingeflüstert und in ihr geweckt, für die Nennung des Namens, den sie wiederholte: Weißer Christ! – Und Schön – Helga erhob sich, ein mächtiger Schwan, die Flügel breiteten sich weit mit Brausen, wie wenn die Scharen der Zugvögel davonziehen.
Die Wilkingfrau erwachte dabei, und draußen tönte noch derselbe starke Flügelschlag durch die Luft – sie wußte, es sei an der Zeit, daß die Störche ziehen, es mussten diese sein, deren Flug sie hörte. Noch einmal wollte sie diese sehen und ihnen bei der Abreise Lebewohl sagen. Sie erhob sich vom Lager, trat auf den Söller, und nun erblickte sie auf dem Dachrücken des Seitenflügels überall Storch an Storch, und ringsum die Burg, über die hohen Bäume dahin, flogen die Scharen in große Kreisen; aber ihr und dem Söller gegenüber, am Brunnen, wo Helga so oft gesessen und sie durch ihre Wildheit geängstigt hatte, saßen zwei Schwäne und schauten sie mit klugen Augen an. sie erinnerte sich an ihren Traum, dieser erfüllte sie noch, als sei es Helga, in Schwanengestalt, dachte an den Christenpriester und fühlte sich plötzlich recht frohen Herzens.
Die Schwäne schlugen mit den Flügeln, bogen die Hälse, als wollten auch sie einen Gruß entsenden, und die Wilkingsfrau breitete ihre Arme gegen sie aus, als empfände sie dieses alles, lächelte durch Tränen und war in tiefen Gedanken versunken. Da erhoben sich mit Flügelgebrause und Schnabelgeklapper alle Störche für die Reise nach dem Süden. „Wie warten nicht auf die Schwäne“, sagte die Storchmama; „wollen sie mit, so mögen sie kommen! Wir können nicht hier sitzen, bis die Brachvögel reisen! Es ist doch was Schönes, so familienweise zu reisen, nicht wie die Finken und Rebhühner, wo die Hähne für sich und die Hühner für sich fliegen, das ist, aufrichtig gesprochen, nicht anständig! Und was haben die Schwäne erst für einen Flügelschlag!“ – „Nun, jeder fliegt in seiner Weise!“ sagte der Storchpapa; „die Schwäne fliegen schräg, die Kraniche im Dreieck und die Brachvögel in Schlangenlinie.“ „Rede nicht von Schlangen, wenn wir hier oben fliegen!“ sagte die Storchmama.
„Sind das die hohen Berge, von denen ich reden hörte?“ fragte Helga, als sie in der Schwanenhaut davonflog. „Das sind Gewitterwolken, die hinter uns treiben“, antwortete die Mutter. „das sind die ewig schneebedeckten Berge, die du dort siehst!“ sagte die Mutter und sie flogen über die Alpen dem Mittelmeer zu.
„Afrikas Land! Ägyptens Strand!“ jubelte in Schwanengestalt die Tochter des Nils, als sie, hoch von der Luft aus, ihre Heimat als einen weißgelben, wellenförmigen Streifen erblickte. Und auch die Vögel alle erblickten den Streifen. „Ich wittere Nilschlamm und feuchte Frösche!“ sagte die Storchmama; es kribbelt mir im Magen – ja, jetzt werdet ihr alle mal naschen, Kinder! Und ihr werdet Maribus, Ibisse und Kraniche schauen; sie gehören alle zur Familie; allein sind sie bei weitem nicht so schön wie wir; sie tun sehr vornehm, namentlich der Ibis; doch er ist nur von den Ägyptern verwöhnt, sie machen ihn zur Mumie und stopfen ihn mit den Kräutern; ich will lieber mit lebendigen Fröschen gestopft sein; das wollt auch ihr, und das soll euch auch werden!
„Nun sind die Störche gekommen“, sagte man in dem reichen Haus am Ufer des Nils, wo der königliche Herr in der offenen Halle auf weichem Polster lag, unter einem Leopardenfelle, nicht lebendig und nicht tot, hoffend und harrend der Lotusblume aus dem tiefen Moorgrunde im hohen Norden. In die Halle hinein flogen zwei prächtige Schwäne; sie waren mit den Störchen gekommen; sie warfen das blendend weiße Gefieder ab, und zwei anmutige Frauengestalten standen da; einander ähnlich wie zwei Tautropfen.
Sie beugten sich über den blassen, alten, siechen Mann, warfen ihr langes Haar zurück, und als sich Schön – Helga über den Großvater beugte, röteten sich seine Wangen, seine Augen flammten auf, und seine starren Glieder bekamen Leben. Der Alte erhob sich gesund und verjüngt; Tochter und Enkelin umfingen ihn wie zum Morgengruße der Freude nach einem langen, schweren Träume.

Freude herrschte im ganzen Hause und auch im Storchneste; in diesem freilich zuerst über das gute Futter, die vielen Frösche, die gleichsam scharenweise aus der Erde wuchsen; und während die Gelehrten eiligst in flüchtigen Zügen die Geschichte von den beiden Prinzessinnen und der Gesundheitsblume als ein wichtiges Ereignis und einen Segen für das Haus und Land aufzeichneten, erzählte das Storchpaar sie seiner Familie auf seine Weise, doch erst, nachdem alle gesättigt waren. „Jetzt wirst du endlich etwas werden!“ flüsterte die Storchmama, „es kann dir nun nicht fehlen.“ – „Was sollte ich denn wohl werden?“ sagte der Storchpapa, „was habe ich denn getan? Gar nichts!“
„Du hast mehr als die anderen getan! Ohne dich und die Jungen hätten die beiden Prinzessinnen Ägypten nie wieder gesehen und die Genesung des Alten berwerkstelligt. Du wirst etwas! Man wird dir gewiß den Doktorhut verleihen, und unsere Jungen werden später mit demselben geboren werden, und ihre Jungen wieder und so weiter. Du siehst auch schon aus wie ein ägyptischer Doktor – in meinen Augen!“
Die Gelehrten und Weisen entwickelten den Grundgedanke, wie sie ihn nannten, der sich durch das ganze Ereignis zog: „Liebe gebiert Leben!“ Diesen Satz legten sie in verschiedener Weise aus. Der heiße Sonnenstrahl sei die Prinzessin Ägyptens, diese steige hinab zu dem Schlammkönige, und aus dieser Vereinigung entspringe die Blume – „Ich vermag die Worte nicht so ganz genau wiederholen“, sagte der Storchpapa, der vom Dache herab gelauscht hatte, und nun das, was er gehört, den seinen wieder erzählen sollte. „Was sie sagten, war so verwickelt, es war so tiefsinnig und ausgeklügelt, daß ihnen sofort Rang und Geschenke verliehen wurden, selbst der Mundkoch erhielt ein hohes Zeichen der Anerkennung – wahrscheinlich für die Suppe!“
„Und was bekamst du?“ fragte die Storchmama. „Sie sollten doch nicht den wichtigsten Mann vergessen, und der bist du jedenfalls! Die Gelehrten haben bei der ganzen Geschichte weiter nichts getan, als ihr Mundwerk gebraucht; doch deine Belohnung wird dir wohl werden.

In später Nacht, als des Schlafes milder Friede auf dem beglückten Hause ruhte, wachte doch noch jemand, nicht der Storchpapa, der auf einem Beine stand und auf Pfosten schlief, sondern die Helga war es. Sie beugte sich hinaus über den Altan und schaute in die klare Luft, schaute die großen, leuchtenden Stern an, größer und reiner an Glanz, als sie sie im Norden gesehen hatte, und doch dieselben. Sie dachte an die Wilkingsfrau in dem wilden Moor, an die müden Augen der Pflegemutter und der Tränen, die sie über das arme Froschkind geweint hatte, das jetzt in Glanz und Sternenpracht, an den Gewässern des Nils in herrlicher Frühlingsluft lebte. Sie gedachte der Liebe, die im Busen des heidnischen Weibes wohnte, der Liebe, die einem abscheulichen Tiere in Menschengestalt, von ihr erzeigt worden. Schön – Helga vertiefte sich bei Tag und Nacht in die große Summe ihres Glücks, sie stand in Betrachtungen versunken, gleich dem Kinde, das sich eiligst vom Geber ab dem Gegebenen, all die herrlichen Gaben zuwendet; sie ging gleichsam auf in der sich immer steigernden Glückseligkeit, die kommen könnte, kommen würde. War sie doch durch Wunder zu immer höher Freude und höherem Glücke getragen, und in diesen Gedanken verlor sie sich eines Tages dergestalt, daß sie nicht mehr an den Geber dachte. Es war die Überschwenglichkeit des Jugendmuts, die ihre —–flügel in keckem Sc hwunge entfaltete. Ihre Augen leuchteten dabei, doch plötzlich riß sie ein lauter Lärm unten im Hofe aus dem kühnen Gedankenschwunge.
Dort erblickte sie zwei große Strauße, die in engen Kreisen sehr schnell umherliefen; sie hatte dieses Tier früher nie gesehen – welch ein großer Vogel, so plump und schwerfällig! Die Flügel sahen aus, als seien sie gestutzt, der Vogel selbst, als wenn ihm Gewalt angetan wäre; und sie fragte, was mit dem Tiere geschehen sei, und vernahm nun zum ersten Male die Sage, welche die Ägypter vom Vogel Strauß erzählten.

Einst sei das Geschlecht der Strauße schön und herrlich gewesen, die Flügel groß und stark; da sagten eines Abends die großen Vögel des Waldes zum Strauß;
„Bruder, wollen wir morgen, so Gott will, nach dem Flusse fliegen und trinken?“ Und der Strauß antwortete:
„Ich will es!“ Mit Tagesanbruch flogen sie davon, erst richteten sie ihren Flug in die Höhe, hoch hinauf nach der Sonne, nachdem Auge Gottes, immer höher und höher, der Strauß allen andern Vögeln weit voran; der Strauß flog sie stolz gegen das Licht empor, er trotzte auf seine Kraft und gedachte nicht des Gebers, er sagte nicht: „So Gott will!“ – Da zog der strafende Engel den Schleier von dem Flammenmeere der Sonne hinweg, im Nu versenkten sich die Flügel des Vogels, und dieser sank elend zur Erde. Der Strauß und sein Geschlecht vermag nimmermehr sich wieder zu erheben; er flieht schreckerregt und stürmt in Kreisen umher in dem engen Raume. Eine Warnung für die Menschen, daß wir bei unserem Denken und Trachten, bei jeder einzelnen Handlung denken und sagen sollen: „So Gott will!“
Und Helga beugte gedankenvoll sinnend den Kopf, sah aus den kreisenden Strauß, seine Angst und seine einfältige Freude beim Anblick seines eigenen, großen Schattens an der weißen, sonnebestrahlten Mauer.
Und der Ernst schlug seine tiefe Wurzel in Gemüt und Gedanken. Ein Leben, gar reich an gegenwärtigem und zukünftigem Glücke, war gegeben, war gewonnen – was würde wohl noch geschehen, noch kommen? –
Das Beste – „so Gott will!“

Im frühen Lenz, als die Störche wieder nach Norden zogen, streifte Schön – Helga ihr goldenes Armband ab, ritzte ihren Namen hinein, winkte dem Storchpapa, legte ihm den goldenen Reif um den Hals und bat ihn, ihn der Wilkingsfrau zu überbringen;diese würde daraus wohl entnehmen, daß die Pflegetochter lebe, glücklich sei und ihrer gedenke. „Das ist aber schwer zu tragen!“ dachte der Storchpapa, als er es um den Hals hatte; allein Gold und Ehre sind nicht auf die Heerstraße zu werfen!
Der Storch bringt Glück, das werden sie dort oben schon eingestehen müssen!“
„Du legst Gold, und ich lege Eier!“ sprach die Storchmama; „ allein du legst nur einmal, ich lege alle Jahre! – Doch Anerkennung wird keinem von uns!
Das muß einen kränken!“ – „Man hat das gute Bewußtsein, Mütterchen!“ sprach der Storchpapa.
„Das kannst du dir nicht um den Hals hängen!“ sagte die Storchmama – „das gibt so wenig guten Wind, als es eine Mahlzeit gibt!“ Die kleine Nachtigall, die in dem Tamarindengebüsch sang, wird auch bald gen Norden ziehen; Schön – Helga hatte sie oft dort oben an dem Wildmoore singen hören, jetzt wollte sie ihr eine Botschaft mitgeben. Sie verstand, seitdem sie in der Schwanenhaut geflogen, die Sprache der Vögel, sie hatte diese oft und wiederholt mit Storch und Schwalbe gesprochen, auch die Nachtigall würde sie verstehen.
Sie bat die Nachtigall, nach dem Buchenwalde auf der jütischen Halbinsel zu fliegen, woselbst ein Grabhügel von Gestein und Gezweig aufgeworfen sei, und alle kleinen Vögel zu bewegen, daß sie ihre Nester um die Grabstätte bauen und wieder und wieder ihre Lieder über dem Grabe ertönen lassen. Und die Nachtigall flog dahin – und die Zeit mit ihr!

Der Adler stand im Herbst auf der Pyramide und sah einen stattlichen Zug nahen von schwerbeladenen Kamelen, von reichgekleideten, bewaffneten Männern auf schnaubenden arabischen Rossen, glänzend weiß wie Silber mit roten, zitternden Nüstern, mit langen, dicken Mähnen, die fast über die Beine herabhingen.
Vornehme Gäste, ein königlicher Prinz aus Arabien, schön, wie ein Prinz sein soll, zog in das stolze Haus ein, auf dessen Dache jetzt das Storchnest leer stand; die, welche das Nest bewohnten, waren jetzt im hohen Norden, doch mußten sie bald heimkehren.
Und gerade an dem Tage kehrten sie zurück, der so reich an Freude und Lust war. Eine Hochzeit wurde gefeiert, und Schön – Helga war die Braut, strahlend in Seide und Edelsteinen; Bräutigam war der junge Prinz aus Arabien; Braut und Bräutigam saßen an der obersten Tafel zwischen der Mutter und dem Großvater.
Allein sie sah nicht nach dem Bräutigam, sondern blickte hinaus nach dem blinkenden Stern, der vom Himmel herabstrahlte. Da rauschte es wie starker Flügelschlag in der Luft – die Störche kehrten heim, und das alte Storchpaar, wie ermüdet und der Ruhe bedürftig es auch nach der Reise war, flog doch sogleich auf das Geländer der Veranda hinab. Sie wussten schon, welches Fest begangen wurde. Sie hatten auch an der Landesgrenze vernommen, daß Helga sie an der Mauer habe abbilden lassen.
„Das ist sehr hübsch und sinnig!“ sagte der Storchpapa.
„Das ist sehr wenig!“ sprach die Storchmama, „weniger konnte es doch nicht sein!“

Als Helga sie erblickte, erhob sie sich und trat auf die Veranda, um ihr den Rücken zu streicheln. Dfas alte Storchpaar wiegte die Köpfe und neigte die Hälse, und die jüngsten Jungen fühlten sich sehr geehrt durch den Empfang. Helga schaute hinauf zu dem leuchtenden Sterne, der immer klarer strahlte, und zwischen diesem und ihr bewegte sich eine Gestalt, reiner noch als die Luft, und deutlich sichtbar; sie schwebte ihr ganz nahe – es war der verstorbene Priester; auch er kam zu ihrem Hochzeitsfeste, kam aus dem Himmelreiche.
„Der Glanz und die Herrlichkeit dort überstrahlt alles was die Erde kennt“ sprach er. Und Helga bat so weich, so innig, wie sie noch nie gebeten hatte, daß sie nur einen einzigen Blick in das Himmelreich zum Allvater hineinsehen dürfe. Der Priester trug sie in Glanz und Herrlichkeit in einem wogenden Meere von Tönen und Gedanken hinauf; nicht nur um sie, auch in ihr leuchtete und klang es – Worte vermöchten es nicht auszusprechen. „Jetzt müssen wir zurückgehen, du wirst vermißt!“ sprach er. – „Nur einen Blick!“ bat sie , „nur eine einzige kurze Minute!“ – „Wir müssen zur Erde hinab, die Gäste werden bald aufbrechen!“
„Nur noch einen Blick, den allerletzten -!“
Und Helga stand wieder auf der Veranda – aber die Hochzeitsflammen draußen waren verschwunden, die Lichter im Festsaal erloschen, die Störche fort, nirgends ein Gast zu erblicken, kein Bräutigam, alles in kurzen Minuten wie zerstoben.
Da überkam sie eine Angst: sie schritt durch die leere Halle in die nächste Kammer; dort schliefen fremde Krieger; sie öffnete eine Seitentür, die in ihre eigene Kammer führte, und sie befand sich plötzlich im Garten – so sah es doch früher hier nicht aus! Der Himmel leuchtete rot, die Morgendämmerung brach an.
Drei Minuten nur im Himmel, und eine ganze Erdennacht war verstrichen!
Da erblickte sie die Störche. Sie rief sie an und redete in ihrer Sprache. Der Storchpapa wandte den Kopf nach ihr um, lauschte und näherte sich. „Du sprichst unsere Sprache!“ sagte er. Was willst du? Weshalb erscheinst du hier – fremdes Weib?“
„Ich bin es ja, ich bin Helga! Kennst du mich nicht? Vor drei Minuten sprachen wir zusammen, dort in der Veranda.“ – „Das ist ein Irrtum!“ sagte der Storch – das hast du alles geträumt!“
„Nein, nein“, sprach sie und erinnerte ihn an die Wilkingsburg und das große Moor, an die Reise hierher!“ – Da blinzelte der Storchpapa mit den Augen:
„Das ist ja eine alte Geschichte, die ich aus der Zeit meines Urgroßvaters gehört habe! Allerdings war hier in Ägypten eine solche Prinzessin aus dem dänischen Lande, aber sie verschwand am Abend ihres Hochzeitstages vor vielen hundert Jahren und kehrte nie wieder – Du kannst es selbst lesen dort auf dem Monument im Garten, Schwäne und Störche sind dort eingehauen, und oben stehst du selbst in weißem Marmor!“ So war es. Helga sah es, begriff es und sank in die Knie. Die Sonne brach strahlend hervor, und wie ehedem bei ihren Strahlen die Froschhülle verschwand und die herrliche Gestalt zum Vorschein kam, so erhob sich nun bei der Lichttaufe eine Schönheitsgestalt, klarer und reiner als die Luft, ein Lichtstrahl – zum Vater hinauf.
Der Körper zerfiel in Staub: eine welke Lotusblume lag dort, wo Helga gestanden hatte.
„Nun, das war ein neuer Schluß der Geschichte!“ sagte der Storchpapa – „den hätte ich freilich nicht erwartet!
Aber er gefällt mir gut!“
„Was wohl die Jungen dazu sagen werden?“ versetzte die Storchmama. – „Ja, das ist freilich sehr wichtig“, sagte der Storchpapa.

Quelle: Hans Christian Andersen

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content