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Unter dem Weidenbaume

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Die Gegend um das kleine seeländische Städtchen Kjöge ist sehr kahl; es liegt zwar am Meeresstande, was immer schön ist, aber dort könnte es noch schöner sein, als es ist: ringsumher sind ebene Felder, und ein gar weiter Weg ist nach dem Walde. Doch wenn man in einem Dorf recht zu Hause ist, so findet man da immer irgend etwas Schönes, und nach dem später an dem reizendsten Orte der Welt Sehnsucht empfindet. Und das müssen wir freilich gestehen, daß es am äußersten Weichbilde des Städtchens, wo einige kleine, ärmliche Gärten sich längs des Baches, der dort ins Meer fällt, hinstrecken, im Sommer ganz anmutig sein konnte – was die beiden Nachbarskinder fanden, die hier spielten und durch die Stachelbeersträucher sich wanden, um zueinander zu gelangen. In dem einen Garten stand ein Fliederbaum, in dem andern ein alter Weidenbaum, und namentlich unter diesem letzteren spielten die Kinder gar gern: das man ihnen erlaubt, obgleich der Weidenbaum in der Nähe des Baches stand und sie leicht ins Wasser hätte fallen können; aber das Auge Gottes ruht auf den Kleinen – würde es doch sonst gar schlimm um sie aussehen! Sie waren aber auch sehr vorsichtig inbetreff des Wassers, ja, der Knabe war dermaßen wasserscheu, daß es nicht möglich war, ihn im Sommer ins Meer hinauszulocken, indem doch die andern Kinder so gern umherplantschten; er wurde deshalb auch gehörig geneckt und verhöhnt, und er mußte es geduldig ertragen.

Einmal träumte es Johanna, dem kleinen Mädchen des Nachbars, sie segle in einem Kahne, und Knut wate zu ihr hinaus, so daß das Wasser ihm erst bis an den Hals, dann bis über den Kopf gehe und er endlich ganz verschwinde. Von dem Augenblicke an, da der kleine Knut diesen Traum erfuhr, duldete er nicht mehr die Verhöhnungen der andern Knaben; durfte er doch jetzt ins Wasser gehen; habe es Johanna doch geträumt! – Selbst tat er er es freilich nie, aber jener Traum war immerhin sein Stolz. Die armen Eltern kamen oft zusammen, und Knut und Johanna spielten in den Gärten und auf der Landstraße, die längs der Gräben mit zwei Reihen von Weidenbäumen besetzt war, die zwar nicht zum Staat, sondern des Nutzens wegen standen; schöner war der alte Weidenbaum im Garten, und unter diesem saßen die beiden Kinder. – In dem Städtchen ist ein großer Martplatz, und zur Zeit des Jahrmarktes standen dort ganze Straßen von Zelten und Buden mit seidenen Bändern, Stiefel und allem, was man sich nur wünscht; es war ein arges Gedränge und in der Regel Regenwetter, und dann spürte man den Dunst der Friesenwämse der Bauern, aber auch den schönsten Duft der Honig – und Pfefferkuchen, von denen eine Bude voll stand, und was noch das herrlichste war: der Mann, der die Kuchen verkaufte, nahm während des Jahrmarktes seine Wohnung bei den Eltern des kleinen Knut, und nun gab es dann und wann einen kleinen Pfefferkuchen, von dem natürlich auch Johanna ihren Anteil erhielt. Aber was noch schöner war: der Pfefferkuchenhändler wußte von allen möglichen Dingen Geschichten zu erzählen, selbst von seinen Pfefferkuchen; ja, von diesen erzählte er eines Abends eine Geschichte, die einen tiefen Eindruck auf das Kind machte, daß sie nie wieder vergaßen, und darum ist es wohl das Beste, daß wir sie auch erzählen, um so mehr,
da sie nur kurz ist.

„Auf dem Ladentische“ – erzählte er – „lagen zwei Pfefferkuchen, der eine in Gestalt des Mannes mit einem Hute, der andre in Gestalt einer Jungfrau ohne Hut; sie hatten ihre Gesichter auf der Seite, die nach oben gekehrt war, und von dieser Seite sollte man sie auch besehen, nicht von der Kehrseite, von welcher man nie einen Menschen betrachten darf. Der Mann trug auf der linken Seite eine bittere Mandel, das war sein Herz, die Jungfrau dagegen war lauter Honigkuchen; sie lagen beide als Proben auf dem Ladentische, lagen dort sehr lange, und endlich verliebten sie sich ineinander; aber keins sagte es dem andern, und das muß doch geschehen, wenn etwas daraus werden soll.
„Er ist ein Mann, er muß das erste Wort sagen“, wollte sich aber doch schon begnügen, wenn sie nur wüßte, daß ihre Liebe erwidert würde. – „Seine Gedanken waren nun zwar ausschweifender, und das ist mit den Männern immer der Fall; ihm träumte, er sei ein leibhaftiger Straßenjunge, im Besitze von vier Schillingen, und kaufe die Jungfrau und verzehre sie.

„Und so lagen sie Tage und Wochen lang auf dem Ladentische und vertrockneten, und die Gedanken der Jungfrau wurden immer zarter und weiblicher: „Es genügt mir schon, daß ich auf dem Tische mit ihm zusammen gelegen habe!“ – dachte sie und knack! – brach sie mitten durch. – „Hätte sie nur meine Liebe gekannt, sie hätte wohl etwas länger gehalten!“ – dachte er. – „Und hier sind alle beide“, sagte der Kuchenbäcker. „Sie sind ihres Lebenslaufes und der stummen Liebe wegen, die nie zu etwas führt, merkwürdig; da habt ihr sie!“ Damit gab er Johanna die Mannsperson, die ganz war, und Knut erhielt die geknickte Jungfrau; aber die Kinder waren dermaßen ergriffen, daß sie es nicht übers Herz bringen konnten, die Liebesleute zu essen.

An folgenden Tagen gingen sie mit ihnen auf den Friedhof und ließen sich dort an der Kirchenmauer nieder, die mit dem üppigsten Efeu, Sommer und Winter, wie mit einem reichen Teppich behangen war; hier stellten sie die Pfefferkuchen zwischen die grünen Ranken in den Sonnenschein und erzählten nun einer Schar anderer Kinder von der stummen Liebe, die nichts tauge – das heißt die Liebe; denn die Geschichte sei allerliebst, der Meinung waren sie alle; als sie aber wieder einen Blick auf das Honigkuchenpaar warfen, ja, da hatte ein großer Knabe – und zwar aus Bosheit – die geknickte Jungfrau aufgegessen; die Kinder weinten darüber, und nachher – dies geschah wahrscheinlich, damit der arme Liebhaber nicht allein in der Welt stehen sollte – nachher aßen sie ihn auch auf, doch die Geschichte vergaßen sie nie.

Immer waren die Kinder beisammen am Fliederbaum oder unter dem Weidenbaum, und das kleine Mädchen sang die schönsten Lieder mit einer Stimme, klar wie eine Glocke; Knut dagegen hatte keinen Ton in sich, aber er wußte den Text, und das ist immerhin etwas.
Die Leute in Kjöge, selbst die Frau des Galanteriewarenhändlers, blieben stehen und lauschten, wenn Johanna sang. „Die hat eine recht süße Stimme, die Kleine!“ sagten sie. Das waren herrliche Tage, allein sie währten nicht ewig. Die Nachbarn trennten sich; die Mutter des kleinen Mädchens war gestorben, der Vater wollte wieder heiraten, und zwar nach der Residenz, wo man ihm versprochen hatte, daß er sein Brot haben und irgendwo Bote werden würde, was ein sehr einträgliches Amt sein sollte. Die Nachbarn trennten sich unter Tränen, namentlich weinten die Kinder; aber die Eltern gelobten einander, wenigstens einmal jährlich zu schreiben. Der Knut kam zu einem Schuhmacher in die Lehre, der große Junge konnte sich doch nicht länger umhertreiben. Und er wurde nun auch konfirmiert.
Ach, wie gerne wäre an diesem Festtage in Kopenhagen gewesen bei der kleinen Johanna, aber er blieb in Kjöge und war nie nach Kopenhagen gekommen, obgleich die Hauptstadt nur fünf Meilen von dem kleinen Städtchen entfernt ist; doch über den Meerbusen hinweg hatte Knut bei klarem Himmel die Türme erblickt; und an dem Konfirmationstage sah er deutlich das goldene Kreuz an der Frauenkirche in der Sonne glänzen.
Ach, wie oft waren seine Gedanken bei Johanna! Ob sie wohl seiner noch gedachte? Ja – Gegen Weihnachten kam ein Brief von ihrem Vater an, es gehe ihnen sehr gut in Kopenhagen, und namentlich dürfte Johanna ihrer schönen Stimme wegen ein großes Glück zuteil werden: sie sei bei der Komödie angestellt, in der gesungen werde; etwas Geld verdiene sie jetzt schon dabei, und von diesem sende sie den lieben Nachbarsleuten in Kjöge einen ganzen Taler zum vergnügten Weihnachtsabend; sie sollten auf ihre Gesundheit trinken, das hatte sie selbst eigenhändig in einer Nachschrift hinzugefügt, und in dieser standen auch die Wort: „Freundlichen Gruß an Knut!“

Die ganze Familie weinte, und doch war das ja alles ganz erfreulich; aber sie weinte vor Freude. Alle Tage hatte Johanna die Gedanken Knuts erfüllt, und jetzt überzeugte er sich, daß auch sie an ihn denke, und je näher die Zeit heranrückte, wo er ausgelernt haben würde, umso klarer stand es vor ihm, daß er Johanna gar lieb habe, daß sie seine Frau werden müsse, und dabei spielte ein Lächeln um seine Lippen, und er zog den Draht noch einmal so rasch und stemmte den Fuß gegen den Knieriemen an; er stach die Pfriemen tief in den Finger hinein, aber das tat nichts! Er wollte wahrhaftig nicht den Stummen spielen, wie es die beiden Pfefferkuchenleute getan; die Geschichte sei ihm eine gute Lehre gewesen. Jetzt war er Geselle und das Ränzel war geschnürt: endlich, zum erstenmal in seinem Leben, sollte er nach Kopenhagen gehen, dort hatte er bereits einen Meister. Wie würde Johanna überrascht und erfreut sein! Sie zählte jetzt siebzehn, er neunzehn.

Schon in Kjöge wollte er einen goldenen Ring für sie kaufen; aber er besann sich doch, daß man dergleichen gewiß weit schöner in Kopenhagen bekäme.
Und nun wurde Abschied von den Eltern genommen, und an einem späten, regnerischen Herbsttage wanderte er zu Fuß aus der Heimatstadt fort, das Laub fiel von den Bäumen herab, durchnässt kam er in der großen Hauptstadt und bei seinem neuen Meister an. Künftigen Sonntag wollte er den Besuch bei dem Vater Johannas machen. Die neuen Gesellenkleider wurden hervorgesucht und der neue Hut aus Kjöge aufgesetzt, der stand dem Knut gar gut, früher hatte er immer nur eine Mütze getragen. Er fand das Haus, das er suchte, stieg die vielen Stufen hinan, – es war zum Schwindligwerden, wie die Menschen hier in der großen Stadt die Häuser übereinander bauten. In der Stube sah alles wohlhabend aus, und der Vater Johannas empfing ihn sehr freundlich, der Frau jedoch war ein Fremder, aber sie reichte ihm immerhin die Hand und bewirtete ihn mit Kaffee. – „Es wird Johanna freuen, dich zu sehen“, sagte der Vater, „Du bist ja ein sehr netter, junger Mann geworden! Nun sollst du sie sehen; ja, sie ist ein Mädchen, das mir Freude macht, und mit Gottes Hilfe, noch mehr Freude machen wird. Sie hat ihre eigene Stube und die bezahlt sie uns!“
Und der Vater klopfte selbst höflich an die Tür; als wäre er ein fremder Mann, und dann traten sie ein. Ach, wie war dort alles so niedlich; ein solches Stübchen fände man sicher nicht in ganz Kjöge; die Königin selbst könnte es nicht anmutiger haben! Da waren Fußdecken, es waren Fenstervorhänge ganz bis zum Boden herab, sogar ein Stuhl von Samt, und ringsum Blumen und Gemälde, und ein Spiegel, in den man selbst hineinlaufen konnte, er war ja so groß wie eine Tür.

Knut sah das alles mit einem Blicke; in Wirklichkeit sah er nur Johanna; sie war ein erwachsenes Mädchen und ein ganz anderes, als Knut es sich gedacht, aber viel schöner; in ganz Kjöge war keine einzige Jungfrau so wie sie, und wie fein sie war, wie blickte sie den Knut so sonderbar fremd an, aber nur einen Augenblick, dann stürzte sie auf ihn zu, als wollte sie ihn küssen – sie tat es zwar nicht, aber es war doch nahe daran. Ja, sie freute sich wirklich bei dem Anblick des Freundes ihrer Kindheit! Die Tränen standen ihr in den Augen, und dann hatte sie so viel zu fragen und zu reden, von den Eltern Knuts, bis auf den Flieder – und Weidenbaum, diese nannte sie Fliedermutter und Weidenvater, als ob sie auch Menschen wären, und dafür konnten sie ebenso gelten wie die Pfefferkuchen; von diesen sprach sie auch, und von ihrer stummen Liebe, wie sie auf dem Ladentische lagen und entzwei gingen, und dabei lachte sie so herzlich – in den Wangen Knuts aber flammte das Blut, und sein Herz klopfte schneller als sonst. – Nein, sie war gar nicht stolz geworden! Sie war es auch – das bemerkte er wohl – auf deren Wunsch ihre Eltern ihn einluden, den ganzen Abend dazubleiben, und sie schenkte den Tee ein und reichte ihm eine Tasse, und später nahm sie ein Buch zur Hand und las laut vor, und es war Knut, als wenn gerade das, was sie las, von seiner Liebe handle, so genau fiel es mit seinen Gedanken zusammen; darauf sang sie ein einfaches Lied, aber das wurde durch sie zu einer Geschichte, als ströme ihr eigenes Herz darin über. Ja, sie habe den Knut ganz gewiß lieb. Die Tränen rollten ihm über die Wangen, er konnte sich nicht halten, und er vermochte kein einziges Wort zu sagen; ihm selbst aber schien es, als sei er verdummt, und doch drückte sie ihm die Hand und sagte: „Du hast ein gutes Herz, Knut – und bleib immer so, wie du bist!“

Beim Abschied hatte der Vater Johannas gesagt: „Nun, hoffentlich wirst du uns nicht ganz vergessen, wirst nicht den ganzen Winter verstreichen lassen, bis du uns wieder einmal besuchst?“ – also konnte er sehr wohl am folgenden Sonntag wieder hingehen, und wollte er auch. Jeden Abend aber nach dem Schluß der Arbeit, und es wurde bei Licht gearbeitet, ging Knut in die Stadt; er ging durch die Straße, in der Johanna wohnte, blickte zu ihren Fenstern hinauf – sie waren fast überall erhellt – und eines Abends sah er deutlich den Schatten ihres Gesichtes an dem Fenstervorhang. Das war ein schöner Abend! Die Frau Meisterin tadelte es zwar, daß er immer des Abends auf der Fahrt sein müsse, wie sie es nannte, und schüttelte den Kopf, der Meister aber lächelte: „Er ist ein junger Mensch!“ sagte er.
„Sonntag sehen wir uns, und ich sage ihr, wie sie im Sinn und Herzen liegt, und daß sie mein Frauchen werden muß; ich bin ein zwar nur ein armer Schuhmachergeselle, aber ich kann Meister werden, ich werde arbeiten und streben – ja, ich sage es ihr; es kommt nichts heraus bei der stummen Liebe, das habe ich von den Pfefferkuchen gelernt!“

Der Sonntag kam und erschien, aber er hatte es unglücklich getroffen; alle waren am Abend eingeladen. Johanna drückte ihm die Hand und sagte: „Bist du schon im Theater gewesen? Du mußt einmal hingehen!
Ich singe am Mittwoch, und wenn an diesem Tage Zeit hast, dann will ich dir ein Billet schicken, mein Vater weiß, wo dein Meister wohnt.“ Wie nett War das von ihr! Und am Mittwoch Mittag erhielt er auch wirklich ein Couvert ohne Brief, aber das Billet lag dadrin, und am Abend ging Knut zum erstenmal in seinem Leben ins Theater. Und was sah er? Er sah Johanna! Wie war sie schön und anmutig! Sie wurde zwar an einen fremden Mann verheiratet, aber das war alles nur Komödie, etwas, das sie vorstellten; das wußte Knut, sonst hätte sie es auch nicht übers Herz bringen können, ihm ein Billet zu senden, damit er es sehe. Alle Leute klatschten in die Hände, riefen laut Bravo, und Knut rief Hurra! Selbst der König lächelte Johanna zu, als habe er seine Freude an ihr. Gott, wie fühlte sich Knut so klein!
Aber er liebte sie noch inniger, und sie hatte ihn ja auch lieb. Als der Sonntag kam, ging er wieder hin: er war in einer Stimmung, als sollte er das heilige Abendmahl empfangen; Johanna war allein und empfing ihn, es konnte sich nicht glücklicher treffen.
„Es ist gut, daß du kommst“, sagte sie; – „ich dachte schon daran, meinen Vater zu dir zu senden, allein ich ahnte, daß du heute abend kommen würdest – ich muß dir nämlich sagen, daß ich am Freitag nach Frankreich abreise; ich muß es tun, damit ich’s zu etwas bringe!“

Es schien Knut, als drehe sich die Stube um und um: ihm war zumute, als wolle das Herz ihm zerspringen; zwar trat keine Träne in sein Auge, aber es war deutlich zu sehen, wie betrübt er wurde. „Du ehrliche, treue Seele!“ sprach sie – und damit war Knut die Zunge gelöst, und er sagte ihr, wie innig lieb er sie habe, und daß sie sein Frauchen werden müsse. Während er dies sagte, sah er Johanna die Farbe wechseln und erblassen; sie ließ seine Hand fallen und erwiderte ernst und betrübt: „Mache dich nicht selbst und mich unglücklich, Knut! Ich werde dir stets eine gute Schwester sein, auf die du bauen kannst – aber auch nicht mehr!“
Und sie strich mit ihrer weichen Hand über seine weiße Stirn. „Gott, gibt uns zu vielem die Kraft, wenn wir nur selbst wollen!“ – In diesem Augenblick trat ihre Stiefmutter ins Zimmer.
„Knut ist ganz außer sich, weil ich reise!“ sagte Johanna. „Sei doch ein Mann!“ und dabei legte sie ihre Hand auf seine Schulter; es war, als hätten sie nur von der Reise und sonst nichts anderem gesprochen.
„Du bist ein Kind!“ fuhr sie fort, „aber jetzt mußt du gut und vernünftig sein, wie unter dem Weidenbaume, als wir noch Kinder waren!“ Aber es war Knut, als sei die Welt aus den Fugen gegangen. Sein Denken war wie ein loser Faden, der im Winde hin und herflatterte. Er blieb doch, er wußte nicht, ob sie ihn zu bleiben gebeten; aber sie waren freundlich und gut, und Johanna schenkte ihm den Tee ein und sang; es war nicht der alte Ton, und doch war es so unendlich schön, zum Herzzerspringen.
Darauf trennten sie sich. Knut reichte ihr die Hand; sie ergriff sie und sagte: „Du gibst doch deiner Schwester die Hand zum Abschied, mein alter Jugendgespiele!“
Sie lächelte durch Tränen, die ihr über die Wangen flossen, und sie wiederholte das Wort „Bruder.“
Ja, das war ein schöner Trost! – So war der Abschied.

Sie segelte nach Frankreich und Knut ging weiter auf den schmutzigen Straßen Kopenhagens umher. Die andern Gesellen in der Werkstatt fragten ihn, weshalb er so grübelnd umhergehe, er solle sich mit ihnen ein Vergnügen machen, er sei ja ein junges Blut.
Sie gingen miteinander auf den Tanzboden; dort waren viele schöne Mädchen, aber freilich keins wie Johann, und hier, wo er gedacht, sie zu vergessen, hier gerade stand sie am lebhaftesten vor seiner Seele.
„Gott, gibt uns zu vielem Kraft, wenn wir nur selbst wollen!“ hatte sie gesagt, und eine andächtige Stimmung kehrte in sein Herz ein; er faltete die Hände; die Violinen spielten auf und die Mädchen tanzten im Kreise umher; er erschrak förmlich, es schien ihm, als sei er an einem Orte, wohin er Johanna nicht hätte führen sollen – denn sie war doch mit ihm in seinem Herzen da. Darum ging er hinaus, lief auf die Straße und kam an dem Hause vorüber, indem sie gewohnt hatte; dort war es finster – überall war es finster, leer und einsam: die Welt ging ihren Weg, und Knut den seinigen.

Es wurde Winter, und die Gewässer froren zu; als wenn sich alles aufs Begräbnis einrichte.
Als aber der Frühling wiederkehrte und das erste Dampfschiff ging, ergriff ihn eine Sehnsucht, weit, weit in die Welt zu wandern, aber nicht nach Frankreich.
Er schnürte sein Ränzel und wanderte weit, weit ins deutsche Land hinein, von Stadt zu Stadt, ohne Rast und Ruhe; erst als er die alte prächtige Stadt Nürnberg betrat, war es, als würde er seiner Füße Herr; er gewann es über sich, dort zu bleiben. Nürnberg ist eine wunderliche alte Stadt, wie aus der Bilderchronik herausgeschnitten. Die Straßen liegen, wie sie eben wollen; die Häuser lieben es nicht, in Reih’ und Glied zu stehen; Erker mit kleinen Türmen, Schnörkeln und Bildsäulen springen vor und über den Bürgersteig hinaus, und hoch von den Dächern laufen Dachrinnen, wie Drachen und langbeinige Hunde geformt, bis über die Mitte der Straße hinaus.

Auf dem Marktplatze stand Knut mit dem Ränzel auf dem Rücken; er stand an einem der alten Springbrunnen mit den herrlichen, biblischen und historischen Figuren, die zwischen den springenden Wasserstrahlen stehen. Ein sauberes Dienstmädchen schöpfte eben Wasser, es gab Knut einen Labetrunk; und da es die Hand voll Rosen hatte, gab es ihm auch eine Rose, und das schien ihm ein gutes Vorzeichen. Von der nahen Kirche brausten Orgeltöne ihm entgegen, sie klangen ihm so heimatlich, als kämen sie aus der Kirche zu Kjöge, und er trat in den großen Dom; die Sonne schien durch die gemalten Scheiben hinein zwischen die hohen schlanken Säulen; Andacht erfüllte sein Gedanken, und stiller Friede kehrt in seinem Sinn ein.

Er suchte und fand einen guten Meister in Nürnberg, bei diesem blieb er und erlernte die deutsche Sprache. Die alten Gräber um die Stadt herum sind in kleine Gemüsegärten umgewandelt, aber die hohen Mauern stehen noch da mit ihren schweren Türmen. Der Seiler dreht sein Seil auf dem vom Balken erbauten Gange längs der Innenseite der Stadtmauer, und ringsum wächst hier aus Ritzen und Spalten der Flieder; er streckt seine Zweige über die kleinen, niedrigen Häuser, die unten liegen, und in einem dieser Häuser wohnte der Meister, bei dem Knut arbeitete; über das kleine Dachfenster, an dem Knut saß, senkte der Fliederbaum seine Zweige. Hier wohnte er einen Sommer und einen Winter; aber als der Frühling kam, war’s nicht mehr auszuhalten. Der Flieder blühte und duftete so heimatlich, daß es ihm war, als sei er wieder in den Gärten von Kjöge. – Darum zog Knut von seinem Meister weg zu einem andern, weiter in die Stadt hinein wo kein Flieder wuchs. Seine Werkstatt war in der Nähe einer alten gemauerten Brücke, über einer ewig rauschenden, niedrigen Wassermühle; draußen floß der reißende Strom, eingezwängt von Häusern, die alle mit alten, morschen Erkern gleichsam behangen waren; es sah aus, als wollten sie diese alle ins Wasser hinabschütteln. Hier wuchs kein Flieder, hier stand nicht einmal ein Blumentopf mit wenigem Grün, aber gerade der Werkstatt gegenüber wurzelte ein großer, alter Weidenbaum, der sich gleichsam an dem Hause festhielt, um nicht vom Strome hinweggerissen zu werden; er streckte seine Zweige über den Fluß hinaus, wie der Weidenbaum im Garten bei Kjöge über den Bach. Ja, da war er nun von der Fliedermutter zum Weidenvater gezogen; der Baum hier hatte, namentlich an mondhellen Abenden, etwas, das ihm zu Herzen ging, aber es war durchaus nicht der Mondschein, sondern der alte Baum selbst. Und dennoch litt es ihn nicht. Weshalb! Frage den Weidenbaum, frage den blühenden Flieder!

Er sagte dem Meister von Nürnberg Lebewohl und zog weiter. Zu niemanden sprach er von Johanna, in seinem Innern verbarg er seinen Kummer – und eine immer tiefere Bedeutung legte er der Geschichte von den beiden Pfefferkuchen bei. Jetzt begriff er, weshalb die Mannsperson dort links eine bittere Mandel hatte, er selbst hatte einen bitteren Geschmack davon; und Johanna, die stets so mild und freundlich war, sie war lauter Honigkuchen. Es war, als presste der Riemen seines Ränzels so arg, daß er kaum zu atmen vermochte; er löste ihn, allein es half nichts; nur die halbe Welt erblickte er um sich, die andre Hälfte trug er in sich, in seinem Innern, so stand es mit ihm.

Erst als er die hohen Berge erblickte, erschien die Welt ihm freier, seine Gedanken wanderten nach außen; Tränen traten in seine Augen. Die Alpen schienen ihm die zusammengefalteten Flügel der Erde zu sein; – wie, wenn sie diese entfaltete, wenn sie die großen Schwingen mit ihren bunten Bildern von schwarzen Wäldern, brausenden Gewässern, Wolken und Schneemassen ausbreitete? Am jüngsten Tage erhebt die Erde ihre großen Flügel, steigt gen Himmel und zerplatzt wie eine Seifenblase in dem Strahlenglanze Gottes. „O, wäre es nur der jüngste Tag!“ seufzte er.
Still wanderte er durch das Land, das ihm wie ein rasenbedeckter Fruchtgarten erschien; von den hölzernen Altanen der Häuser nickten ihm klöppelnde Mädchen zu, die Bergesgipfel glühten in der roten Abendsonne, und als er die grünen Seen zwischen den dunklen Bäumen sah, dachte er an die Küste bei den Kjöge – Meerbusen, und wohl die Wehmut, aber nicht der Schmerz wohnte in seiner Brust. Dort, wo der Rhein wie eine lange Woge dahinrollt, zerstäubt und in schneeweiße klare Wolkenmassen verwandelt wird, als ginge hier die Schöpfung der Wolken vor sich – der Regenbogen flattert wie ein loses Band darüber hin – dort dachte er an die Wassermühle in Kjöge, wo die Gewässer auch so rauschten und schäumten. Gerne wäre er hier in der stillen Rheinstadt geblieben, allein es waren zu viele Flieder – und Weidenbäume, deshalb zog er weiter über die hohen, mächtigen Gebirge, durch zersprengte Felswände, oft auf Wegen, die Schwalbennestern gleich an der Bergwand hingen.
Die Gewässer brausten in der Tiefe, die Wolken lagen unter ihm; über Disteln, Alpenrosen und Schnee schritt er in der warmen Sommersonne dahin – sagte den Landen des Nordens Lebewohl und trat unter blühende Kastanienbäume, schritt durch Weingärten und Maisfelder; die Berge waren eine Mauer zwischen ihm und allen seinen Erinnerungen, und so mußte es ein.

Vor ihm lag eine große, prächtige Stadt, sie nannten sie Milano, Mailand * und hier fand er einen deutschen Meister, der ihn in Arbeit nahm; es war ein altes, frommes Ehepaar, in dessen Werkstatt er arbeitet. Die beiden Alten gewannen den stillen Gesellen lieb, der wenig sprach, aber desto mehr arbeitete und fromm und christlich lebte. Ihm schien es auch, als habe Gott die schwere Last von seinem Herzen genommen. Seine schönste Lust war, dann und wann auf die mächtige Marmorkirche zu steigen, die schien ihm wie von der Heimat Schnee geschaffen und zu Bildern, spitzen Türmen, buntgeschmückten offenen Hallen geformt zu sein; von jedem Winkel, jeder Spitze, jedem Bogen lächelten ihn die weißen Bildsäulen an. Über sich hatte er den blauen Himmel unter sich die Stadt und die weitgedehnte, grüne lombardische Ebene, und gen Norden die hohen Berge mit dem ewigen Schnee – und dabei dachte er an die Kjögelkirche mit ihren roten, von roten, von Efeu umrankten Mauern, aber er sehnte sich nicht fort; hier, hinter den Bergen, wollte er begraben sein.

Ein Jahr hatte er hier gelebt – es waren drei Jahre verflossen, seitdem er die Heimat verlassen. Da führte sein Meister in eines Tages in die Stadt, nicht nach der Arena zu den Kunstreitern, nein, in die große Oper – und dort war auch ein Saal, der des Beschauens wert war. In sieben Stockwerken hingen die schönsten Vorhänge hernieder, und vom Fußboden an, schwindelnd hoch bis in die Decke hinauf, saßen die feinsten Damen mit Blumenbuketts in den Händen, als wenn sie auf den Ball gehen wollten, und die Herren waren in vollem Staat und viele von ihnen mit Gold und Silber geschmückt; es war dort so hell wie im klarsten Sonnenschein, und die Musik brauste so herrlich, es war viel prächtiger, als die Komödie in Kopenhagen, aber dort war Johanna – und hier war sie auch! Ja, es war wie im Zauber. Der Vorhang ging auf, und auch hier stand Johanna in Gold und Seide, mit der goldenen Krone auf dem Haupte; sie sang, wie nur ein Engel Gottes zu singen vermag, sie trat so weit vor, wie sie nur konnte; sie lächelte, wie nur Johanna zu lächeln vermochte; sie blickte gerade auf Knut herab. Der arme Knut ergriff die Hand des Meisters, indem er laut: „Johanna!“ rief; doch kein andrer hörte es, die Musik übertönte alles, nur der Meister nickte mit dem Kopf dazu. – „Ja wohl, sie heißt Johanna!“ – und dabei zog er ein gedrucktes Blatt hervor und zeigte Knut ihren Namen – der volle Namen stand hier zu lesen. Nein, das war kein Traum!

Alle Menschen jubelten und warfen ihr Blumen und Kränze zu, und jedesmal, wenn sie abging, riefen sie aufs neue; sie ging und kam immer wieder. Auf der straße scharten sich die Menschen um ihren Wagen und zogen diesen davon. Knut war in der vordersten Reihe und jubelte am fröhlichsten mit; und als der Wagen vor ihrem prächtig erleuchteten Hause hielt, stand Knut an der Wagentür – und diese sprang auf, sie trat heraus, die Lichtstrahlen fielen auf ihr liebes Antlitz, und sie lächelte und bedankte sich freundlich und mild, und war tief gerührt; Knut blickte ihr gerade ins Gesicht und auch sie blickte ihm ins Gesicht – aber sie kannte ihn nicht. Ein Mann, auf dessen Brust ein Stern strahlte, reichte ihr den Arm – die beiden seien verlobt, sagte man. Darauf ging Knut nach Hause und schnürte sein Ränzel; er wollte, er mußte nach der Heimat zurück, zum Flieder – und Weidenbaum – ach, unter den Weidenbaum! In einer Stunde kann ein ganzes Menschenleben durchlaufen. Das alte Ehepaar bat ihn zu bleiben; aber Worte vermochten ihn nicht, zurückzuhalten. Vergeblich machte man ihn auf den Winter aufmerksam, sagte ihm, daß der Schnee schon in den Bergen gefallen sei; – in der Spur des langsam fahrenden Wagens, dem man doch den Weg bahnen müsse, meinte er, mit dem Ränzel auf seinem Rücken, gestützt auf seinen Stab, dahinschreiten zu können.

Er schritt auf die Berge zu, schritt sie hinauf, hinab; er war entkräftet und er erblickte noch immer kein Städtchen, kein Haus; er schritt gen Norden. Die Sterne blinkten über ihm, die Füße schwankten ihm, es schwindelte ihm; tief im Tale blinkten gleichfalls Sterne, es war, als sei der Himmel auch unter ihm; er fühlte sich krank; die Sterne dort unten vermehrten sich fortwährend und strahlten immer heller, sie bewegten sich hin und her. Es war ein kleines Städtchen, in dem die Lichter flimmerten, und als er das begriffen hatte, strengte er seine letzten Kräfte an und erreichte eine ärmliche Herberge. Die Nacht und auch den ganzen folgenden Tag blieb er dort, denn sein Körper bedurfte der Ruhe und der Pflege; es war Tauwetter; es regnete im Tale. Aber am andern Morgen ganz früh, trat ein Leiermann ein, er spielte eine Melodie aus der Heimat, und nun vermochte Knut nicht länger zu verweilen; er zog weiter gen Norden und ging Tage, viele Tage lang mit einer Hast, als gelte es in die Heimat zu gelangen, bevor dort alle gestorben seien; aber zu niemanden sprach er von seiner Sehnsucht, niemand hätte an seines Herzens Kummer, den tiefsten, den man haben kann, geglaubt; ein solcher Kummer ist nicht für die Welt, er ist nicht unterhaltend, nicht einmal für Freunde. Fremd wanderte er durch die fremden Länder nach Hause, gen Norden!

Es war Abend: er ging auf der offenen Landstraße; der Frost begann, sich geltend zu machen. Das Land selbst wurde immer ebener, immer mehr Wiese und Feld sah er. An der Straße stand ein großer Weidenbaum; alles sah ganz heimatlich aus. Er setzte sich unter den Baum, er fühlte sich sehr ermüdet; sein Kopf neigte sich, seine Augen schlossen sich zur Ruhe, aber er empfand doch, wie der Weidenbaum seine Zweige über ihn ausstreckte; der Baum schien ein alter, mächtiger Mann zu sein. Es war der Weidenvater selbst, der ihn auf seine Arme hob und ihn, den müden Sohn, zurück in das Heimatland, an den offenen, bleichen Strand, nach Kjöge, in den Garten seiner Kindheit trug.
Ja, es war der Weidenbaum selbst von Kjöge, der in die Welt gewandert war, um ihn zu suchen; und jetzt hatte er ihn gefunden und in den kleinen Garten am Bache zurückgeführt, und hier stand Johanna in ihrer Pracht mit der goldenen Krone auf dem Haupte, wie er sie zuletzt gesehen, und rief ihm ein: „Willkommen!“ zu.

Vor ihm standen zwei sonderbare Gestalten, wenn sie auch viel menschlicher als in seiner Kindheit aussahen; auch sie hatten sich verändert: es waren die zwei Pfefferkuchen, der Mann und das Frauenzimmer; sie kehrten ihm ihre Vorderseite zu und sahen recht gut aus.
„Wir danken dir!“ sagten sie zu Knut; „du hast uns die Zungen gelöst, daß man frei seine Gedanken aussprechen solle, sonst käme nichts dabei heraus, und jetzt ist etwas dabei herausgekommen: wir sind verlobt!“ Dann gingen sie Hand in Hand durch die Straßen Kjöges und sahen auch von der Kehrseite sehr anständig aus, es war nichts an ihnen auszusetzen.
Sie schritten gerade auf die Kirche zu, und Knut und Johanna folgten; auch sie gingen Hand in Hand, und die Kirche stand da wie immer mit ihren roten Mauern, umrankt von grünem Efeu, und die große Tür der Kirche flog nach beiden Seiten auf, die Orgel brauste, und sie schritten den breiten Hauptgang der Kirche entlang. „Die Herrschaften zuerst!“ sagten die Pfefferkuchenbrautleute und machten Knut und Johanna Platz, und diese knieten am Altare nieder; sie beugte ihr Haupt über sein Antlitz, und eiskalte Tränen entfielen ihren Augen – es war das Eis. das von ihrem Herzen schmolz – durch seine starke Liebe.
Die Tränen fielen auf seine brennenden Wangen, – und – er erwachte davon und saß unter dem alten Weidenbaume im fremden Lande, an dem winterkalten Abend; aus den Wolken fiel eisiger Graupelschnee herab und peitschte sein Gesicht,
„Das war die schönste Stunde meines Lebens!“ sagte er, – „und sie war – wie ein Traum! Gott, laß mich noch einmal so träumen!“ – Er schloß die Augen aufs neue, er schlief – er träumte.
Gegen Morgen fiel Schnee, der jagte vor dem Winde über ihn hin, er aber schlief. – Dorfleute gingen zur Kirche – an der Landstraße saß ein Handwerksbursch; er war tot, erfroren – unter dem Weidenbaume.

Quelle: Hans Christian Andersen

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