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Märchenbasar

Teigh O’Kane und der Todte

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Es war einmal ein Bursche in der Grafschaft Leitrim, der war stark und geweckt und der Sohn eines reichen Gutsbesitzers. Sein Vater hatte viel Geld und ließ es dem Sohne an nichts fehlen. Die Folge davon war, dass der Junge die Unterhaltung mehr liebte als die Arbeit; da er aber der einzige Sohn seines Vaters war, so ließ dieser ihm in allen Dingen seinen Willen. Er war sehr leichtsinnig und warf mit dem gelben Gelde um sich, wie ein anderer mit weißem. Er war selten zu Hause, wo aber auf zehn Meilen in der Runde ein Jahrmarkt, ein Wettrennen oder sonst eine Versammlung war, da konnte man sicher sein, ihn zu finden. Er wurde immer ausgelassener und unbotmäßiger und verbrachte die Nächte mit Kartenspiel und wilden Gelagen; sein Vater aber schien dieses gottlose Gebaren nicht zu sehen und strafte ihn nie. Eines Tages wurde ihm hinterbracht, dass sein Sohn einem Mädchen die Ehe versprochen habe und sein Wort nicht halten wolle; da gerieth er in großen Zorn, ließ seinen Sohn vor sich kommen und sprach: »Mein Sohn, du weißt, wie ich dich liebe; ich habe deinem Treiben ruhig zugesehen, so wenig es mir auch gefiel; ich habe es dir an nichts fehlen lassen, und es war meine Absicht, dir bei meinem Ableben Haus und Hof und mein ganzes Vermögen zu hinterlassen. Heute aber ist mir etwas zu Ohren gekommen, das mich mit Schmerz und Abscheu erfüllt, und ich sage es dir klar und bestimmt: wenn du das Mädchen nicht heiratest, dem du die Ehe versprochen hast, so wird mein Brudersohn nach meinem Tode Haus und Hof und mein ganzes Vermögen besitzen. Ich stelle dir die Wahl, entweder das Mädchen zu heiraten und mein Erbe zu werden oder dein Wort zu brechen und alles zu verlieren; morgen früh wirst du mir sagen, wofür du dich entschieden hast.«
»Aber Vater, wer hat dir nur gesagt, dass ich das Mädchen nicht heiraten will?«
Doch der Vater war fort, und Teigh wusste, dass er Wort halten würde. Er kannte seinen Vater; so ruhig und sanft er war, so wusste sich doch keiner im Lande zu erinnern, dass er jemals seinen Sinn geändert hätte, denn kein Mensch war schwerer umzustimmen, als er. Teigh wusste nicht recht, was er thun sollte. Er liebte das Mädchen und hatte die ehrliche Absicht, sie eines Tages, wenn es ihm gefiele, zu heiraten; aber vorläufig behagte es ihm besser, seine wilde Lebensweise weiterzuführen. Überdies verdross es ihn, sie auf Befehl heiraten zu müssen. Er war so aufgeregt, dass er in die Nacht hinauseilte, um sein erhitztes Blut zu beruhigen. Er zündete sich seine Pfeife an und gieng raschen Schrittes beim Lichte des Vollmondes immer tiefer in die Nacht hinein. Nicht ein Lüftchen regte sich, es war eine wunderbar milde und ruhige Nacht. Über drei Stunden war er gegangen, da erst merkte er, wie spät es geworden war.
»Der Tausend,« sagte er, »es muss nahe an zwölf Uhr sein.«
Er hatte kaum das Wort ausgesprochen, als er viele Stimmen und das Getrappel von Füßen auf der Straße hörte.
»Wer nur so spät auf diesem einsamen Wege herumgeht?« sagte er zu sich.
Er lauschte dem wirren Durcheinander der vielen Stimmen, aber er verstand nicht, was sie sagten. Als er einige Schritte weitergegangen war, sah er beim Mondlichte eine Schar kleiner Leute auf sich zukommen; sie trugen eine große, schwere Last in ihrer Mitte.
»Himmel,« sagte er zu sich, »es sind doch nicht etwa die Kobolde?«
Aber die Haare standen ihm zu Berge und er zitterte am ganzen Leibe, denn sie kamen schneller und schneller auf ihn zu. Er sah sie jetzt genauer an. Es waren etwa ihrer zwanzig, und keiner war größer als drei Fuß und höchstens noch einen halben darüber, und einige von ihnen waren grau und schienen sehr alt zu sein. Er wollte wissen, was das für eine Last war, die sie in ihrer Mitte trugen, konnte sie aber nicht unterscheiden. Auf einmal waren sie hart bei ihm und umringten ihn. Sie warfen die Last auf den Boden, und da sah er, dass es ein Leichnam war. Es lief ihm eiskalt über den Rücken, jeder Blutstropfen in seinen Adern schien zu gerinnen. Da kam ein altes, graues Männlein auf ihn zu und sprach: »Ist es nicht recht glücklich, dass wir dich getroffen haben, Teigh O’Kane?«
Teigh wäre nicht um die Welt imstande gewesen, die Lippen auseinander zu bringen, er gab also keine Antwort.
»Teigh O’Kane,« sagte das graue Männlein wieder, »ist es nicht die höchste Zeit, dass du uns getroffen hast?«
Teigh blieb stumm.
»Teigh O’Kane,« fuhr er fort, »ich frage dich zum drittenmale: ‚Ist es nicht glücklich und höchste Zeit, dass wir dich getroffen haben?’«
Aber Teigh schwieg, denn die Zunge war ihm wie gelähmt. Hierauf wandte sich das graue Männlein an seine Gefährten, und die Freude blitzte ihm aus den Äuglein hervor.
»Jetzt,« sagte er, »da Teigh O’Kane kein Wort zu erwidern hat, können wir mit ihm machen, was wir wollen. Teigh, Teigh,« fuhr er fort, »du führst das Leben eines Bösewichts, und wir können dich zu unserem Sclaven machen; versuche es nicht, dich uns zu widersetzen, denn es wäre umsonst. Hebe den Leichnam auf!«
Teigh hatte solche Angst, dass er gerade nur imstande war, das eine Wort »nein« hervorzubringen, denn so groß seine Angst auch war, so war er doch halsstarrig und widerspenstig wie immer.
»Teigh O’Kane will den Leichnam nicht aufheben,« sagte das graue Männlein, mit boshaftem Lachen, und seine Stimme klang wie der Ton einer geborstenen Glocke, »Teigh O’Kane will den Leichnam nicht aufheben, redet ihm zu.«
Kaum war das Wort aus seinem Munde, so umzingelten sie Teigh und begannen durcheinander zu reden und zu lachen.
Teigh versuchte ihnen zu entrinnen, aber sie verfolgten ihn, und einer stellte ihm ein Bein, so dass er der Länge nach auf den Boden fiel. Bevor er sich noch erheben konnte, packten ihn die Kobolde an Händen und Füßen und hielten ihn fest, mit dem Gesichte nach unten. Hierauf hoben sechs oder sieben von ihnen den Leichnam auf und legten ihn Teigh auf den Rücken. Die Brust des Leichnams drückte gegen Teighs Schultern, und seine Arme umklammerten Teighs Hals. Dann wichen die Kobolde einige Schritte zurück und hießen Teigh aufstehen. Er erhob sich schäumend und fluchend und that alles, um den Leichnam von sich abzuschütteln. Aber wie groß war sein Entsetzen, als er merkte, dass die Arme des Todten seinen Hals umklammert und die Beine seine Hüften umschlossen hielten. Er mochte thun, was er wollte, es war ihm nicht möglich, den Leichnam los zu werden, so wenig als ein Pferd seinen Sattel abzuwerfen vermag. Er hielt sich für verloren und in seiner Todesangst rief er: »Mein sündiges Leben hat den Kobolden diese Macht über mich gegeben. Ich verspreche es Gott und der Jungfrau Maria, Peter und Paul, Patrick und Brigitta, dass ich ein anderer werde, wenn sie mich aus dieser Gefahr befreien – und das Mädchen nehme ich zur Frau.«
Das graue Männlein kam an ihn heran und sprach: »Nun, lieber Teigh, du wolltest den Leichnam nicht aufheben, als wir dir’s geboten, und doch hast du es gethan; vielleicht wirst du dich auch weigern, den Leichnam zu begraben, wenn wir dir’s gebieten, und doch wirst du es thun.«
»Ich stehe Euer Gnaden in allem und jedem zur Verfügung,« sagte der einst so stolze Teigh, der inzwischen windelweich geworden war.
Das Männlein lachte wieder in seiner eigenthümlichen Weise.
»So ist’s recht, Teigh,« sagte er, »jetzt pass auf, und wenn du mir nicht in allem gehorchst, so wirst du es bitter bereuen. Du musst den Leichnam, der sich auf deinem Rücken befindet, nach Teampoll-Demus tragen und ihm dort mitten in der Kirche ein Grab graben; du musst die Steinplatten aufheben und wieder einsetzen, dann musst du die Erde aus der Kirche tragen und alle Spuren verwischen, so dass niemand irgend eine Veränderung bemerkt. Aber das ist nicht alles. Es wird vielleicht nicht möglich sein, den Leichnam in jener Kirche zu begraben, ein anderer hat vielleicht das Lager inne und wird es mit ihm nicht theilen wollen. Kannst du ihn nun nicht in Teampoll- Demus begraben, so trage ihn nach Carrickfhadvic- Orus und suche ihn dort auf dem Kirchhofe zu begraben. Kannst du ihn auch dort nicht begraben, so trage ihn nach Teampoll-Ronan. Findest du den Zugang zu diesem Kirchhofe versperrt, so trage ihn nach Imlogue-Fada, und kannst du ihn auch dort nicht begraben, so hast du nichts weiter zu thun, als ihn nach Kill-Breedya zu bringen. Dort steht dann der Beerdigung nichts weiter im Wege. Ich kann dir nicht sagen, in welcher von diesen Kirchen es dir gestattet sein wird, den Leichnam zu bergen, aber in einer von ihnen geschieht es gewiss. Thust du, was wir dir auftragen, wie sich’s gehört, so werden wir dir Dank wissen, und du sollst keine Ursache haben, dich über uns zu beklagen. Betreibst du dagegen deine Arbeit nicht, wie du sollst, so wird es dich gereuen.«
Als das graue Männlein geendet hatte, lachten seine Gefährten und klatschten Beifall.
»Hottaho, hottaho, vorwärts, vorwärts,« riefen sie alle, »bis zum Morgen hast du Zeit genug vor dir, und hast du den Mann nicht vor Sonnenaufgang begraben, so bist du verloren.«
Sie trieben ihn an mit Faustschlägen und Fußtritten, und er musste gehen, schnell gehen, ob er wollte oder nicht, denn sie gaben ihm keine Ruhe. Es kam ihm vor, als sei er in jener Nacht über jeden nassen Pfad, durch jede schmutzige Pfütze, durch jeden krummen Weg in der ganzen Grafschaft gehetzt worden. Die Nacht war zuweilen stockfinster, und so oft sich der Mond hinter Wolken verbarg, sah er nicht einen Schritt vor sich und fiel nieder. Manchmal verletzte er sich beim Fall, manchmal kam er schadlos davon, immer aber musste er im Augenblicke wieder aufstehen und weiter eilen. So oft der Mond aus den Wolken trat, sah er sich um und fand das kleine Volk immer hart auf seinen Fersen. Sie schwätzten und schrien und kreischten wie eine Schar Seemöwen durcheinander, aber nicht ein Wort von allen ihren Reden konnte er verstehen.
Weit war er gewandert, er wusste selbst nicht, wie weit, da rief einer aus der Schar: »Halt!«
Er blieb stehen, und alle sammelten sich um ihn.
»Siehst du die verdorrten Bäume dort?« sprach das alte Männlein zu Teigh, »Teampoll-Demus ist unter diesen Bäumen versteckt, da musst du allein hinein, denn dorthin können wir dir nicht folgen; wir müssen hier bleiben. Geh‘ du nur muthig hinein.«
Teigh sah eine hohe Mauer vor sich und durch die Lücken in derselben eine alte, graue Kirche und um diese herum etwa ein Dutzend verdorrter Bäume zerstreut. Sie hatten weder Laub noch Reis, streckten aber ihre nackten, krummen Zweige wie ein zorniger Mann seine Arme drohend in die Luft. Aber es half nichts, er musste hinein.
Er war etwa dreihundert Schritte von der Kirche entfernt; diese legte er, ohne sich umzublicken, zurück, bis er zur Kirchhofpforte kam. Sie war eingefallen und der Eingang frei. Er wandte sich um, denn er wollte sehen, ob ihm die kleinen Leute gefolgt waren. Da bedeckte eine Wolke den Mond, es wurde stockfinster, und er sah nichts. Er durchschritt den Kirchhof und gieng den grasbedeckten Pfad zur Kirchenthüre hinauf. Diese war versperrt. Er versuchte sie zu öffnen, aber sie gab nicht nach. Nun dachte er bei sich: »Hier ist meine Mühe zu Ende, die Thür ist zu und ich kann sie nicht öffnen.«
Aber kaum waren ihm diese Worte durch den Sinn gegangen, als er eine Stimme hart an seinem Ohre hörte. »Suche den Schlüssel über der Thüre oder auf der Mauer.«
Er fuhr zusammen. »Wer spricht?« rief er und wandte sich um.
Aber niemand war zu sehen.
Wieder hörte er die Stimme: »Suche den Schlüssel über der Thüre oder auf der Mauer.«
»Was ist das?« sagte er, und der Schweiß rann ihm von der Stirne, »wer spricht?«
»Ich, der Leichnam,« sagte die Stimme.
»Kannst du sprechen?« fragte Teigh.
»Hie und da,« antwortete der Leichnam.
Teigh suchte den Schlüssel und fand ihn auf der Mauer. Voller Angst öffnete er die Thüre und gieng, so schnell er konnte, mit dem Leichnam auf dem Rücken hinein. Es war stockfinster drinnen, und der arme Teigh zitterte am ganzen Leibe.
»Zünde die Kerze an,« sagte der Leichnam.
Teigh zog Stahl und Stein aus der Tasche, schlug sie aneinander, dass sie Funken gaben, und entzündete ein Stückchen Leinwand, das er bei sich hatte, daran. In das blies er, bis es eine kleine Flamme gab, und nun blickte er um sich. Die Kirche war sehr alt und ein Theil der Mauer eingefallen, die Fenster waren zerbrochen, das Holz der Bänke wurmstichig und verfault. Sechs oder sieben eiserne Leuchter waren noch da, und in einem von diesen entdeckte Teigh ein Lichtstümpfchen; das zündete er an. Noch hatte er sich nicht recht in der grausigen Kirche umgesehen, als der Leichnam ihm ins Ohr flüsterte: »Begrabe mich, begrabe mich, hier ist ein Spaten, hebe die Erde aus.«
Teigh fand einen Spaten neben dem Altare, stieß das Eisen in eine Fuge, stützte sein ganzes Gewicht auf den Spaten und hob so Erde und Stein. Als dieser von seinem Platze entfernt war, war es ein leichtes, die andere zu entfernen; da die Erde darunter weich war, so hatte er bald einen Haufen davon zur Seite geworfen. Plötzlich stieß er auf etwas Weiches; es war ein Leichnam, der dort begraben war.
»Ich fürchte sehr, es wird nicht angehen, zwei Leichen auf derselben Stelle zu begraben,« sagte Teigh zu sich; »he da, du auf meinem Rücken, bist du es zufrieden, wenn ich dich hier begrabe?«
Der Leichnam schwieg.
»Das ist ein gutes Zeichen,« dachte Teigh und stieß den Spaten wieder in die Erde.
Da erhob der Leichnam, der dort begraben war, ein grässliches Geschrei: »Hu! hu! hu! fort, fort, fort! Oder ich mach‘ dich kalt, kalt, kalt!«
Darauf fiel er wieder in sein Grab zurück.
Teigh sträubten sich die Haare auf dem Kopfe, der kalte Schweiß rann ihm über das Gesicht und er zitterte dermaßen, dass er sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte. Nach einer Weile jedoch fasste er sich wieder, füllte das Grab und that die Steine sorgfältig darüber, so dass alles aussah wie zuvor. Dann rückte er einige Schritte näher zur Thüre, hob drei oder vier Fliesen aus und begann dort die Erde zu entfernen. Alsbald stieß er auf ein altes Weib, das in seinem Leichengewande dalag. Sie erhob sich halb und schrie: »Hoho, du Tölpel, hat er kein eigenes Lager?«
Der arme Teigh fuhr zurück, und als sie sah, dass sie keine Antwort bekam, schloss sie sachte die Augen und fiel kraftlos und langsam in ihren Sarg zurück. Teigh verfuhr jetzt genau so wie beim ersten Grabe – er warf die Erde hinein und legte die Steine wieder auf ihren Platz. Noch einmal begann er nahe der Thüre zu graben, da stieß er auf eine menschliche Hand.
»Bei meiner Seele,« sagte er, »hier ist all meine Mühe umsonst.«
Er schüttete das Grab zu und setzte die Steine wieder ein. Dann verließ er mit schwerem Herzen die Kirche, verschloss die Thüre und legte den Schlüssel wieder dorthin, wo er ihn gefunden hatte. Rathlos setzte er sich auf einen Grabstein, bedeckte das Antlitz mit den Händen und weinte vor Kummer und Erschöpfung; er hielt sich für verloren. Umsonst versuchte er es, die Hände des Leichnams, die seinen Hals umschlossen, zu lösen, sie hielten so fest, als wären sie zusammengeschmiedet. Und je mehr er sich bemühte, sie auseinander zu bringen, desto mehr fühlte er ihren Druck.
Da sprachen die kalten Lippen des Leichnams das Wort: »Carrickfhadvic-Orus.«
Er erinnerte sich des Befehles der kleinen Leute, den Leichnam nach diesem Orte zu bringen, falls es ihm unmöglich sein sollte, ihn in der ersten Kirche zu begraben.
Er stand auf und blickte um sich.
»Ich kenne den Weg nicht,« sagte er.
Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, so streckte der Leichnam plötzlich die linke Hand aus, die eben noch seinen Hals umklammert hatte, wie um ihm den Weg zu zeigen, den er einzuschlagen hätte. Teigh folgte der Richtung der ausgestreckten Hand, verließ den Kirchhof und gelangte auf einen alten, ausgefahrenen, steinigen Weg. Alsbald kamen sie zu einer Kreuzung, und Teigh stand rathlos da. Da streckte der Leichnam zum zweitenmale seine Knochenhand aus und zeigte ihm den Weg. Lange wanderte er, bis er hart an der Straße einen Begräbnisplatz entdeckte, aber da war weder Kirche, noch Kapelle, noch sonst ein Gebäude zu sehen. Der Leichnam drückte ihn fester, und Teigh blieb stehen.
»Begrabe mich, begrabe mich,« sagte die Stimme.
Teigh näherte sich dem alten Friedhofe und war nur noch etwa dreißig Schritte davon entfernt, als er Hunderte und Aberhunderte von Gespenstern – Männer, Frauen und Kinder – auf der Mauer sitzen, innerhalb derselben stehen oder hin- und herlaufen sah; alle zeigten sie auf ihn, und ihre Lippen bewegten sich, als ob sie sprächen, er aber hörte keinen Laut.
Starr vor Schrecken blieb er wie angewurzelt stehen. In demselben Augenblicke wurden auch die Geister ruhig und still. Da merkte Teigh, dass sie ihn nicht einlassen wollten. Als er sich wieder einige Schritte vorwagte, stürzte die ganze Meute auf die Stelle zu, der er sich näherte, und sie bildeten eine so dichte Mauer, dass es ihm unmöglich gewesen wäre, sie zu durchbrechen, selbst wenn er den Willen gehabt hätte, es zu versuchen. Aber dazu verspürte er durchaus keine Lust. Ganz entmuthigt kehrte er zurück, und kaum hatte er sich rathlos einige hundert Schritte von dem Begräbnisplatze entfernt, als die Stimme des Leichnams ihm ins Ohr flüsterte: »Teampoll-Ronan!« Und die knochige Hand zeigte ihm wieder den Weg.
So müde er auch war, er musste weiter; es war ein langer, mühsamer Weg. Die Nacht war finsterer als je, und es war schwer, von der Stelle zu kommen. Mit Beulen bedeckt, kam er endlich zur Kirche in Teampoll-Ronan, die sich mitten auf einem Begräbnisplatze erhob. Guten Muthes gieng er auf sie zu, denn er sah weder Geister, noch sonst jemand auf der Mauer und hoffte bestimmt, ungehindert Eingang zu finden und seine Bürde los zu werden. Er langte bei der Thüre an, stolperte aber über die Schwelle. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, wurde er von unsichtbaren Händen gepackt, gedrückt, geschüttelt und fast zu Tode gewürgt. Endlich wurde er aufgehoben, fortgetragen und etwa hundert Schritte von dem Begräbnisplatze mit sammt der Leiche in einen Seitengraben geworfen.
Ganz wund von den Schlägen und Stößen stand er auf. »He da, du auf meinem Rücken,« sagte er, »soll ich noch einmal zum Kirchhof zurück?«
Aber der Leichnam schwieg.
»Gut,« sagte Teigh, »das heißt, ich soll nicht wieder hingehen. Aber was fang ich jetzt an?«
Da flüsterte ihm der Leichnam ins Ohr: »Imlogue- Fada.«
»Himmel!« rief Teigh, »auch das noch! Wenn ich noch lange so wandern muss, so stürze ich unter der Last zusammen.«
Aber er setzte doch seinen Weg fort, immer in der Richtung, die ihm der Leichnam zeigte. Er gieng und gieng, und der Weg wollte kein Ende nehmen. Endlich schnürte ihm der Leichnam den Hals noch fester zusammen und sagte: »Da!«
Teigh sah eine niedere Mauer vor sich, die an so vielen Stellen durchbrochen war, dass es eigentlich gar keine Mauer mehr war. Sie befand sich mitten in einem weiten Felde, abseits von der Straße, und nur drei oder vier mächtige Ecksteine ließen darauf schließen, dass diese Mauer einmal eine Begräbnisstätte eingeschlossen hatte.
»Ist dies Imlogue-Fada? Soll ich dich hier begraben?« fragte Teigh.
»Ja,« sagte die Stimme.
»Aber ich sehe weder Grab noch Grabstein,« sagte Teigh.
Der Leichnam schwieg, streckte aber seine lange, fleischlose Hand aus, und Teigh folgte der Richtung.
Kaum hatte er sich aber der Mauer auf etwa zwanzig Schritte genähert, als es wie ein Blitz mit gelber, rother und blauer Flamme um die Mauer zuckte, und je länger Teigh darauf hinsah, desto größer wurde der Flammenring um den alten Friedhof, desto lichter wurden seine Farben, desto zahlreicher die Funken, die er sprühte.
Teigh war starr vor Entsetzen. Wie Nebel legte es sich ihm um die Augen, und von Schwindel erfasst, sank er zu Boden. Kaum war er einigermaßen zu sich gekommen, so flüsterte ihm die Stimme ins Ohr: »Kill-Breedya!«
Dabei drückte ihn der Leichnam so heftig, dass er vor Schmerz laut aufschrie. Er stand auf, müde und zitternd, gieng weiter. Es wehte ein kalter Wind, der Weg war schlecht, die Last auf seinem Rücken war schwer, die Nacht stockfinster geworden, und er war so erschöpft, dass er jeden Augenblick glaubte, niedersinken zu müssen.
Endlich streckte der Leichnam die Hand aus und sagte: »Begrabe mich hier!«
»Dies ist die letzte Begräbnisstätte,« dachte Teigh, »auf einem Friedhof muss ich ihn begraben können, sagte das graue Männlein, also ist es hier.«
Der erste schwache Schein der Morgendämmerung wurde im Osten sichtbar, und die Wolken fiengen an, sich an der Sonne zu entzünden.
»Spute dich, spute dich!« sagte der Leichnam.
Teigh eilte, so gut er konnte, auf die Begräbnisstätte zu, die sich auf einem nackten Hügel befand. Kühn gieng er durch die offene Pforte hinein – nichts stellte sich ihm in den Weg. Als er in der Mitte angekommen war, schaute er sich nach einem Spaten oder einer Schaufel um. Wie er sich so suchend umblickte, fuhr er erschrocken zusammen – ein frisches Grab starrte ihm entgegen. Er gieng darauf zu und sah in der Tiefe einen schwarzen Sarg. Er kroch in die Grube und hob den Deckel auf; der Sarg war leer. Kaum aber war er wieder oben angelangt, da löste der Leichnam von selbst die Hände von seinem Halse und die Beine von seinen Hüften und sank plumps! in den offenen Sarg.
Teigh fiel am Rande des Grabes in die Knie und dankte Gott mit inbrünstigen Worten. Dann schloss er den Sarg, warf so lange mit den Händen Erde auf das Grab, bis es ausgefüllt war, stampfte mit seinen Füßen darauf, bis der Boden fest und hart war, und eilte davon.
Eben war er mit seiner Arbeit fertig geworden, als die Sonne über dem Horizonte erschien. Er langte wieder auf der Straße an und blickte sehnsüchtig nach einem Hause aus, wo er sich niederlegen könnte. Endlich fand er ein Gasthaus, warf sich aufs Bett und schlief bis in die Nacht hinein. Dann stand er auf, stärkte sich ein wenig und schlief wieder bis zum Morgen. Hierauf mietete er ein Pferd und ritt nach Hause. Mehr als sechs Meilen hatte er zurückzulegen; diesen ganzen Weg hatte er in einer Nacht mit dem Leichnam auf seinem Rücken gemacht.
Seine Verwandten hatten geglaubt, er hätte das Land verlassen; groß war daher ihre Freude, als sie ihn wieder zu sehen bekamen. Wo er gewesen war, hat außer seinem Vater nie jemand erfahren.
Von jenem Tage an war er ein anderer Mensch. Vierzehn Tage, nachdem er zurückgekehrt war, wurde er mit Mary getraut. Mit Spielen, Trinken und Nachtschwärmen war es ein- für allemal vorbei. Teigh wurde ein glücklicher Mann, möget ihr so glücklich werden wie er.

[Anna Kellner: Englische Märchen]

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