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Märchenbasar

Vilfridur Völufegri

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Auf einem Hofe wohnten einmal Eheleute; es ist nicht bekannt, wie der Mann hieß; der Name des Weibes aber war Vala. Diese war eine schöne, jedoch böse Frau; das Ehepaar besaß eine Tochter, welche Vilfridur hieß, und zur Zeit unserer Erzählung vierzehn Jahre alt war; weil sie hübscher erschien als ihre Mutter, erhielt sie den Zunamen Völufegri (d.h. die schöner ist als Vala). Dies kränkte die Mutter und sie legte daher Haß auf ihre Tochter.
Sie dachte lange darüber nach, wie sie dieselbe aus dem Wege schaffen könnte. In dieser Absicht führte sie eines Tages das Mädchen in den Wald hinaus und verließ es; dasselbe fürchtete, daß ein wildes Thier es zerreißen würde, und irrte den ganzen Tag rathlos im Walde umher; als es aber Abend wurde, setzte es sich müde und erschöpft neben einem Steine nieder.
Als Vilfridur eine kurze Weile hier gesessen hatte, kamen zwei Zwerge aus einem Felsen hervor und fragten sie, warum sie hieher gekommen sei. Sie erzählte ihnen die ganze Wahrheit und die Zwerge sagten hierauf, es sei ihnen lieb, dies zu wissen. Sodann erklärten sie ihr, daß der Felsen ihre Wohnung sei und forderten sie auf, mit ihnen hinein zu kommen. Vilfridur war darüber sehr erfreut und nahm die Einladung der Zwerge an. Diese aber erwiesen ihr alles Gute, was sie thun konnten.
Als sie sich zur Ruhe zu begeben dachten, sagten sie zu ihr, daß sie vielleicht keine guten Träume haben und daher im Schlafen unruhig sein würden. Sie baten Vilfridur recht eindringlich, sie nicht zu wecken, was immer auch vorgehen möge; und das Mädchen versprach dies auch.
Sie waren nun die Nacht hindurch im Schlafe sehr unruhig; Vilfridur aber weckte sie nicht. Des Morgens, als sie erwachten, dankten sie ihr dafür, daß sie sie nicht geweckt hatte, und sie daher ihren Traum genießen konnten. Sie sagten ihr sodann, sie möge darauf vorbereitet sein, daß während des Tages Jemand zu dem Felsen kommen werde; sie dürfe aber nicht öffnen, wenn man ihr auch noch so Schönes verspreche; denn wenn sie dies thue, würde es ihnen allen den Tod bringen.
Sie versprach es, und hierauf begaben sich die Zwerge fort, um Thiere zu jagen.
Nun wendet sich die Geschichte wieder zurück zur Vala. Dieselbe besaß einen Spiegel, welcher ihr auf ihre Fragen Antwort gab. Am Morgen, nachdem sie sich des Mädchens entledigt hatte, fragte sie ihren Spiegel:

»Sag Du nun, mein schöner Spiegel, mir:
Was treibt Vilfridur Völufegri, wie geht es ihr?«

Der Spiegel antwortete:

»Wenig wird ihr zu Schaden sein;
Zwei Zwerge pflegen sie in einem Stein.«

Da kam Vala ganz außer sich vor Aerger und Zorn, denn sie wollte um jeden Preis, daß ihre Tochter den Tod erleide.
Sie machte sich wieder auf den Weg und begab sich zu dem Felsen, in welchem die Zwerge wohnten. Als sie dahin kam, war der Stein verschlossen. Da sie aber wußte, daß Vilfridur darin sei, und da sie dieselbe nur durch eine kleine Spalte sehen konnte, begrüßte sie ihre Tochter zärtlich und bat sie mit vielen schönen Worten, aufzuschließen. Sie sagte, sie sei mit dem Ringe gekommen, welchen ihre Großmutter gehabt habe, und sie möchte um jeden Preis, daß sie ihn trage.
Vilfridur betrachtete den Ring durch die Spalte und da sie ihn schön fand, streckte sie einen Finger aus dem Felsen heraus. Vala steckte sogleich den Ring auf den Finger und sprach dabei die Worte:
»Ich bestimme und wirke den Zauber, daß der Ring Dich immer fester und fester umschließe, so daß Du davon den Tod erleiden mußt, wenn sich nicht ein Gold von gleicher Art findet, was wohl sobald nicht der Fall sein wird.«
Sowie nun der Ring auf die Hand gekommen war, begann diese anzuschwellen und Vilfridur bekam unerträgliche Schmerzen in ihrem Leibe.
Als es Abend geworden war, kamen die Zwerge heim, und sagten zu Vilfridur, daß sie schlecht gethan habe, von ihrem Gebote abzuweichen. Sie begannen sogleich in ihrem Golde zu suchen und fanden endlich ein Gold von derselben Art, aus welchem der Ring verfertigt war. Sowie dasselbe an den Ring gelegt wurde, sprang derselbe entzwei, und Vilfridur wurde wieder ganz gesund.
In der nächsten Nacht hatten die Zwerge unruhige Träume; Vilfridur weckte sie aber nicht, und sie waren darüber sehr erfreut. Des Morgens sagten sie ihr, sie möge nicht vergessen, daß sie nicht aufschließen dürfe und wenn auch ihre Mutter käme und ihr noch so Kostbares anbiete. Hierauf gingen sie wieder fort, wie am Tage vorher.
Abermals ging Vala zu ihrem Spiegel und sagte:

»Sag‘ du nun, mein goldgeschmückter Spiegel, mir:
Was treibt Vilfridur Völufegri, wie geht es ihr?«

Und sie erhielt wieder dieselbe Antwort:

»Wenig wird ihr zu Schaden sein;
Zwei Zwerge pflegen sie in einem Stein.«

Da wurde Vala überaus zornig; sie dachte eine Weile nach und machte sich dann auf’s Neue auf den Weg zu dem Felsen. Als sie dahin kam, fand sie denselben verschlossen; sie rief jedoch, wie früher, voll Zärtlichkeit ihre Tochter und bat sie, aufzuschließen. Sie sagte, daß sie ihr heute das kostbarste Kleinod bringe, welches sie ihr geben könne; es sei dies ein goldener Schuh, welchen ihre Urgroßmutter gehabt habe.
Vilfridur zeigte sich Anfangs sehr unwillig und wollte diesem Verlangen nicht nachkommen. Als aber Mittag vorüber war, ließ sie sich doch von ihrer Mutter so weit überreden, daß sie einen Fuß durch die Spalte hervorstreckte. Vala steckte hierauf den Schuh auf den Fuß und belegte ihn mit dem Zauber, daß er ihr den Tod bringen solle, wenn nicht ein Gold von gleicher Art auf denselben gelegt werde, welches nicht leicht gefunden werden könne. Hierauf ging sie wieder von dannen. Der Schuh aber begann Vilfridur stark zu drücken; der ganze Fuß schwoll an, so daß sie keine Ruhe hatte.
Als die Zwerge wieder heim kamen, waren sie sehr betrübt über die Unachtsamkeit der Vilfridur. Sie suchten in ihrem Schutte nach dem Golde und fanden es nach langer Mühe; sowie dasselbe auf dem Schuh gelegt wurde, zersprang derselbe.
Vilfridur war sehr ermattet von den Schmerzen; es wurde ihr aber doch besser bei der guten Hilfe und Pflege, welche die Zwerge ihr angedeihen ließen. Als Alles wieder in Ordnung gebracht war, begaben die Zwerge sich zur Ruhe.
Sie schliefen schnell ein und waren diesmal so unruhig im Schlafe, wie sie es früher noch nie gewesen waren. Sie warfen sich herum auf Ferse und Nacken, Vilfridur aber weckte sie nicht. Als sie des Morgens erwachten, sagten sie Vilfridur, daß ihre Mutter auch heute wieder kommen werde. Sie baten sie abermals lange und eindringlich, nicht aufzuschließen, was immer auch Vala thun und sagen möge; denn es würde ihnen höchst wahrscheinlich allen das Leben kosten. Hierauf gingen sie wieder fort auf ihre Jagden.
An diesem Morgen ging Vala wieder, wie früher, zu ihrem Spiegel, um ihn zu befragen, und sie sagte wie zuvor:

»Sag‘ Du nun, mein goldgeschmückter Spiegel, mir:
Was treibt Vilfridur Völufegri, wie geht es ihr?«

Der Spiegel antwortete:

»Wenig wird ihr zun Schaden sein,
Zwei Zwerge pflegen sie in einem Stein.«

Nun glaubte sie, daß man ihr durch Zauberkünste übel mitspiele. Sie wurde ganz wüthend und machte sich wieder auf den Weg zum Felsen.
Als sie bei demselben ankam, begann sie zu weinen und sagte, daß sie ihre Handlungsweise gegen die eigene Tochter sehr bereue, bat Vilfridur um Verzeihung und betheuerte, daß sie für all‘ dies Buße thun wolle. Sie komme daher mit dem kostbarsten Geschenk, um es ihr zu geben; es sei dies ein Gürtel, das größte Kleinod der Familie, welches von Geschlecht zu Geschlecht sich vererbt habe. Sie bat ihre »geliebte Tochter« doch aufzuschließen, damit sie sehen könne, wie gut der Gürtel ihr stehe und damit Vilfridur auch zur Einsicht komme, daß sie eine gute Mutter besitze.
Als bereits der Abend gekommen war, ließ sich Vilfridur auf das Bitten ihrer Mutter endlich doch herbei, aufzuschließen; Vala befestigte sogleich den Gürtel um den Leib der Vilfridur, sowie dies aber geschehen war, sagte sie:
»Ich bestimme und wirke den Zauber, daß dieser Gürtel so in deinen Leib eindringe, daß Du davon sterben mußt, und derselbe niemals locker werde, wenn nicht der König von Deutschland sich bemüht, ihn los zu machen.«
Vala glaubte nun ihre Sache gut verrichtet zu haben und kehrte nach Hause zurück. Vilfridur aber befand sich so schlecht, daß sie glaubte, die Schmerzen nicht ertragen zu können; denn der Gürtel drang wirklich immer tiefer in ihren Leib ein.
Als die Zwerge heim kamen, schien Vilfridur dem Tode näher zu sein als dem Leben. Sie konnte nur sagen, welchen Zauber ihr die Mutter angethan hatte. Die Zwerge wurden über all‘ dies sehr traurig. Sie beschlossen mit Vilfridur zum Meere hinab zu gehen und sie an einem schönen Platze am Strande nieder zu legen; das Mädchen war bereits so sehr von Kräften gekommen, daß es nicht mehr sprechen konnte.
Hierauf nahmen sie Pfeifen und begannen mit denselben zu blasen. Sie bliesen so stark, daß ein großes Unwetter entstand und das Meer sehr unruhig wurde. Dies thaten die Zwerge deshalb, weil sie wußten, daß der König von Deutschland nicht sehr weit vom Lande entfernt segelte. Dieser beschloß, als das Unwetter sich erhob, an’s Land zu fahren und ging in der Nähe der Stelle vor Anker, wo Vilfridur am Strande lag.
Als er an’s s Land ging, ward wieder schönes Wetter und er machte daher einen Spaziergang längs des Meerufers. Da fand er das schöne Mädchen, welches besinnungs- und sprachlos dalag. Er kam auf den Gedanken, daß es vielleicht nothwendig sei, etwas an ihr zu lockern und er versuchte deshalb den Gürtel loszumachen, was ihm auch bald gelang. Während er so eine Weile mit ihr beschäftigt war, kam sie wieder zum Leben zurück und erholte sich.
Als sie wieder sprechen konnte, fragte sie, wohin die Zwerge gekommen seien. Der König wußte jedoch nichts von ihnen. Auf das Bitten der Vilfridur ging er ein kurzes Stück längs des Strandes hin und fand die beiden Zwerge mit den Pfeifen am Munde todt am Boden liegen. Dieselben hatten offenbar das Blasen nicht ertragen können oder sich dabei zu sehr angestrengt. Vilfridur that es ungemein leid, daß die Zwerge todt sein sollten.
Der König lud sie hierauf ein, mit ihm zu ziehen, und sie nahm dieses Anerbieten freudig und dankbar an. Sie veranlaßte noch den König, in dem Felsen nach dem Golde und den übrigen Kleinodien der Zwerge zu suchen, und begab sich dann mit diesen Schätzen hinaus auf das Schiff des Königs. Dieser aber kehrte mit ihr zurück in sein Reich.
Nach kurzer Zeit schon begann der König einen solchen Gefallen an Vilfridur zu finden, daß er sie zum Weibe nehmen wollte und um sie warb. Vilfridur schien es, daß sie ihr eigenes Glück von sich weise, wenn sie diese Heirath ausschlage, sagte aber dennoch, sie stelle die eine Bedingung, daß der König niemals Jemanden bei sich Aufenthalt für den Winter gewähre, ohne sie vorher um ihren Rath und Willen zu befragen.
Der König erwiederte, es sei dies nichts als eine Bitte, und versprach es ihr gerne. Hierauf fand die Hochzeit statt.
Vala konnte ihre Tochter noch immer nicht vergessen und trat deshalb wieder vor den Spiegel und fragte:

»Sag‘ Du nun, mein goldgeschmückter Spiegel, mir:
Was treibt Vilfridur Völufegri, wie geht es ihr?«

Der Spiegel antwortete:

»Kein Ungemach sie weiterhin mehr fand;
Deutschlands Königin wird sie jetzt genannt.«

Darüber gerieth Vala ganz außer sich und wußte nunmehr nicht, was sie beginnen sollte. Endlich faßte sie den Entschluß, zu ihrem Manne zu gehen, und ihn zu bitten, daß er nach Deutschland reise, während des Winters sich bei dem Könige aufhalte und seiner Tochter auf jede Weise nach dem Leben trachte. Als Zeichen der vollbrachten That sollte er ihr eine Haarlocke aus ihrem Haare, die Zunge und etwas Blut mitbringen oder ihr schicken.
Der Mann ließ sich auch dazu herbei und machte sich auf den Weg nach Deutschland.
Von seiner Reise wird früher nichts berichtet, als bis er zur Halle des Königs kam. Er traf den König vor derselben an und bat ihn sogleich, daß er ihm erlauben möchte, sich während des Winters bei ihm aufzuhalten.
Der König aber sagte, daß er ihn nicht aufnehmen oder ihm nicht gestatten wolle, den Winter bei ihm zuzubringen, bevor er nicht mit der Königin gesprochen habe.
Der Mann, der sich Raudur (d.i. Rother) nannte, begann nun spöttisch zu lächeln und meinte, er wolle nicht bei ihm während des Winters zu Gaste sein, wenn er nicht über etwas so Geringes allein bestimmen könne; er werde lieber zu anderen Königen gehen und es in allen Ländern erzählen, daß er nicht den Muth habe, ihn aufzunehmen, ohne erst allerlei Umstände zu machen. Durch diese Drohung ließ sich der König einschüchtern und gewährte Raudur die Bitte.
Als der König bald darauf mit der Königin zu sprechen kam, sagte er ihr, daß er gegen ihre Bedingung und ihren Willen gehandelt habe, indem er einem Manne Winteraufenthalt bei sich gewährt habe.
Dies mißfiel der Königin sehr, sie sagte jedoch, daß es nichts helfe, darüber zu reden, nachdem dies einmal geschehen sei, und es müsse nun schon so bleiben; aber ihr Geist verkündige ihr, daß er dies einmal sehr bereuen werde.
Nach Verlauf einer kurzen Zeit wurde es offenbar, daß die Königin schwanger sei. Und als der Augenblick kam, da sie gebären sollte, ließ man es nicht an Hebammen fehlen. Die Geburt ging jedoch sehr schwer von Statten, so zwar, daß die Hebammen rathlos waren und sagten, sie könnten nicht helfen.
Der König wurde darüber sehr betrübt, was außer den Uebrigen auch Raudur bemerkte. Derselbe erbot sich, der Königin helfen zu wollen, und der König gab hiezu seine Einwilligung.
Als Raudur zur Königin hinein kam, hieß er die Hebammen und alle Anderen, welche zugegen waren, sich zu entfernen. Hierauf steckte er ihr einen Schlafdorn, brachte das Kind zur Welt, und es war ein Knabe. Rasch entschlossen schnitt sodann Raudur dem Knaben ein Ohr ab, steckte dasselbe der schlafenden Mutter in den Mund, öffnete ein Fenster und warf das Kind durch dasselbe hinaus.
Hierauf lief er zum Könige und bat ihn zu kommen. Als sie zur Königin kamen, stellte sich Raudur sehr erstaunt, daß das Kind verschwunden sei, und zeigte dem König das Ohr im Munde der Mutter, welche nun langsam erwachte und von Allem nichts wußte.
Der König war, wie man sich leicht denken kann, darüber sehr betrübt. Als aber Raudur erklärte, daß die Königin das Kind gegessen habe und daher zum Tode verurtheilt werden müsse, sagte der König, daß er sich dazu für keinen Fall herbeilassen werde, da er die Königin über Alles liebe.
Raudur schien es daher am Besten zu sein, die Sache nicht weiter zu betreiben; er gelangte bei dem Könige zu hohem Ansehen, weil er die Königin gerettet habe.
Die Königin wurde bald ein zweites Mal schwanger, und es geschah wieder genau sowie früher. Sie konnte nicht gebären, Raudur wurde gerufen, er schläferte die Königin ein, brachte das Kind zur Welt, welches ein Mädchen war, trennte ihm die kleine Zehe ab und warf es zum Fenster hinaus. Hierauf steckte er die Zehe der Königin in den Mund, rief den König herbei, erhob dieselbe Anklage wie früher, und verlangte, daß die Königin zum Tode verurtheilt werde. Seine Vorstellungen blieben abermals fruchtlos; denn der König sagte, daß er ohne die Königin nicht leben wolle, da er von unbesiegbarer Liebe zu ihr erfüllt sei.
Die Königin wurde zum dritten Male guter Hoffnung, und als sie gebären sollte, ereignete sich wieder genau dasselbe wie früher. Das Kind war ein Knabe, und Raudur schnitt demselben einen Finger ab, und steckte ihn der Königin in den Mund. Raudur sagte jetzt, es wäre offenbar, daß sie eine Menschenfresserin sei; der König hätte die größte Schande von ihr, und man dürfe sie nicht am Leben lassen.
Der König sagte, daß er es nicht über sich bringen könne, sie selbst zu verurtheilen; deshalb möge Raudur, der sein angesehenster Rathgeber geworden war, selbst das Urtheil über die Königin fällen. Sein Urtheil aber war, daß zwei Knechte sie in den Wald hinausführen und dort ermorden sollten; dazu gab auch der König seine Einwilligung. Raudur trug den Knechten auf, ihm eine Locke aus dem Haare der Königin, ihre Zunge und Blut in einem Horne als Zeichen der vollbrachten That zu bringen.
Obgleich die Knechte sich diesem Auftrage nicht widersetzten, gingen sie doch nur gezwungen an den Vollzug derselben; denn Vilfridur hatte sich die Liebe aller Leute erworben.
Als sie eine kurze Strecke weit in den Wald gekommen waren, berathschlagten sie untereinander, wie sie die Königin tödten sollten. Da gab ihnen diese selbst den Rath, sie sollten eine Locke aus ihrem Haare schneiden, eine Hündin, die ihnen gefolgt war, tödten, derselben die Zunge ausreißen, und etwas von ihrem Blut in das Horn fließen lassen, damit Raudur Alles sehen könne, was er von ihnen verlangt habe. Nachdem sie dies auch gethan hatten, ließen sie die Königin in den Wald entkommen, sie selbst aber kehrten zurück nach der Halle des Königs, wo sie gute Aufnahme fanden.
Als die Königin sich von den Knechten getrennt hatte, irrte sie den ganzen Tag im Walde umher und konnte nirgends Schutz finden, so daß sie zu fürchten begann, unter großen Leiden das Leben verlieren zu müssen.
Als es bereits ganz dunkel geworden war, kam sie zu einer Hütte, welche nicht allzuklein war und ein recht sauberes Aussehen hatte. Sie klopfte an die Thüre; ein sehr stattlich gebauter Mann öffnete dieselbe. Als er die Königin erblickte, sagte er, es komme selten vor, daß solche Gäste ihn besuchten, und hieß dieselbe willkommen.
Königin Vilfridur ging mit dem Manne in die Hütte, und sie sah hier, daß Alles sehr reinlich war und Wohlstand verrieth. Sie erhielt reichliche und gute Speise, um ihren Hunger zu stillen, und schlief in der Nacht in einem behaglichen und warmen Bette.
Als sie des Morgens das Bett verlassen hatte, brachte ihr der Mann Stoff und Nähzeug, und bat sie zum Zeitvertreib Kleider für Kinder zuzuschneiden und zu nähen; er selbst aber ging fort, um dasjenige herbeizuschaffen, was sie zum Leben benöthigten. So blieb die Königin lange Zeit bei dem Manne und war mit ihrem neuen Lose ganz zufrieden.
Bald nach dem Verschwinden der Königin wurde die Klage laut, daß von der Heerde des Königs viele Thiere stürben und abhanden kämen. Wie nun der König nach dem vermeintlichen Tode der Königin keine Freude am Leben mehr hatte und sich die Zeit mit Jagen zu vertreiben suchte, so schlug er eines Tages dem Raudur vor, mit ihm auf die Jagd zu gehen, um nachzuforschen, ob es nicht irgend ein Raubthier sei, welches der Heerde Schaden bringe.
Sie begaben sich ganz allein in den Wald und kamen so tief in denselben hinein, daß sie sich verirrten und nicht mehr wußten, welche Richtung sie einschlagen sollten, um wieder hinaus zu kommen. Sie gingen und liefen, fanden aber doch nicht aus dem Walde hinaus. Als der Tag sich zu neigen begann, waren sie erschöpft und müde; die Nacht brach an und der Hunger begann sie zu quälen; sie aber wußten sich nicht zu helfen.
Endlich glaubten sie in nicht allzuweiter Entfernung ein Haus zu erblicken, und sie gingen auf dasselbe zu. Sie hofften ganz sicher, daß dort Menschen wohnen würden, und waren darüber sehr erfreut. Als sie bei dem Hause ankamen, klopften sie an die Thür. Es dauerte nicht lange, so kam ein Mann heraus, der von großer und stattlicher Erscheinung war. Sie grüßten denselben, und er dankte ihnen. Hierauf baten sie ihn, er möchte ihnen erlauben, die Nacht über hier zu bleiben, da sie vor Müdigkeit ganz erschöpft seien.
Er sagte, dem Könige möge sein Haus und die Gastfreiheit, die er ihm angedeihen lassen könne, willkommen sein; Raudur aber erhalte Eintritt nur unter der Bedingung, daß er seine Lebensgeschichte erzähle. Dies versprach denn dieser auch.
Der Mann ließ sie sodann mit sich in das Haus kommen. Es war ein sehr reinliches, hübsches Haus, in welches sie eintraten; über dem Feuer befand sich ein Kessel, der mit Wasser angefüllt war. Der Mann bat den König, sich niederzusetzen, wo es ihm behage; für Raudur aber brachte er einen Stuhl und hieß ihn, sich auf denselben setzen. Hierauf steckte er Raudur einen großen Ring an die Hand und forderte ihn auf, sogleich seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Raudur begann dieselbe und fuhr in der Erzählung ohne Anstand fort, bis er zu seinem Vorgehen gegen die Königin kam; da aber wollte er von der Wahrheit abweichen und begann Lügen zu berichten und Manches auszulassen. Der Mann aber sagte:

»Drücke ihn, rother
Ring, und es sollen
Die Spitzen ihn stechen,
Spricht er nicht Wahres!«

Bei diesen Worten drückte ihn der Ring an der Hand, und die Spitzen stachen so fest aus dem Stuhle heraus, daß Raudur sich alle Mühe gab, nur Wahres zu berichten, denn dann gab der Ring nach und die Spitzen hörten auf zu stechen. Obgleich Raudur noch mehrere Male lügen wollte, konnte er es doch nicht; denn der Mann peinigte ihn auf die eben erzählte Art so lange, bis Raudur Alles sagte, wie es sich wirklich zugetragen hatte.
Während Raudur seine Lebensgeschichte erzählte, begann der König allgemach sehr unruhig zu werden.
Als Jener mit seiner Erzählung zu Ende war, fragte der Mann, was für ein Urtheil der König über Raudur fällen werde; denn es sei nun an den Tag gekommen, welchen Mann er bei sich aufgenommen, und wie sich dieser betragen habe.
Der König war vor Betrübniß und Zorn lange ganz außer sich und sagte, daß er über Raudur kein angemessenes Urtheil sprechen könne; denn gegen ein solches Verbrechen sei in seinen Gesetzen nicht vorgesehen.
Der Mann fragte, ob er seine Meinung sagen dürfe.
Der König antwortete, daß er dieselbe gerne anhören wolle.
Der Mann machte nun den Vorschlag, daß man Raudur sogleich mit dem Kopfe in den Kessel mit dem siedenden Wasser stecke, und der König gab seine Zustimmung.
Ohne lange zu zögern, ergriff der Mann Raudur und stieß ihn kopfüber in den Kessel, so daß er alsbald seinen Geist aufgab.
Der Mann bat hierauf den König, er möchte ihm in ein anderes Zimmer folgen, und hier sah der König ein ungemein schönes Weib.
Da sagte der Mann, die Frau, die er hier sehe, sei keine andere als seine Königin; da er aber nicht erwartet habe, sie zu sehen, habe er selbst sie auch nicht erkannt.
Da gab es große Freude des Wiedersehens. Hierauf ging der Mann in ein abseits gelegenes Zimmer und brachte aus demselben drei Kinder herbei, zwei Knaben und ein Mädchen. Da zeigte es sich, daß dies die Kinder des Königs waren; dem einen Knaben fehlte ein Ohr, dem andern ein Finger, und dem Mädchen fehlte eine kleine Zehe. Die Eltern waren vor Freude ganz sprachlos und verstanden nicht, wie dies Alles zusammenhänge.
Da erzählte der Mann, er sei in der Nähe der königlichen Halle gewesen, als Raudur die Kinder aus dem Fenster warf, und habe Sorge getragen, daß sie keinen Schaden erlitten.
Der König fragte den Mann, was er für all dies zum Lohne haben wolle.
Dieser antwortete, er wünsche sonst nichts, als daß sie ihre Tochter bei ihm ließen.
Obwohl es für ein junges Mädchen nicht angenehm war, bei ihm leben zu müssen, und der König und die Königin lieber jede andere Belohnung vorgezogen hätten, so sagten sie doch, daß dies selbstverständlich sei, wenn er es so wünsche.
Sie blieben hierauf noch so lange in der Hütte des Mannes, bis der König sich ausgeruht und seine Kräfte wieder erlangt hatte. Sodann kehrte derselbe mit der Königin und seinen beiden Söhnen heim nach der Halle, die Tochter aber blieb zurück bei ihrem Ziehvater.
Es vergingen mehrere Jahre, und die Königstochter ward zu einem erwachsenen Mädchen. Da bat einmal der Mann dasselbe, es möchte bei ihm in seinem Bette schlafen. Das Mädchen willigte gerne ein, denn es liebte ihn sehr. Als es aber des Morgens erwachte, sah es, daß ein schöner Königssohn neben ihm lag. Derselbe sagte, sie solle nicht thun, als ob sie ihn nicht kennete; er sei nur verzaubert gewesen.
Hierauf verließen sie die Hütte und begaben sich nach der Halle des Königs. Man braucht nicht darnach zu fragen, wie sie hier aufgenommen wurden, oder zu zweifeln, daß der König und die Königin sich glücklich fühlten, als sie erfuhren, wie Alles sich verhielt. Es wurde ein kostbares Gastgebot veranstaltet und die Hochzeit des jungen Paares gefeiert.
Der König und Vilfridur lebten lange in allem Glücke, und der Königssohn zog mit seinem Weibe heim in seine Heimat. Sie bekamen Kinder und allerhand Schätze, und jetzt ist das Märchen zu Ende.

[Island: Jos. Cal. Poestion: Isländische Märchen]

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