Es war einmal ein Herrscher, der liebte es, wenn ihm einer was vorlog. Er stellte einen tiefen Teller voll Gold auf den Tisch und legte ein Schwert daneben. Wenn der Zar sagt, du lügst, Bruder – dann nimm das Gold; vergißt sich der Zar bei der Erzählung aber nicht und sagt er nicht, daß du lügst, muß dein Kopf herunter!
Ein alter Bauer, der sich ordentlich angetrunken hatte, beschloß zum Herrscher zu gehn und nicht soviel zu lügen, als die Wahrheit zu sagen und auf diese Art das Gold zu erlangen. Als er hinkam, gab es beim Zaren gerade ein großes Festmahl, und die Würdenträger hatten sich versammelt. Man meldete, daß ein Alter gekommen sei, bei ihrem Gelage zu lügen; der Herrscher freute sich sehr darüber. Es wurde befohlen, eine Schüssel mit Gold vollzuschütten und das Schwert daneben zu legen, und dann fing der Alte an, sein erstes Stückchen zu erzählen.
»Gestern fuhr ich hinaus, um das Feld fürs Sommergetreide zu pflügen; mein Pferd war schwach, schon früh spannte ich es aus. Da schwankte das Pferd hin und her und brach in zwei Hälften auseinander; das Vorderteil lief nach Hause, das Hinterteil blieb auf dem Felde und wieherte.« Da sagten die Würdenträger: »Der Bauer lügt!« Der Zar jedoch meinte: »Schlau ist der Bauer, bringt alles zustande.«
»Ich trieb das Hinterteil zum Vorderteil heran, nähte sie mit Bast zusammen und keilte sie mit einem Weidenpfahl fest; dann legte ich mich hin, um auszuruhen. Als ich erwachte, war die Weide auf meinem Pferde in die Höhe geschossen, aber nicht bloß etwa so hoch, sondern hinauf bis in den Himmel. Da kam es mir in den Sinn, an der Weide in den Himmel zu klettern.« Die Würdenträger sagten: »Der Bauer lügt! Kann denn ein Baum bis in den Himmel wachsen?« Aber der Herrscher meinte: »Schlau ist der Bauer, bei ihm ist alles möglich.«
»Und ich stieg hinauf in den Himmel …« – »Hast du auch den Herrgott dort gesehen?« fragten gleich die Großen des Reichs.
»Jawohl.« – »Was macht er denn dort?« – »Er spielt mit seinen Jüngern Karten.« Die Würdenträger meinten, daß der Bauer lüge, der Herrscher aber sagte: »Ihr könnt doch mit mir Karten spielen, da kann Gott es auch mit seinen Jüngern tun.« Die Großen jedoch erwiderten: »Das ist nicht wahr: der Herrgott gibt sich damit nicht ab.« Der Zar aber meinte, der Bauer sei schlau, bei ihm sei alles möglich.
»Als ich dort herumging, wurde es Zeit, das Pferd wieder anzuspannen; ich wollte auf die Erde hinuntersteigen, aber die Weide, die auf dem Pferde gewachsen war, war verdorrt und zusammengebrochen, und mein Vesperbrot mußte für die Vorübergehenden liegen bleiben. Ich ging aber im Himmel umher und sah, wie ein reicher Bauer seinen Hafer worfelte. Die Spreu aber flog bis zum Himmel hinauf, ich fing sie und setzte mich hin, um ein Seil zu drehen.« Da sagten die großen Herren: »Was lügt der Bauer: kann man denn aus Spreu Seile drehen?« Der Zar jedoch meinte: »Schlau ist der Bauer, bringt alles zustande.«
»Dann band ich dieses Seil am Himmel fest und ließ mich an ihm hinunter; doch ich kam nur bis auf hundert Werst zur Erde, nicht weiter, denn das Seil war zu kurz. Ich schnitt es aber oben ab und setzte es unten an.« Die Würdenträger riefen: »Lügen tut der Bauer! Wie kann man es oben anschneiden und unten ansetzen? Er wäre ja hinuntergefallen.« Der Zar aber meinte: »Schlau ist der Bauer, bringt alles zustande.«
»Dann kletterte ich weiter, doch der Strick war noch immer zu kurz, aber nicht mehr als um hundert Faden. Da glaubte ich abspringen zu können, war zu faul, das Seil nochmals abzuschneiden, fiel gerade in ein Roggenfeld hinein und stak nun bis zum Hals in der Erde, so daß ich nicht herauskriechen konnte. Da ging ich ins Dorf, holte einen Spaten und grub mich aus.« Die Großen sagten: »Der Bauer lügt: wie hat er sich denn freigemacht, wenn er bis zum Halse drinstak? und warum ist er denn ins Dorf nach dem Spaten gegangen? er brauchte ihn doch nicht; lügen tut er!« Der Zar aber meinte: »Schlau ist der Bauer, bringt alles zustande.«
Dann stieg ich in den Fluß, wusch mich und wanderte in ein weites Tal, wo ein Hirte seine Schafe weidete. Ich sagte zu ihm: ‚Guten Tag, lieber Schäfer!‘ Er aber antwortete: ‚Bin kein Schäfer, sondern bin des Zaren Vater‘ Da rief jedoch der Herrscher aus: »Du lügst, guter Freund: mein Vater hat keine Schafe gehütet!« – »Wer aber Lügen konnte sagen, Eure Majestät, der darf das Gold heimtragen.«
[Weißrußland: August von Löwis of Menar: Russische Volksmärchen]