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Märchenbasar

Wahrheit und Lüge

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Da war mal, weißt du, so eine Sache, ich sag dir’s zu deinem Besten. Da gerieten sich, nimm’s mir nicht übrigens nicht krumm, so, wie jetzt du und ich, zwei wie unseresgleichen
in die Haare, zwei Bäuerlein, beide arm wie Kirchenmäuse. Der eine lebte recht und schlecht, schlug sich mit Lug und Trug kümmerlich durch, war, weißt du, geschickt im Betrügen, und auch aufs Stehlen verstand er sich, der andere aber, hörst du, hielt es mit der Wahrheit und wollte von seiner Hände Arbeit leben. Über diese Sache kamen sie denn auch ins Streiten. Der eine sagte, es sei besser, mit der Lüge zu leben, der andere aber meinte, mit der Lüge könnte man nicht sein Leben hinbringen, es sei besser schlecht zu leben, aber mit der Wahrheit, So stritten sie und stritten, und keiner, weißt du, konnte den anderen überzeugen. Da gingen sie denn auf die Straße, mein Lieber. Gingen auf die Straße und beschlossen, drei Leute, die ihnen in den Weg kommen würden, zu fragen und zu hören, was die dazu sagten. So gingen sie und gingen, mein Lieber, und sahen – da pflügte ein Leibeigner. Da, weißt du, gingen sie auf ihn zu. Traten sie ihm und sprachen: „Gott helfe dir, Freund. Schlichte du unseren Streit:

„Wie lebt man besser auf der weiten Welt – mit der Wahrheit oder mit der Lüge?“
„Nein, hört mal, meine Lieben! Mit der Wahrheit kann man sein Leben nicht fristen, mit der Lüge kommt man weiter. So ist es auch bei uns: Immerzu, hört ihr, nehmen uns die Herren die Tage weg, und wir haben keine Zeit, für uns selbst zu arbeiten. Und weil man unfrei ist, stellt man sich, als ob einem etwas zugestoßen ist, als ob man sich, wißt ihr, eine Krankheit geholt hat. Derweil fährt man aber in den Wald nach Brennholz, und wo nicht am Tage, dann bei Nacht, wenn es verboten ist.“ „Nun, da hörts du’s, ich hab recht“, sprach der Unaufrichtige zum Wahrheitsliebenden. Da schritten sie wieder die Straße fürbaß – was würde ihnen wohl der zweite sagen? Sie gingen und gingen und sahen – ein Kaufmann kam zweispännig in einem gedeckten Wagen dahergefahren. Da traten sie zu ihm. Traten zu ihm und baten: „Halt’ mal ein Weilchen an, hörst du, und nimm uns nicht krumm, was wir dich fragen wollen.
Schlichte du unseren Streit, hörst du: Wie lebt man besser auf der Welt – mit der Wahrheit oder mit der Lüge?“

„Nein, hört dich, ihr Burschen! Mit der Wahrheit lebt es sich schwer, besser fährt man mit der Lüge. Man betrügt uns, und wir, hört ihr, betrügen sie auch.“ – „Nun, da hörst du’s, ich hab recht“, sprach der Unaufrichtige abermals zum Wahrheitsliebenden. So schritten sie wieder die Straße fürbaß – was würde wohl der dritte sagen? Sie gingen und gingen, da sahen – ein Pope kam ihnen entgegengefahren. Da gingen sie auf ihn zu. Traten zu ihm, weißt du, und baten: „Halt mal ein Weilchen an, Väterchen, schlichte du unseren Streit: Wie lebt man besser auf der Welt – mit der Wahrheit oder mit der Lüge?“ „Da fragt ihr mich was Rechtes. Mit der Lüge, das weiß doch jedes Kind. Was für eine Wahrheit gibt es heutzutage! Für die Wahrheit, hört ihr, kommst du nach Sibirien, ein Ränkeschmied bist du, wird man sagen. So ist es zum Beispiel ungelogen, bei mir: In meiner Gemeinde geht höchstens jeder zehnte zur Beichte, wir aber, das weiß doch jedes Kind, tragen alle ein. Dann haben auch wir es besser; manchmal halten wir nur einen kurzen Gottesdienst anstelle der Messe.“

„Nun, da hörst du’s“, sprach der Unaufrichtige zum Wahrheitsliebenden, „alle sagen, daß man mit der Lüge besser lebt.“ – „Nein, höre! Man muß gottgefällig leben, wie Gott es gebietet. Komme, was da wolle, aber mit der Lüge, hörst du, will ich nicht leben“, sprach der Wahrheitsliebende zum Unaufrichtigen. so schritten sie wieder die Straße fürbaß.
Sie gingen und gingen – der Unaufrichtige verstand es, sich bei jedermann lieb Kind zu machen, überall gibt man ihm zu essen, und er hatte Weizenkringel, der Wahrheitsliebende aber trank Wasser, arbeitete und bekam dafür etwas zu essen. Der Unaufrichtige aber machte sich nur immer lustig über ihn.

Einmal nun bat der Wahrheitsliebende den Unaufrichtigen um ein Stückchen Brot:
„Gib mir ein Stückchen Brot, hörst du!“„Und was gibst du mir dafür?“ fragte der Unaufrichtige. „Wenn du etwas willst, nimm, was ich habe“, sagte der Wahrheitsliebende.
„Laß mich dir ein Auge ausstechen!“ „Nun, so stich es aus“, gab er ihm zur Antwort. Da stach der Unaufrichtige dem Wahrheitsliebenden ein Auge aus. Stach es aus und gab ihm ein Stückchen Brot. Der Wahrheitsliebende, hörst du, ertrug es, nahm das Stückchen Brot, verzehrte es, und sie schritten weiter die Straße fürbaß.Sie gingen und gingen – und abermals bat der Wahrheitsliebende den Unaufrichtigen um ein Stückchen Brot. Da begann er ihn wieder auf mancherlei Art zu verspotten. „Laß mich dir auch das andere Auge ausstechen, hörst du, dann gebe ich dir ein Stückchen.“

„Ach, Bruderherz, hab Mitleid, ich werde ja blind“, bat der Wahrheitsliebende ihn flehentlich. „Nein, hörst du, dafür bist du ein Wahrheitsliebender, ich aber lebe von der
Lüge“, entgegnete ihm der Unaufrichtige. Was tun? Nun, es sollte wohl so sein.
„Da, stich mir auch das andere Auge aus, wenn du die Sünde nicht füchtest“, sprach der Wahrheitsliebende zum Unaufrichtigen. „Da, mein Lieber, stach er ihm auch das andere Auge aus. Stach es aus und gab ihm ein bißchen Brot. Gab ihm das Brot und ließ ihn, hörst du, auf der Straße zurück. „Da, soll ich dich vielleicht führen?“ „Nun, was konnte der Blinde tun, er aß, weißt du, das Stückchen Brot auf und machte sich, mit einem Stock tastend, langsam auf den Weg. Er ging und ging schlecht und recht, hörst du, von der Straße ab und wußte nicht, wohn er sich wenden sollte. Da begann er denn Gott zu bitten: „O Herr! Verlaß mich, deinen sündigen Knecht nicht!“ Er betete, hörst du, betete, und da vernahm er eine Stimme. Jemand sprach zu ihm: „Gehe nach rechts. Bist du nach rechts gegangen, kommst du zu einem Wald; bist du zu dem Wald gekommen, finde tastend den Pfad. Hast du, hörst du, den Pfad gefunden, geh ihn entlang.

Bist du den Pfad entlanggegangen, stößt du auf eine murmelnde Quelle. Bist du auf die murmelnde Quelle gestoßen, wasch dich mit dem Wasser daraus, trink von jenem Wasser und benetzte deine Augen damit. Hast du deine Augen damit benetzt, wirst du, hörst du, das Augenlicht wiedererlangen! Hast du dein Augenlicht wiedererlangt, geh quellaufwärts, und du wirst eine große Eiche erblicken. Hast du die große Eiche erblickt, nahe dich ihr und steige hinauf. Bist du hinaufgestiegen, warte die Nacht ab. Hast du, hörst du, die Nacht abgewartet, gib acht, was die bösen Geister unter dieser Erde sprechen werden. Sie fliegen, hörst du, zum Timmelplatz hierher.“ Mit Mühe und Not schleppte er sich bis zum Wald.. Schleppte sich in den Wald, irrte eine Weile darin umher und geriet irgendwie auf den Pfad. Er ging den Pfad entlang und gelangte zu der Quelle, weißt du, und wusch sich mit dem Wasser. Wusch sich mit dem Wasser, trank davon und benetzte seine Augen damit. Benetzte seine Augen und sah auf einmal wieder Gottes Welt – er hatte das Augenlicht wiedererlangt. Nachdem er so das Augenlicht wiedererlangt hatte, ging er, hörst du, quellaufwärts. Er ging und ging an jener Quelle entlang, da erblickte er eine große Eiche. Unter ihr war der Boden festgestampft.
Da stieg er auf jene Eiche. Stieg hinauf und wartete die Nacht ab. Da, hörst du, begannen von allen Seiten Teufel herbeizufliegen und unter jener Eiche zu versammeln.

Sie flogen und flogen herbei, und nun fingen sie zu erzählen an, wer wo gewesen war.
So sagte dann der eine Teufel: „Ich, hört ihr, war bei der und der Zarewna. Zehn Jahre peinige ich sie nun. Auf mancherlei Weise sucht man mich aus ihr zu vertreiben, aber niemand wird mich vertreiben können als allein der, hört ihr, der sich von dem und dem reichen Kaufmann das Bild der Smolensker Muttergottes verschafft, das bei ihm am Tor in einen Ikonenschrank eingesetzt ist.“ Am anderen Morgen nun,weißt du, als alle Teufel davongeflogen waren, stieg der Wahrheitsliebende von der Eiche herab. Stieg von der Eiche herab und machte sich auf, jenen Kaufmann zu suchen. Ersuchte und suchte und fand ihn mit Mühe und Not. Fand ihn und bat darum, für ihn arbeiten zu dürfen. „Wenigstens ein Jahr, hörst du, werde ich arbeiten, ich brauche nichts, gib mir nur das Bild der Muttergottes am Tor.“ Der Kaufmann, weißt du, war’s gern einverstanden und nahm ihn als Knecht in seinen Dienst. Da arbeitete er bei ihm ein volles Jahr aus Leibeskräften.

Als er ein Jahr gearbeitet hatte, bat er denn jene um jenes Bild. Da sagte der Kaufmann, hörst du: „Nun, mein Lieber, ich bin mit deiner Arbeit zufrieden, aber es tut mir leid um das Bild, nimm lieber Geld.“ – „Nein, hörst du, ich brauche kein Geld. gib mir das Bild, wie es ausgemacht war.“ – „nein, hörst du, ich gebe dir das Bild nicht. Arbeite noch ein Jahr, dann gebe ich es dir.“ Da, weißt du, arbeitete das wahrheitsliebende Bäuerlein noch ein Jahr.
Er kannte weder Tag noch Nacht, arbeitete nur immerfort, so fleißig war er, weißt du. So hatte er wieder ein Jahr gearbeitet und bat, weißt du, abermals um das Bild der Muttergottes vom Tor. Dem Kaufmann, hörst du, tat es wieder leid, ihn ziehen zu lassen und das Bild herzugeben. „Nein, hörst du, ich werde dich lieber mit klingender Münze belohnen, aber wenn du willst, so arbeite noch ein Jahr, dann gebe ich dir das Bild.“ So geschah es denn auch, wieder arbeitete er ein Jahr lang. Arbeitete noch mehr als zuvor, weißt du, daß sich alle verwunderten, wie fleißig er war. Da hatte er nun auch das dritte Jahr gearbeitet.

Hatte gearbeitet und bat, weißt du, abermals um das Bild vom Tor und reichte es ihm. „Da nimm das Bild und geh mit Gott.“ Er gab ihm zu essen und zu trinken und versah ihn, hörst du, auch mit ein wenig Geld. Da nahm er denn, weißt du, das Bild der Smolensker Muttergottes, Nahm es und hängte es sich um. Hängte es sich um und machte sich, hörst du, auf zu jenem Zaren, die Zarewna zu heilen, die den Teufel, den Peiniger, im Leib hatte. Er ging und ging und kam zu jenem Zaren. Trat vor den Zaren und sprach: „Ich, hörst du, kann Eure Zarewna heilen.“ So ließ man ihn denn in den Zarenpalast ein. Ließ ihn ein und zeigte ihm die betrübte Zarewna. Zeigte ihm die Zarewna, und da bat er, weißt du, um Wasser. Man brachte ihm Wasser, da bekreuzigte er sich. Bekreuzigte sich und verneigte sich dreimal zur Erde – er betete zu Gott, weißt du. Betete, hörst du, zu Gott, und dann nahm er das Bild der Muttergottes von seinem Hals. Nahm es von seinem Hals und senkte es unter Gebeten dreimal ins Wasser hinab. Senkte es hinab, weißt du, und hängte es der Zarewna um. Hängte es der Zarewna um und hieß sie, sich mit jenem Wasser zu waschen. Und kaum hatte sie, die Liebe, sich das Bild umgehängt und sich, weißt du, mit dem Wasser gewaschen, als auf einmal die Krankheit, das feindliche Böse, als Rauchwolke aus ihr entwich und davonflog. Davonflog, und sie, hörst du, war gesund wie früher. Darüber waren alle hocherfreut. Waren hocherfreut und wußten nicht, womit sie dieses Bäuerlein belohnen sollten. Land, hörst du, gaben sie ihm, und ein Erbgut versprachen sie ihm, und eine große Belohnung setzten sie ihm aus. „Nein, hörst du, ich brauche nichts.“ Da sprach die Zarewna zum Zaren: „Ich nehme ihn zum Mann.“

„Meinetwegen“, sagte der Zar. So, hörst du, ließen sie sich denn trauen. Ließen sich trauen, und unser Bäuerlein ging fortan in Zarengewändern umher, wohnte im Zarenpalast, aß und trank alles und tat gemeinsam mit ihnen. Da lebte er nun und gewöhnte sich an ihre Sitten und Gebräuche. Und als er sich an ihre Sitten und Gebräuche gewöhnt hatte, sprach er: „Laßt mich in die Heimat ziehen, ich habe, hört ihr, eine Mutter, eine arme, alte Frau.“ – „Gut“, sagte die Zarewna, seine Frau, „wir fahren zusammen.“ Da machte er sich denn zusammen mit der Zarewna auf den Weg. Pferde, Gewänder, Kalesche, Riemenzeug – alles war, wie es einem Zaren geziemt. Sie fuhren und fuhren und näherten sich, hörst du, seiner Heimat.

Näherten sich seiner Heimat, und da kam ihnen jener Unaufrichtige entgegen, der, weißt du, ihm hatte weismachen wollen, daß man mit der Lüge besser leben kann als mit der Wahrheit. Er kam ihnen entgegen, hörst du, da sprach der wahrheitsliebende Schwiegersohn des Zaren: „Sei gegrüßt, mein Lieber.“ Und er nannte ihn, hörst du, beim Namen. Der, weißt du, verwunderte sich, daß ein solcher vornehmer Herr ihn einer Kalesche ihn kannte, denn er erkannte ihn nicht. „Weißt du noch, du hast mir weismachen wollen, daß man mit der Lüge besser leben kann als mit der Wahrheit, und mir die Augen ausgestochen? Das bin ich!“ Da, weißt du, erschrak der Unaufrichtige und wußte nicht, was er tun sollte. „Nein, hab keine Angst, ich bin dir nicht gram, hörst du, sondern ich wünsche dir das gleiche Glück. So gehe denn in den Wald“, lehrte er ihn, weißt du, wie ihn Gott gelehrt hatte. „In jenem Wald wirst du einen Pfad erblicken. Geh jenen Pfad entlang, und du wirst zu einer murmelnden Quelle kommen. Lösche, hörst du, deinen Durst mit dem Wasser aus der Quelle und wasche dich. Wenn du dich gewaschen hast, geh quellaufwärts. Du wirst eine große Eiche erblicken, steig hinauf und bleibe die ganze Nacht darauf sitzen. Unter der Eiche, hörst du, ist ein Tummelplatz böser Geister, gib gut acht, und du wirst dein Glück machen.“

Da, weißt du, tat der Unaufrichtige auf das Geheiß des Wahrheitsliebenden das alles.
Er fand den Wald und jenen Pfad. Ging den Pfad entlang, hörst du, zur murmelnden Quelle. Er löschte seinen Durst, weißt du, und wusch sich. Wusch sich und ging quellaufwärts. Ging quellaufwärts und erblickte eine große Eiche, weißt du, und wartete die Nacht ab. Wartete die Nacht ab und hörte, wie von allen Seiten die bösen Geister zum Tummelplatz geflogen kamen.
Als sie nun herbeigeflogen waren, entdeckten sie ihn auf der Eiche, erkannten ihn an seinem Geruch. Erkannten ihn, weißt du, am Geruch und zerrissen ihn in kleine Stücke. So endete die Sache, hörst du, denn damit, daß der Wahrheitsliebende ein Schwiegersohnes des Zaren wurde, den Unaufrichtigen aber die Teufel zerrissen.
*
Quelle: Märchen aus dem Volke
Russland 1873

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