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Märchenbasar

Seehundfell, Seelenhaut

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Zu einer Zeit, die einst war, nun für immer vorbei ist und bald schon wiederkehrt, gibt es Tag für Tag einen blendend weißen Himmel und weiße Schneelandschaften, in denen sich die Lebewesen wie winzige, flirrende Pünktchen ausnehmen und bald schon verlieren – Menschen, Hunde und Bären.

Hier bläst der Wind so hart, daß die Leute ihre Parkas und Stiefel absichtlich zur Seite drehen. Das gesprochene Wort gefriert in der Luft, und den Menschen müssen die Sätze von den Lippen gebrochen und am Feuer aufgetaut werden, damit man weiß, was sie gesagt haben. Alle Geschöpfe leben im schneeweißen Gespinst der Haare von Annuluk, der Großmutter der Erde. Damals, vor langer Zeit, lebte hier ein Mann, der sehr einsam war.

Das Gesicht des Mannes war von tiefen Furchen durchzogen, die seine Tränen im Lauf der Jahre in seine Haut gegraben hatten, denn er fühlte sich verlassen und weinte viel. Tag für Tag ging er auf die Robbenjagd, legte seine Fallen aus und schlief nachts gut und tief, aber er sehnte sich fortwährend nach einem Menschen, mit dem er sein Leben teilen konnte. Manchmal, wenn ein Seehund sich seinem Kajak näherte und zwischen Eisschollen hervorlugte, dachte der Mann an die alten Geschichten, in denen es heißt, daß Seehunde vor langer Zeit einmal Menschen waren, was man heute noch an ihren Augen erkennt, an dem weisen und liebevollen Blick in ihren glänzenden Augen. Wenn der Mann den Blick solcher Augen auf sich gerichtet sah, weinte er, und die Furchen in seinem Gesicht wurden jedesmal noch ein wenig tiefer.

Eines Abends war er noch nach Einbruch der Dunkelheit auf der Jagd, weil er den ganzen Tag nichts gefangen hatte. Er paddelte zwischen Eisschollen dahin, während der Mond aufging und ihm einen großen, glitzernden Felsen im Meer zeigte, auf dem sich etwas bewegte.

Sein Jägerauge ließ ihn schon von weitem erkennen, daß die Bewegungen nicht von den üblichen Meerestieren herrühren konnten.

Lautlos paddelte er näher heran und erkannte, daß ein Grüppchen splitternackter Frauen auf dem Felsen beim Mondschein tanzte. Er verhielt sich still und schaute zu, wie ihre Körper sich wiegten, wie die milchig und silbern schimmernden Gliedrnaßen der Mondfrauen sich im Kreise drehten.

Stockstill und tief betroffen saß er in seinem Boot, während das Wasser ihn näher und näher zu dem Felsen trug. Er konnte die Wunderwesen lachen hören, aber vielleicht war es auch nur das Plätschern der Wellen, das sein Ohr verwirrte. Der Mann wußte nicht, wie ihm geschah, aber die Bürde seiner Einsamkeit fiel von ihm ab wie eine schwere, nasse Haut, er fühlte sich emporgehoben, sprang, ohne nachzudenken, auf den Felsen und stahl eines der Seehundfelle, die dort im Mondlicht lagen. Hinter einem Vorsprung versteckte er sich und verbarg das Fell unter seinem gutngug, seinem Parka.

Bald darauf rief eine der Frauen etwas, und diese Frau hatte die schönste Stimme, die der Mannje vernommen hatte. Sie klang wie der Gesang von Walen im Morgengrauen, nein, besser noch, wie neugeborene Wölfe beim Spielen, nein, die Stimme war mit nichts zu vergleichen, das der Mann je gehört hatte.

Es dauerte nicht lange, und eine Frau nach der anderen schlüpfte in ihr Seehundfell und glitt hinab ins Meer. Sie lachten und quietschten vor Vergnügen bis auf eine. Diese Frau suchte nach ihrem Robbenfell und konnte es nirgends finden. Da trat der Mann aus seinem Versteck hervor, und obwohl er sehr schüchtern war, sagte er mit einem Mut, der ihm selbst fremd war: »Bitte . . . werde meine Frau und komm mit

mir… Ich bin so einsam.«

»O nein, das kann ich nicht«, antwortete sie. »Ich gehöre zum Anderen, zu Dem Dort Unten.«

»Werde meine Frau«, drängte der Mann. »In sieben Sommern erhältst du dein Seehundfell zurück, das verspreche ich dir. Und dann kannst du dich entscheiden, bei mir zu bleiben oder zu gehen, ganz wie es dir beliebt. «

Lange forschte die junge Robbenfrau im Gesicht des Mannes nach einem Zeichen. Schließlich sagte sie zögernd: »Also gut, ich gehe mit dir. Und nach sieben Sommern wird es sich zeigen. «

So lebten sie miteinander, und nach einer Weile gebar die Meeresgeborene dem Mann einen Sohn, den sie Ooruk tauften. Das Kind war rund und gesund, und in den langen Winternächten, während der Vater am Feuer saß und Figuren schnitzte, erzählte die Mutter ihrem Ooruk Geschichten, aber anstatt vom Bären, vom Raben und vom Wolf zu erzählen, wie andere es taten, erzählte sie die Sagen vom Walfisch, vom Seehund und den Lachsschwärmen, denn dies waren die Geschöpfe, die sie kannte.

Die Jahre vergingen, und die Menschenhaut der jungen Frau wurde erst schuppig, dann spröde, bis sie schließlich in trockenen Fetzen von ihrem Körper fiel. Ihr plumpes, weißes Fleisch wurde hohl und grau, selbst die Haare auf ihrem Kopf fielen aus. Das Licht in ihren seelenvollen Augen erlosch, und bald mußte sie die Hand ausstrecken, um sich ihren Weg zu ertasten, denn sie war halb blind geworden. Eines Nachts wurde Ooruk unsanft aus dem Schlaf gerissen, denn der Vater schimpfte laut, und die Mutter weinte.

»Gib mir mein Fell zurück«, flehte die Mutter weinend. »Sieben lange Jahre sind vergangen, und der achte Winter kommt. Du hast es mir versprochen. «

»Nein«, brüllte der Mann wütend. »Wenn ich dir das Fell gebe, verläßt du mich doch! «

»Ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich weiß nur, daß ich wiederhaben muß, was mein eigen ist.«

»Dein Kind und deinen Mann willst du im Stich lassen«, schrie der Vater, »du gewissenloses Weib!« Damit riß der Mann die Türklappe auf und stapfte hinaus in die Finsternis.

Das Kind liebte seine Mutter sehr und weinte sich in dieser Nacht in den Schlaf, aber schon bald wurde es zum zweiten Mal geweckt. Ein seltsam tosender Wind ging um, und in dem Wind war eine Stimme, die »Ooruk, Ooooruk« rief, wieder und wieder, bis Ooruk aus dem Bett kletterte, seinen Parka und seine kleinen Stiefel anzog und in die Nacht hinauslief.

»Ooruk, Ooooooruk,« rief es im Wind, und der Wind schien vom Meer zu kommen, vom Ufer, wo sich ein großer alter Seehund mit langen silbernen Schnurrhaaren hin- und herwälzte und Ooruks Namen rief.

Der mächtige alte Seehund hob seine Flosse und deutete auf ein Bündel, das zusammengerollt unter einem Felsen lag. Ooruk hob das Bündel auf, und sogleich kam ihm der unverkennbare Duft seiner Mutter entgegen. Er entrollte das Seehundfell, und in dem Moment spürte Ooruk, wie sich die Seele seiner Mutter mit all ihrer endlosen Liebe über ihm entfaltete.

Das Kind schmiegte seine Wange in den silbrigen Pelz und spürte die Umarmung seiner Mutter, als wäre sie selbst zugegen. Der alte Seehund nickte geheimnisvoll und versank langsam im Meer.

Das Fell fest an die Brust gedrückt rannte Ooruk nach Hause, direkt in die Arme seiner Mutter, die schon voller Unruhe auf ihn und ihr Robbenfell gewartet hatte.

Voller Dankbarkeit schlüpfte sie in ihren Pelz. »Oh, nein, Mama, nein«, schrie das Kind. Aber sie hob es auf und trug es dem tosenden Meer entgegen. »O Mama, verlaß mich nicht! « schrie Ooruk, als sie am Ufer angekommen waren und die Mutter sich anschickte, ins Wasser zu steigen.

Sie wandte sich zu dem Kind um, mit einem Blick unermeßlicher Liebe in den Augen. »Nein, Mama, nein«, rief das Kind. Aber sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und hauchte ihren Atem in die Lungen des Kindes, einmal, zweimal und ein drittes Mal. Dann tauchte sie mit ihrem Sohn in den Fluten unter, sank tiefer und tiefer hinab, bis zum tiefsten Meeresgrund, und beide konnten ohne Mühe unter Wasser atmen.

Bald kamen sie in eine glitzernde Wasserstadt, wo sich allerlei Meerestiere und Wunderwesen tummelten, die ein gewöhnlicher Sterblicher nie zu Lebzeiten erblickt, und alle waren froh, denn der große alte Seehund schwamm dem Schwarm singend voran und nannte Ooruk voll Stolz seinen Enkelsohn.

»Wie erging es dir dort oben, meine Tochter?« fragte der Alte, nachdem er die beiden gebührend getätschelt und an sein mächtiges Herz gedrückt hatte.

Die Robbenfrau blickte zur Seite und sagte: »Ich habe einen Menschen verwundet, einen Mann, der alles getan hat, um mich zu behalten. Aber ich kann nicht zu ihm zurück, denn dann muß ich sterben. «

»Und der Junge?« fragte der alte Seehund. »Was soll aus meinem Enkel werden?«

»Er muß in die Oberwelt zurückkehren, Vater. Seine Zeit ist noch nicht gekommen, er kann noch nicht für immer hier bei uns bleiben.« Die Mutter weinte. Alle weinten bei diesen Worten, weil sie wahr waren.

Sieben Tage und sieben Nächte vergingen, in denen der Glanz in die Augen der Mutter zurückkehrte, ihr Fleisch wieder fest, ihre Haut wieder seidig wurde und alles an ihr gesundete. Aber dann kam die Stunde des Abschieds. Gemeinsam mit dem Großvater trug sie Ooruk hinauf in die Welt der Erdbewohner und setzte ihr Kind am steinigen Ufer im Mondlicht ab.

»Ooruk«, sprach die Mutter zu guter Letzt. »Ich bin immer bei dir. Du mußt nur berühren, was ich berührt habe: meine Feuerhölzer, mein Messer, meine Steinmetzarbeiten von Ottern und Meeresgetier, dann wirst du einen Atem spüren, der mein Atem ist. Und er wird dich singen lassen und dir Geschichten geben.«

Der alte silberne Seehund und seine Tochter küßten das Kind noch tausendmal, dann rissen sie sich los und schwammen ins Meer hinaus, wo sie nach einem letzten langen Blick untertauchten. Ooruk blieb am Ufer zurück, da seine Zeit noch nicht gekommen war.

Die Jahre vergingen, und Ooruk wuchs zum Mann heran. Er wurde ein großer Sänger, Trommler und Geschichtenerzähler seines Volkes, und die Leute sagten, daß er seine Kräfte einem Wunder in seiner Kindheit zu verdanken habe, bei dem er vom Geist der Seehunde vor dem Ertrinken bewahrt wurde. Noch heute sieht man ihn im Morgennebel auf einem Felsen knien und Zwiesprache mit einer Seerobbe halten, die niemand fangen kann, so oft es auch versucht wurde, denn sie ist unantastbar und wird Tanqigcaq genannt, die Glänzende, die mit den weisen, wilden, seelenvollen Augen

Märchen der Inuit

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