Es lebte einmal ein Schah, der einen einzigen Sohn hatte. Als der Prinz herangewachsen war und eines Tages mit seinen Gefährten auf die Jagd ritt, rief der Schah vierhundert Weise zusammen und befahl ihnen vorauszusagen, wen der Thronerbe wohl heiraten würde. Lange orakelten die Weisen mit Büchern und Bohnen. Wie lange sie auch herumrieten, sie konnten nicht voraussagen, wen das Schicksal für den Prinzen bestimmt hatte. Der Schah geriet in heftigen Zorn uns verkündete: „Wie viele Jahre füttere und kleide ich euch? Und ihr könnt nicht einmal wahrsagen, wen mein einziger Sohn heiraten wird! Noch vierzig Tage gebe ich euch Frist. Könnt ihr mir antworten, dann habt ihr Glück, könnt ihr es nicht, lasse ich euch allen die Köpfe abschlagen und eure Habe einziehen.“
Tag und Nacht sannen die weisen Männer nach, konnten aber nichts herausfinden. Die vierzig Tage vergingen, und der gefürchtete Tag brach an.*** Wieder versammelten sich die Weisen und entschieden: „Wollen wir nochmals das Buch befragen – vielleicht erfahren wir noch etwas!“ Doch das Buch half ihnen nicht. Sollen die Weisen sich abquälen, hört indessen von anderen Dingen!
In einer fernen Stadt lebte ein wahrsagender Bettler. Er hatte gehört, daß der Schah seine Weisen befragte. Deshalb war er in die Hauptstadt gekommen. Auf dem Basar erfuhr er, wo sich die vierhundert Weisen versammelt hatten, und entschloß sich, zu ihnen zu gehen. Als er hinkam, sah er die einen lachen, die anderen weinen. „Was geht hier vor?“ fragte er. Die Weisen antworteten: „Wir weinen, weil so viele weise Männer nicht herausbekommen können, wen der Prinz heiraten wird, und wir lachen vor lauter Scham, weil der Schah uns am Morgen hinrichten und unsere Habe rauben wird!“ Da meinte der wahrsagende Bettler: „Ich habe ein Zauberbuch. Soll ich es befragen?“ „Das wäre sehr gut.“ Der wahrsagende Bettler blickte in sein Buch und verkündete: „Der Sohn des Schahs wird eine Prinzessin heiraten. Sein Schicksal wird sich mit dem Schicksal der Tochter des Schahs im Morgenland verbinden.“ Die weisen Männer berieten miteinander und entschieden: „Am Morgen gehen wir alle zum Schah. Er wird uns fragen: ‚Habt ihr es erfahren?“ Und wir werden antworten: „Ja. Dieser Mensch wird Euch alles sagen.“ Der wahrsagende Bettler war einverstanden: „Gut, ihr könnt Euch auf mich berufen!“ Am Morgen gingen alle zum Schah. „Habt ihr es erfahren?“ wollte er wissen. „O Gipfel der Macht! Dieser Mann wird Euch alles erklären!“ Mit diesen Worten zeigten sie auf den wahrsagenden Bettler. Der Schah forderte ihn auf: „Also sprecht!“ Und der Bettler antwortete: „Gut, ich will es Euch sagen. Ihr seid der Schah vom Abendland. Die Gattin Eures Sohnes wird die Tochter des Schahs von Morgenland werden.“ Da erzürnte der Schah: „Der Mensch lebt siebzig bis achtzig. Vielleicht hundert Jahre. Für den Weg zum Morgenland würde er fünfhundert Jahre brauchen! Wenn ich der Schah vom Abendland bin – wie kann sich dann mein Sohn zu seinen Lebzeiten mit der Tochter des Schahs vom Morgenland verbinden? Du kannst nicht wahrsagen!“ Der Schah rief die Henkersknechte. Es erschienen ihrer zwei. Er zeigte auf den wahrsagenden Bettler und befahl:
„Ergreift ihn und richtet ihn hin!“ Zur rechten Seite des Schahs saß aber ein kluger Wesir. Er erhob sich und gab zu bedenken: „O erhabener Schah! Ich bitte Euch, das Leben dieses Mannes um eine Stunde zu verlängern. Soll er sein Orakel beweisen!“ „Gut, soll er es erweisen!“ stimmte der Schah zu. Nun fragte der kluge Wesir den wahrsagenden Bettler: „In wieviel Jahren wird deine Weissagung in Erfüllung gehen?“ Der Bettler blickte in sein Buch und erwiderte:„In fünf Jahren.“ Da verneigte sich der Wesir vor dem Schah und gab ihm den Rat: „Laßt ihn in den Kerker Sindan sperren! Fünf Jahre sind keine lange Frist. Sollte seine Weissagung nicht in Erfüllung gehen, können wir ihn hinrichten.“ Sofort packten die Henker den Bettler und warfen ihn in den Sindan. Lassen wir ihn vorläufig dort sitzen, hören wir von anderen Dingen!
Der Sohn des Schahs war mit zweihundert Dshigiten auf die Jagd gezogen. Einmal übernachteten sie am Fuße eines hohen Berges. Alle lagen im Schlaf, nur der Prinz blieb wach. Er machte sich ein Feuer und setzte sich daneben. Um Mitternacht sah er plötzlich ein Licht auf dem Bergesgipfel.
Es strahlte so hell wie eine Fackel.Verwundert stand er auf, schwang sich auf sein Pferd und ritt hinauf. Als er den Gipfel erreichte, sah er, daß das Licht aus einer großen Öffnung kam. Der Prinz kehrte zurück, weckte seine zweihundert Reiter und kehrte mit ihnen zu der Öffnung zurück. Es stellte sich heraus, daß sie sehr tief sein mußte. Der Prinz ließ alle Zügel, Riemen und Leder sammeln und aneinander knüpfen. Die Diener banden an ihnen einen Reiter fest und ließen ihn hinab. Die Öffnung war jedoch so tief, daß der Reiter nicht bis an den Grund gelangte. Man zog ihn wieder herauf und ließ einen anderen Dshigiten hinab, aber auch er erreichte den Grund nicht. So versuchte man es mit allen zweihundert Dshigiten. Aber alle Bemühungen waren vergeblich. Darauf ließ der Prinz allen Pferden die Schweife abschneiden und aus ihnen ein langes Seil winden. Dieses Seil band er sich um und befahl ihn hinabzulassen. Die Dshigiten gehorchten. In der Tiefe sah der Prinz, daß jemand auf dem Grunde auf und ab ging. Es gelang ihm, das Wesen zu ergreifen. Es war ein Mädchen. Es sprach kein Wort, sondern weinte nur. Der Prinz hüllte es in seinen Chalat und zog an dem Seil, wonach die Reiter den Prinzen und das Mädchen emporzogen. Der Prinz ritt mit dem Mädchen in die Stadt. Im Palast übergab er das Mädchen den Dienerinnen und befahl ihnen, es in jeder Weise zu hegen und zu pflegen. Sie führten das Mädchen in ein Zimmer, in dem es sofort taghell wurde. Die Frauen versorgten das Mädchen. Es wurde in prächtige Kleider gehüllt. Nach einiger Zeit, begann es mit ihnen zu sprechen.
Eines Tages kam der Prinz in das Zimmer des Mädchens, sah es an und verliebte sich von ganzem Herzen. Sofort ließ er seinen Vater, dem Schah melden: „Ich werde keine andere heiraten als dieses Mädchen, daß ich von der Jagd mitgebracht habe!“ Als der Schah von dem Entschluß seines Sohnes erfuhr, befahl er,***die Hörner zu blasen, auf Instrumenten zu spielen und befahl die Trommel zu rühren. Die Hochzeit des Prinzen mit dem Mädchen wurde mit aller Pracht gefeiert. Des Nachts fragte der Prinz seine junge Gemahlin: „Wie bist du in diesen Berg geraten? Wer hat dich dorthin gebracht?“ „Ich bin die Tochter des Schahs vom Morgenland“, berichtete die junge Frau. Als kleines Mädchen spielte ich eines Tages im Hofe. Da erschien ein riesiger Vogel, packte mich und flog mit mir davon. Er brachte mich in jenen Berg, ließ mich in die Öffnung hinab und pflegte mich dort. Im heißen Sommer fächelte er mir mit seinen Flügeln Kühlung zu, und im Winter schützte er mich unter seinen Flügeln vor der Kälte. So vergingen einige Sommer und Winter. Endlich seid Ihr gekommen und habt mich aus meiner Einsamkeit erlöst!“ Das alles erzählte der Prinz dem Schah. Als der Wesir es hörte, sagte er: „Eure Schwiegertochter ist also die Tochter des Schahs vom Morgenland. Laßt nun den wahrsagenden Bettler aus dem Sindan frei!“ Der Schah ließ den Gefängnisvorsteher kommen und befahl ihm, den Bettler zu holen. Man führte ihn herein und setzte ihn achtungsvoll auf den Ehrenplatz. Und nun erzähle, wie du von der Tochter des Schahs vom Morgenland Kunde erhalten hast!“ Da begann der Bettler: „Kein Mensch wäre imstande, zum Morgenland zu gelangen und dieses Mädchen zu holen. Allzu weit ist es entfernt. Aber einmal im Jahr fliegt der Zaubervogel Humajun vom Abendland zum Morgenland. Er hat das Mädchen zu diesem Berg gebracht. Mein Zauberbuch hat mir verraten, was mit der Tochter des Schahs vom Morgenland und deinem Sohn geschehen würde.“ Der Schah bedachte den wahrsagenden Bettler mit kostbaren Geschenken und ernannte ihn zum Hauptmann einer großen Stadt.
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Usbekisches Volksmärchen