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Was Liebe vermag

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Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, da regierte der bitterarme König Engelbert über ein ebenso bitterarmes Volk. Sein Schloss lag an den Ufern eines großen Meeres. Einst so herrlich anzuschauen, bröckelte mittlerweile innen und außen der Putz von den Wänden. Von der ehemaligen großen Dienerschaft blieb ihm nur sein treuer, alter Kammerdiener.
„Ach, hätte ich doch nur auf meine geliebte Kunigunde gehört. Sie wusste gut zu regieren. Das hab ich nun von meinen endlosen Bällen, Lustbarkeiten und was weiß ich nicht noch alles. Was hat es mir gebracht, dass ich nach außen hin so großzügig war? Nein, wirkliche Freunde kann man sich nicht erkaufen. Hätte ich doch wenigstens eine neue Königin erwählt. Nicht einmal das habe ich zustande gebracht. Nun will mich keine mehr haben. Zu alt. Zu arm. Ach, Kunigunde, warum musstest du so zeitig von mir gehen!“
Mit sorgenerfülltem Gesicht saß Engelbert auf seinem Thron und starrte in den leeren Saal. Sein königliches Gewand verschliss zusehends, die Krone auf seinem Haupte funkelte schon lange nicht mehr. Sogar die Bittstellter blieben aus, da er wegen seines eigenen Elends häufig ungerecht urteilte. Lächelte er wirklich einmal, so galt dies seiner über alle Maßen schönen Tochter Helena.

Wie üblich saß er auf seinem Thron, doch keine Menschenseele ließ sich blicken, was ihm offen gestanden ganz recht war. Verzweifelt faltete er seine Hände und sprach: „Wenn mir doch nur irgendjemand einen Weg aus dieser argen Lage zeigen könnte.“
Kaum waren seine Worte verklungen, stand ein altes, buckliges Weib, gestützt auf einem reich verzierten Krückstock, vor ihm.
„He, Alte! Scher dich weg! Ich habe keine Lust, gute Ratschläge zu erteilen. Mir geht es selbst schlecht, wie du wohl kaum übersehen kannst“, grollte Engelbert gereizt von seinem Thron hinab.
„Gemach, gemach, Herr König! Ich kann dir aus deiner Not helfen“, krächzte das alte Weib und schaute ihn mit stechenden, schwarzen Augen herausfordernd an.
„Was kannst du schon ausrichten“, höhnte Engelbert.
„Alle Not findet ein Ende, wenn du deine schöne Tochter Helena dem Meereskönig Waterkaan zur Frau gibst. Er ist ungeheuer mächtig und reich. Als dein Schwiegersohn würde er das gesamte Reich in einen blühenden Garten verwandeln und du selbst könntest wieder in Würde regieren. Überleg es dir gut!“
„Was redest du! Waterkaan ist an die hundert Jahre alt. Ich kann doch meine Helena nicht so einem alten Manne zur Frau geben! Sie würde todunglücklich sein. Nein, nein, das Ganze ist absurd“, grollte der König und schüttelte den Kopf.
„Dann bleib in deiner Not. Wenn du kein Opfer bringen willst und dir deine Tochter über das Wohl des Volkes geht, gut, gut, dann kann dir keiner helfen“, schimpfte die Alte, tat eine abwehrende Handbewegung und humpelte langsam zur Tür des Thronsaales.
„Warte!“, rief Engelbert. „Sprichst du auch die Wahrheit? Hat der alte Wasserpanscher dich vielleicht geschickt?“
Das Weib drehte sich um. Ihre Augen blitzten, als sie sagte: „Nein, das hat er nicht! Er weiß von nichts. Aber ich bin sicher, wenn ich ihm so eine schöne Braut verschaffe, wird er mich und dich reich belohnen.“
„Es ist einzig und allein für mein Volk“, redete sich der König die ganze Sache schön. „Also gut! Ich werde dafür sorgen, dass das Fenster im Schlafgemach meiner Tochter um Mitternacht offen stehen wird.“
„Ist recht!“, grinste die Alte und lief plötzlich recht behände zur Tür hinaus.

Am Abend ging die Prinzessin wie immer zu Bett. Engelbert schlich sich um Mitternacht in ihr Gemach und öffnete das Fenster. Waterkaan musste auf der Lauer gelegen haben, denn flugs stand er mitten im Raum. Sein kräftiger Wuchs passte so gar nicht zu der sonst eher greisenhaften Erscheinung.
„Mein lieber Schwiegervater“, flüsterte er und umarmte dabei den König so heftig, dass er ihm beinahe die Rippen gebrochen hätte. „Sei gewiss, dass von nun an all deine Nöte und Sorgen wie vom Winde verweht sein werden.“
Ohne auch nur auf ein Wort von Engelbert zu warten, berührte Waterkaan mit einer weißen Seerose seine schlafende Braut, damit sie in seinem Reich leben konnte, hob das schöne Mädchen auf seine Arme und alsbald waren beide verschwunden.
„Ach, was habe ich nur getan! Mein einziges Kind habe ich wegen der Not, die ich selbst verschuldet habe, verraten und verkauft“, jammerte der vor Nässe triefende König und trottete zurück in den Thronsaal, wobei jeder Schritt patschte. Als er ihn betrat, staunte er nicht schlecht. Alles sah aus wie vor seinen Ausschweifungen. Das Leben war zurückgekehrt. Seine Dienerschaft lief wie eh und je geschäftig durch die Räume. Sein Kammerdiener stand mit trockenen Gewändern bereit und wischte danach die Wasserlachen auf.

Bald schon graute der Morgen. Nach einem ausgiebigen Frühstück beschloss Engelbert, sein Reich zu inspizieren. Erstaunt stellte er fest, dass die Alte nicht gelogen hatte. Überall blühte und grünte es, die Häuser seiner Untertanen und diese selbst waren nicht wiederzuerkennen. Eitel Frohsinn, wohin er auch schaute. Zufrieden lenkte er seinen Rappen heim.

Als Helena in Waterkaans nassem Reich ihre Augen aufschlug, schaute sie in ein altes, sehr faltiges Gesicht und erschrak. Doch der Meereskönig beruhigte sie mit seiner warmen, freundlichen Stimme und erklärte, was geschah und warum. Helena konnte und wollte nicht glauben, was der Meereskönig da erzählte. Aber es musste wohl so sein. Er zeigte ihr das Reich des Vaters in einer gläsernen Kugel, die sich auf einem silbernen Tablett drehte. Als sie mit eigenen Augen sah, dass es dem Väterchen und dem gesamten Volke gut ging, fügte sie sich in ihr Schicksal, doch von einer Hochzeit mit diesem Greis wollte sie nichts wissen.

Der Meereskönig gab sich alle erdenkliche Mühe, um die Prinzessin für sich zu gewinnen. Er wollte sie zu nichts zwingen, verbrachte viel Zeit mit ihr und erzählte die wundervollsten Geschichten. Mit großem Vergnügen lauschte sie seinen Worten. Tag für Tag schienen sich die tiefen Falten im Gesicht Waterkaans zu mindern. Auch seine runzligen Hände wurden allmählich glatter und die Schwimmhäute zwischen den Fingern kleiner.
Einmal fragte er, ob sie ihn möge, und wie sehr. Verwundert schaute sie ihn an und antwortete: „Ich mag dich wie meinen Vater. Du bist herzensgut und erzählst mir Geschichten, wie er es früher getan hat.“
Der Meereskönig nickte zufrieden.

Es verging abermals geraume Zeit, in der der Meereskönig mit Helena auf Perlensuche ging, Seepferdchen fütterte, die blinden Seegurken ärgerte und auf Haien ritt, wobei sie sich mit einem dieser Meeresräuber recht eng anfreundete und ihm wegen seiner Schnelligkeit den Namen Sturmbrauser gab.
Und wieder fragte Waterkaan eines Tages, ob Helena ihn möge, und wie sehr. Sie schaute ihn schelmisch an. „Ich mag dich wie einen Bruder, den ich leider nie hatte. Du unternimmst Dinge mit mir, die nur einem Spielgefährten einfallen können.“
Abermals nickte der Meereskönig zufrieden.

Ein Jahr lang beschenkte er sie. Auf immer neue Ideen kam er, um ihr Freude zu bereiten. Einmal waren es rote Rosen aus dem Garten ihres Vaters. Oh, an ihn hatte sie so oft denken müssen. Sehnsucht erfasste ihr Herz und sie sann: „Ob Waterkaan einen Besuch beim Vater zuließe? Sicher nicht! Und wenn ich fliehe? Nein, dann würden das gesamte Volk und der Vater wieder in Not und Elend leben müssen. Außerdem fühle ich mich doch recht wohl hier. Waterkaan ist so gut zu mir.“ Sie lächelte bei dem Gedanken an ihn. Ein bisher vollkommen ungekanntes Gefühl rieselte durch ihren Körper. „Was ist nur mit mir los?“
Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Um sie herum rumorte es plötzlich. Doch so schnell wie der Krach begann, verebbte er und die Prinzessin nahm den Faden ihres Gedankens wieder auf.

Der Abend brach herein. Es war ungewöhnlich, dass Waterkaan sie heut nicht bei Tisch erwartete. Vor einiger Zeit hatte sie ihn um seine Gesellschaft beim Abendessen gebeten, da er das einzige menschliche Wesen hier unten zu sein schien. Ihr kam auch seine Hässlichkeit nicht mehr so arg vor. Oder veränderte er sich gar? Sie war sich nicht sicher. Schließlich verbrachten beide täglich viele Stunden miteinander, wie sollte sie da erkennen, ob diese oder jene Falte in seinem Gesicht kleiner geworden oder gar verschwunden war.
Sie vernahm ein Geräusch und glaubte, dass er nun endlich käme. Doch zu ihrer Verwunderung schwebte eine ältere, aber sehr ansehnliche Frau, welche die Prinzessin noch nie zuvor gesehen hatte, in heller Aufregung auf sie zu, setzte sich und griff nach Helenas Hand. „Etwas Schlimmes ist geschehen, liebes Mädchen. Waterkaan ist von der Meereshexe Aquala entführt worden. Sie trägt Schuld an allem Unheil. Geh in ihr Reich und bringe ihn zurück.“
„Aber wie soll ich das denn anstellen? Aquala wird mir doch Waterkaan nicht einfach so herausgeben! Und überhaupt! Wer bist du eigentlich?“, fragte Helena völlig überrumpelt. „Ich habe dich noch nie zuvor gesehen!“
Die Frau schüttelte den Kopf und sagte mit milder Stimme: „Entschuldige! Ich habe dich ja regelrecht überfallen. Vorgestellt habe ich mich auch nicht, so etwas ist mir ja noch nie passiert! Ich bin Rosella, Waterkaans gute Fee. Seine Mutter starb bei der Geburt. Seither kümmere ich mich um ihn. In dir glaubte ich eine liebenswerte junge Frau für seine Erlösung gefunden zu haben. So überredete ich deinen Vater zu einer Art Handel, aber das weißt du ja!“
„Ich verstehe gar nichts! Wieso hat die Hexe den Meereskönig entführt? Was hab ich mit all dem zu tun?“ Helenas Augen sprühten vor innerem Aufruhr, oder mehr vor Unwissenheit, da Waterkaan nie etwas auch nur andeutungsweise von einer Verzauberung hatte verlauten lassen.
„Es ist nicht an der Zeit, Fragen zu stellen! Bitte, hilf ihm und damit auch dir!“ Rosella übergab der Prinzessin ein reich besticktes Seidenbeutelchen. „Hier drin ist eine meiner Wunderrosen. Sie spürt, wenn wahre Liebe keimt und hilft auch nur einem reinen, liebenden Herzen. Warte auf eine günstige Gelegenheit, öffne den Beutel und die Rose wird ihren Weg finden! Aquala wird dann nicht mehr fähig sein, unter Wasser zu leben. Wenn dir das gelingt, wird Waterkaan erlöst sein! Vertrau mir!“
Ehe Helena nach dem Weg fragen konnte, war Rosella verschwunden. Sie schaute sich ratlos um, da kam der Hai Sturmbrauser angewedelt. Oh ja, mit ihm würde sie den Weg zu Aquala finden. Er kannte jeden Schlupfwinkel und die schönsten Korallenriffe. Fröhlich stupste er sie zur Begrüßung und nickte mit dem Kopf, als wüsste er schon, was sie ihn fragen wollte. Ohne Worte saß sie auf und ab ging es in wildem Ritt, der vor dem großen, bedrohlich aussehenden Tor zum Reich der Wasserhexe endete. Als sie es mit der Hand berührte, schwangen dessen Flügel auf. Zwei riesige Seehunde stürzten auf Helena zu, wobei sie ihre spitzen Zähne bleckten. Doch die beiden waren für Sturmbrauser keine allzu große Herausforderung. Nach kurzem Kampf färbte sich das Wasser rot und wurde zusammen mit den verdammten Seelen der bösen Tiere in den Meeresboden hinabgezogen.
„Ach, sieh mal an, wer da kommt!“, donnerte eine Stimme. Die Hexe stand breitbeinig mit verschränkten Armen plötzlich wie aus dem Boden gestampft vor der Prinzessin und grinste ihr unverschämt ins Gesicht. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mir Waterkaan wegnehmen kannst? Was du auch anstellen oder sagen wirst, vergebens! Der Meereskönig gehört mir, verstehst du, mir ganz allein!“, schrie sie und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum.
„Das ist die Gelegenheit!“, durchzuckte es Helenas Kopf. Ihre Gedanken kreisten augenblicklich einzig um Watterkaan und die Prinzessin erkannte, dass sie den Meereskönig wahrhaft liebte. Ohne dass Aquala auch nur den leisesten Schimmer hatte, warum dieses Mädchen das Schleifenband seines Beutelchens aufzog, fuhr der Hexe im nächsten Augenblick eine schwarze Rose mit der Blüte mitten ins Gesicht. Aquala griff sich an den Hals, riss erschrocken die Augen auf, röchelte, sackte zusammen und löste sich in Schaum auf, der sofort vom Meeresboden aufgesogen wurde.

Plötzlich krachte es, als würde ein riesiges Seebeben losbrechen. Aber im Gegenteil! Das Tor umwanden Seerosen in den prächtigsten Farben. Unter dem Torbogen stand ein junger, schöner und starker Meereskönig. Und er stellte ihr zum dritten Male die Frage, ob sie ihn möge, und wie sehr.
Helena hauchte überglücklich: „Ja! Ich mag dich! Nein! Ich liebe dich so sehr, wie ich noch nie einen Menschen geliebt habe! Wenn du willst, werde ich nun deine Frau.“
„Nichts anderes wollte ich hören“, lachte Waterkaan. Endlich konnte er ihr alles erzählen. „Meine Liebste! Aquala wollte mich einst ehelichen. Doch ich hatte sie ausgelacht, sie wäre zu alt und hässlich für mich. Darüber war sie so erbost, dass sie einen bösen Zauber über mich legte mit den Worten: ’Sollst auch alt und hässlich sein! Nur ein Mädchen, dass vermag, dich trotz deiner Abscheulichkeit lieben zu lernen, wird Erlösung bringen.’ Dieses Mädchen bist du, meine Prinzessin!“
Sturmbrauser vollführte vor Freude einen Salto und brachte dann beide auf dem schnellsten Weg zurück in den Palast. Überglücklich schloss Rosella das Paar in ihre Arme.
„Eines brauchen wir noch“, lachte Waterkaan und zwinkerte seiner Braut zu. „Wir brauchen noch den Segen deines Vaters. Komm, besuchen wir ihn!“

Augenblicklich standen beide mitten im Thronsaal, gerade als der König einen Bittsteller abweisen wollte. Doch als er seine Tochter erblickte, war er so guter Laune, dass er den Bettler zu dessen Erstaunen reich beschenkte und den Gerichtstag für beendet erklärte. Mit wehendem Mantel lief er auf sein Kind zu und schloss es unter Tränen gleich einem Wasserspeier in seine alten Arme. „Oh, mein Liebes! Endlich bist du wieder zu Hause. Ich habe mir die ganze Zeit schlimme Vorwürfe gemacht, aber nun bist du wieder da und ich lass dich nie wieder fort.“ Immer noch flossen Tränen den Bart herab auf den Boden. Der Kammerdiener lief mit einem Tuch hinter ihm her und wischte alles trocken, damit niemand auf dem hochherrschaftlichen Nass ausrutschte.
„Ich habe jemanden mitgebracht! Sag nur, du erkennst ihn nicht! Es ist Waterkaan, mein Bräutigam! Du selbst hast mich ihm doch gegeben“, frotzelte Helena, als Engelbert vor lauter Staunen den Mund nicht mehr zubekam. Vor Schreck versiegte sogar sein Tränenfluss. Langsam kam er König zu sich, stammelte einige unverständliche Worte und schloss endlich den jungen Mann in seine Arme. Engelbert blieb wie beim ersten Mal fast die Luft weg, als Waterkaan die Nettigkeit seines Schwiegervaters erwiderte.

Nach drei Tagen wurde eine prächtige Hochzeit gefeiert, von der bis heut erzählt und geschwärmt wird. Natürlich war auch die Fee des Meereskönigs zu Gast. Engelbert konnte kaum glauben, dass sie die krummbucklige Alte von einst gewesen sein sollte und verliebte sich stehenden Fußes in die schöne Frau. Gemeinsam regierten sie noch viele Jahre zu Lande und wurden steinalt.
Waterkaan und Helena herrschten zu Wasser gerecht über ihre Untertanen. Eine reiche Kinderschar versüßte obendrein ihr herrliches, sehr langes Leben. Sturmbrauser war bei den Kleinen sehr beliebt und lebte fortan mit im Meerespalast.

Quelle: Doris Liese

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