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Es war einmal ein frommer Einsiedler, der lebte auf einem hohen Berg, und nährte sich von Gras und Wurzeln, und brachte den ganzen Tag damit hin, daß er mit der Stirne im Staube Buße that. Nun begab es sich eines Tages, daß eine Gesellschaft von reichen Leuten aus der Stadt eine Lustfahrt nach demselben Berge machten, dort aßen und tranken, und sich einen vergnügten Tag bereiteten. Am Abend rief der Eine von ihnen seinen Diener und sprach zu ihm: »Sammle alle Löffel und Gabeln, die wir mitgenommen hatten, so wollen wir nach Hause zurückreiten.« Da sammelte der Diener alle die silbernen Geräthschaften, anstatt aber Alles einzupacken, steckte er den silbernen Vorlegelöffel in seine Tasche.
Dies Alles sah der Einsiedler; er sagte aber nichts, und die ganze Gesellschaft ritt wieder nach Hause. Unterwegs nun fiel es dem Einen ein, das Silberzeug nachzuzählen; da zeigte es sich, daß der silberne Vorlegelöffel fehle. »Was ist das?« frug er den Diener. »Hast du den Löffel vielleicht vergessen? Wir wollen zurückgehn und ihn suchen.«
Als sie nun an denselben Ort kamen, wo sie gegessen hatten, hatte sich da unterdessen ein armer Pilger eingefunden, der sammelte die übrig gebliebenen Brocken und verzehrte sie, um seinen Hunger zu stillen. »Du hast gewiß den Löffel gestohlen!« rief der Herr, dem der Löffel fehlte. »Ach, liebe Herren,« bat der Pilger, »ich habe ja nichts genommen als die Knochen und die Brocken. Untersucht mich, und Ihr werdet sehen, daß ich gewiß keinen Löffel genommen habe.« »Nichts da! Es kann Niemand sonst gewesen sein, denn außer dir ist Niemand hier gewesen!« Da schlugen sie ihn und mißhandelten ihn, banden ihn an den Schwanz eines Pferdes und schleppten ihn so mit sich fort. Das Alles hatte der Einsiedler gesehn, und in seinem Herzen begann er zu murren gegen die Gerechtigkeit Gottes. »Was?« dachte er, »geht es so auf Erden? Jener diebische Knecht sollte ungestraft davon kommen, und der unschuldige Pilger so arg mißhandelt werden? Gott ist ungerecht, daß er solches duldet, und darum will ich auch nicht länger Buße thun, sondern in die Welt zurückkehren und mein Leben genießen.« Wie gesagt, so gethan; der Einsiedler verließ seinen Berg, und that nicht mehr Buße, sondern zog aus, um sein Leben zu genießen.
Während er so dahin wanderte, begegnete ihm ein schöner, starker Jüngling, der frug ihn: »Wohin wandert ihr?« »Nach der und der Stadt.« »Dahin will ich ja auch gehn; darum wollen wir zusammen wandern.« Also wanderten sie zusammen, der Weg aber war weit und sie wurden bald müde. Da kam ein Maulthiertreiber desselbigen Weges daher. »He, guter Freund,« rief der Jüngling, »wollet ihr uns nicht erlauben, ein wenig auf euren Thieren zu reiten? wir sind so müde und matt.« »Von Herzen gern,« antwortete der Maulthiertreiber, »so weit unser Weg zusammen geht, könnt ihr meine Thiere benutzen.« Da setzten sie sich auf und ritten mit dem Maulthiertreiber weiter. Der Jüngling aber hatte bemerkt, daß in dem einen Quersack eine Menge Goldes steckte und ohne daß der Treiber es merkte, zog er eine Münze nach der andern heraus und warf sie auf die Straße. Der Einsiedler sah es wohl und dachte in seinem Herzen: »Wie? Während der arme Mann uns so freundlich einen Dienst erweist, thut er ihm so Böses an?« Weil aber der Jüngling ein starker Mann war, fürchtete er sich, irgend etwas zu sagen.
Nachdem sie eine gute Strecke weit geritten waren, sprach der Treiber: »Nun, meine Herren, kann ich euch nicht weiter mitnehmen.« Da stiegen sie ab, dankten ihm und wanderten zu Fuß weiter. Der Einsiedler aber sprach: »Wie konntest du ein so großes Unrecht thun und dem armen Mann, der uns eben eine Wohlthat erzeigte, sein Geld wegwerfen?« »Sei du still,« antwortete der Jüngling; »kümmere dich um deine Angelegenheiten und nicht um die meinigen.«
Am Abend kamen sie in eine Herberge, und da die Wirthin ihnen entgegentrat, sprachen sie: »Gute Frau, könnt ihr uns nicht für diese Nacht beherbergen? Wir haben aber kein Geld, es euch zu lohnen.« »O, sprechet doch nicht davon,« sprach die Wirthin, nahm sie gar freundlich auf, gab ihnen gutes Essen und Trinken und wies ihnen zuletzt ein Zimmer an, in dem für jeden von ihnen ein Bett stand. In demselben Zimmer aber stand auch eine Wiege, in der das kleine Kind der Wirthin schlief. Am Morgen, als sie sich zum Weiterwandern rüsteten, trat der Jüngling zu der Wiege und erdrosselte das arme kleine Kind. »O, du Bösewicht,« rief der Einsiedler, »während uns die gute Frau so viele Wohlthaten erweist, bringst du ihr Kind um!« »Sei doch still,« befahl der Jüngling »und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.« Da wanderten sie weiter, und der Einsiedler ging still neben dem Jüngling einher.
Auf einmal aber verwandelte sich der Jüngling in einen schönen leuchtenden Engel, der sprach zu dem Einsiedler: »Höre mich an, o Mensch, der du dich erkühnt hast, gegen Gottes Gerechtigkeit zu murren; ich bin ein Engel, von Gott gesandt, um dir die Augen zu öffnen. Jener Pilger, der unschuldig mißhandelt wurde, hatte einst, vor vielen Jahren an demselben Ort seinen Vater umgebracht, darum hat ihm Gott nun diese Strafe geschickt; denn Gott verzeiht bald, aber zu strafen zaudert er. Das Geld, das ich auf die Straße geworfen habe, gehörte nicht dem Maulthiertreiber, sondern er hatte es einem Andern entwendet; nach diesem Verlust wird er vielleicht in sich gehn und seine Sünde bereuen. Das Kind der Wirthin wäre ein Räuber und Mörder geworden, wenn es gelebt hätte. Die Mutter aber ist fromm und betet täglich zu Gott: ‚O, Herr, wenn mein Kind nicht heilig leben soll, so nehmt es lieber zu euch, so lange es unschuldig ist.‘ Darum hat Gott ihr Gebet erhört. Nun siehst du, daß Gottes Gerechtigkeit weiter sieht, als die der Menschen. Darum kehre in deine Einsiedelei zurück und thue Buße, ob dir dein Murren vergeben werden möge.« Als der Engel also gesprochen hatte, flog er in den Himmel; der Einsiedler aber kehrte auf seinen Berg zurück, that noch strengere Buße als bisher und starb als ein Heiliger.
Dies Alles sah der Einsiedler; er sagte aber nichts, und die ganze Gesellschaft ritt wieder nach Hause. Unterwegs nun fiel es dem Einen ein, das Silberzeug nachzuzählen; da zeigte es sich, daß der silberne Vorlegelöffel fehle. »Was ist das?« frug er den Diener. »Hast du den Löffel vielleicht vergessen? Wir wollen zurückgehn und ihn suchen.«
Als sie nun an denselben Ort kamen, wo sie gegessen hatten, hatte sich da unterdessen ein armer Pilger eingefunden, der sammelte die übrig gebliebenen Brocken und verzehrte sie, um seinen Hunger zu stillen. »Du hast gewiß den Löffel gestohlen!« rief der Herr, dem der Löffel fehlte. »Ach, liebe Herren,« bat der Pilger, »ich habe ja nichts genommen als die Knochen und die Brocken. Untersucht mich, und Ihr werdet sehen, daß ich gewiß keinen Löffel genommen habe.« »Nichts da! Es kann Niemand sonst gewesen sein, denn außer dir ist Niemand hier gewesen!« Da schlugen sie ihn und mißhandelten ihn, banden ihn an den Schwanz eines Pferdes und schleppten ihn so mit sich fort. Das Alles hatte der Einsiedler gesehn, und in seinem Herzen begann er zu murren gegen die Gerechtigkeit Gottes. »Was?« dachte er, »geht es so auf Erden? Jener diebische Knecht sollte ungestraft davon kommen, und der unschuldige Pilger so arg mißhandelt werden? Gott ist ungerecht, daß er solches duldet, und darum will ich auch nicht länger Buße thun, sondern in die Welt zurückkehren und mein Leben genießen.« Wie gesagt, so gethan; der Einsiedler verließ seinen Berg, und that nicht mehr Buße, sondern zog aus, um sein Leben zu genießen.
Während er so dahin wanderte, begegnete ihm ein schöner, starker Jüngling, der frug ihn: »Wohin wandert ihr?« »Nach der und der Stadt.« »Dahin will ich ja auch gehn; darum wollen wir zusammen wandern.« Also wanderten sie zusammen, der Weg aber war weit und sie wurden bald müde. Da kam ein Maulthiertreiber desselbigen Weges daher. »He, guter Freund,« rief der Jüngling, »wollet ihr uns nicht erlauben, ein wenig auf euren Thieren zu reiten? wir sind so müde und matt.« »Von Herzen gern,« antwortete der Maulthiertreiber, »so weit unser Weg zusammen geht, könnt ihr meine Thiere benutzen.« Da setzten sie sich auf und ritten mit dem Maulthiertreiber weiter. Der Jüngling aber hatte bemerkt, daß in dem einen Quersack eine Menge Goldes steckte und ohne daß der Treiber es merkte, zog er eine Münze nach der andern heraus und warf sie auf die Straße. Der Einsiedler sah es wohl und dachte in seinem Herzen: »Wie? Während der arme Mann uns so freundlich einen Dienst erweist, thut er ihm so Böses an?« Weil aber der Jüngling ein starker Mann war, fürchtete er sich, irgend etwas zu sagen.
Nachdem sie eine gute Strecke weit geritten waren, sprach der Treiber: »Nun, meine Herren, kann ich euch nicht weiter mitnehmen.« Da stiegen sie ab, dankten ihm und wanderten zu Fuß weiter. Der Einsiedler aber sprach: »Wie konntest du ein so großes Unrecht thun und dem armen Mann, der uns eben eine Wohlthat erzeigte, sein Geld wegwerfen?« »Sei du still,« antwortete der Jüngling; »kümmere dich um deine Angelegenheiten und nicht um die meinigen.«
Am Abend kamen sie in eine Herberge, und da die Wirthin ihnen entgegentrat, sprachen sie: »Gute Frau, könnt ihr uns nicht für diese Nacht beherbergen? Wir haben aber kein Geld, es euch zu lohnen.« »O, sprechet doch nicht davon,« sprach die Wirthin, nahm sie gar freundlich auf, gab ihnen gutes Essen und Trinken und wies ihnen zuletzt ein Zimmer an, in dem für jeden von ihnen ein Bett stand. In demselben Zimmer aber stand auch eine Wiege, in der das kleine Kind der Wirthin schlief. Am Morgen, als sie sich zum Weiterwandern rüsteten, trat der Jüngling zu der Wiege und erdrosselte das arme kleine Kind. »O, du Bösewicht,« rief der Einsiedler, »während uns die gute Frau so viele Wohlthaten erweist, bringst du ihr Kind um!« »Sei doch still,« befahl der Jüngling »und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.« Da wanderten sie weiter, und der Einsiedler ging still neben dem Jüngling einher.
Auf einmal aber verwandelte sich der Jüngling in einen schönen leuchtenden Engel, der sprach zu dem Einsiedler: »Höre mich an, o Mensch, der du dich erkühnt hast, gegen Gottes Gerechtigkeit zu murren; ich bin ein Engel, von Gott gesandt, um dir die Augen zu öffnen. Jener Pilger, der unschuldig mißhandelt wurde, hatte einst, vor vielen Jahren an demselben Ort seinen Vater umgebracht, darum hat ihm Gott nun diese Strafe geschickt; denn Gott verzeiht bald, aber zu strafen zaudert er. Das Geld, das ich auf die Straße geworfen habe, gehörte nicht dem Maulthiertreiber, sondern er hatte es einem Andern entwendet; nach diesem Verlust wird er vielleicht in sich gehn und seine Sünde bereuen. Das Kind der Wirthin wäre ein Räuber und Mörder geworden, wenn es gelebt hätte. Die Mutter aber ist fromm und betet täglich zu Gott: ‚O, Herr, wenn mein Kind nicht heilig leben soll, so nehmt es lieber zu euch, so lange es unschuldig ist.‘ Darum hat Gott ihr Gebet erhört. Nun siehst du, daß Gottes Gerechtigkeit weiter sieht, als die der Menschen. Darum kehre in deine Einsiedelei zurück und thue Buße, ob dir dein Murren vergeben werden möge.« Als der Engel also gesprochen hatte, flog er in den Himmel; der Einsiedler aber kehrte auf seinen Berg zurück, that noch strengere Buße als bisher und starb als ein Heiliger.
[Italien: Laura Gonzenbach: Sicilianische Märchen]