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Weihnachten im Märchenwald

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Wie in jedem Jahr so war auch dieses Mal die erste Station des Weihnachtsmannes auf seiner langen Reise durch die Heilige Nacht der Märchenwald. Er hatte seinen Schlitten bis zum höchstzulässigen Gewicht beladen und die acht neuen Rentiere schienen besonders kräftige Exemplare zu sein. Fröhlich ein Liedchen pfeifend eilte er durch den schneebedeckten Wald, rief ein aufmunterndes „Schneller, meine Lieben“ zu seinem Gespann und betrachtete stolz das glitzernde Funkeln in den vereisten Bäumen, bis… ja, bis plötzlich auf seinem Weg ein umgestürzter Baumstamm auftauchte.
Da der Weihnachtsmann gerade abgelenkt war und die eine Hälfte seines Gespannes nach links, die andere jedoch nach rechts am Baumstamm vorbeiziehen wollte, hüpfte sein Schlitten über das Hindernis und knallte hart auf den Boden. Der Weihnachtsmann stürzte aus seinem Gefährt und landete mit einem schweren Plumps auf dem Stamm. Für einen kurzen Moment konnte er noch erkennen, wie die Rentiere mit seinem Schlitten im Wald verschwanden, dann wurde es schwarz um ihn.

Im Schloss des Märchenlandes war bereits alles in hellster Aufregung. Die Königin inspizierte mit ihrem Gefolge die geschmückten Weihnachtsbäume und mäkelte hier an einem zu krumm stehenden, bemängelte dort eine falsch hängende Kugel und schickte ihre Diener in alle Himmelsrichtungen, um noch mehr Plätzchen, Wein, Naschwerk und andere Spezereien für das Fest zu besorgen. Da klopfte es an der Schlosstür.
„Das wird doch nicht schon der Weihnachtsmann sein“, rief sie erstaunt und eilte zum großen Tor. Dort stand aber nur Horst, der ewig frierende Schneemann, der trotz dicker Handschuhe, einem Wollschal und mehrerer genossener Gläser Glühwein am ganzen Körper bibberte.
„Frau Königin, Frau Königin, es ist etwas ganz Furchtbares passiert“, rief er aufgeregt.
Die Königin gab sich gelassen: „Willst du mir schon wieder sagen, dass die Temperatur um ein Grad gesunken ist?“
„Nein, Frau Königin, es ist viel schlimmer“, antwortete Horst und deutete nach draußen. Dort tauchten die sieben Zwerge aus dem Wald auf und trugen den gläsernen Sarg zum Schlossberg hinauf.
„Hat sich unser Schneewittchen mal wieder einen Schönheitsschlaf gegönnt?“, rief die Königin verärgert, doch dann sah sie, wie schwer die Zwerge an ihrem Sarg zu tragen hatten.
„Wen bringen sie mir denn da?“, fragte sie.
„Es ist ja so schrecklich“, jammerte der Schneemann, „die Zwerge haben den Weihnachtsmann im Wald gefunden…“
„Ist er etwa tot?“, rief die Königin entsetzt.
„Nein, nein“, entgegnete Horst rasch, „sie haben ihn nur in ihren Glassarg gelegt, weil er dann leichter für sie zu tragen ist. Wir haben ihm doch schon im letzten Jahr geraten, er solle mehr auf sein Gewicht achten. Aber er muss ja immer von allen Süßigkeiten probieren, die er den Kindern schenkt – Qualitätskontrolle nennt er das.“
Die Königin schüttelte Horst so heftig, das ein Teil seines linken Armes zerbröselte und auf den Boden fiel.
„Nun sag mir endlich, was mit dem Weihnachtsmann ist!“
„Aua, Ihr tut mir ja weh“, schrie der Schneemann, dann fügte er rasch hinzu: „Ohnmächtig ist er, völlig weggetreten. Dem geht es auf jeden Fall besser als mir.“
Zum Beweis hustete er laut, doch sein klagendes „Diese Bronchitis werde ich in diesem Winter einfach nicht mehr los“ hörte die Königin schon nicht mehr. Rasch eilte sie den Zwergen entgegen.
„Schnell“, rief sie ihnen zu, „bringt ihn in meine warme Kammer, damit er sich erholen kann.“
Horst, der diese Gelegenheit zum Aufwärmen ebenfalls nutzen und mit den Zwergen gerade durch das Schlosstor huschen wollte, befahl sie: „Du sagst schnell den anderen im Märchenwald Bescheid. Sie sollen alle rasch ins Schloss kommen.“

Bald schon waren alle Bewohner um das Bett der Königin versammelt, in dem der Weihnachtsmann schnarchend und mit blassem Gesicht lag. „Wenn er doch nur aufwachen würde“, flüsterte die Königin besorgt. Die anderen nickten beifällig. In diesem Moment verstummte sein Schnarchen und er öffnete langsam die Augen.
„Wo bin ich?“, fragte er krächzend.
„Ihr seid im Märchenland, lieber Herr Weihnachtsmann“, antwortete die Königin erleichtert und so warmherzig, wie nur Königinnen sein können.
„Im Märchenland?“, röchelte der Weihnachtsmann verwundert. „Bitte, wie soll mein Name sein?“
„Weihnachtsmann!“, antwortete die Königin verblüfft.
„Weihnachtsmann?“, wiederholte er, „den Namen habe ich schon einmal gehört. Wer ist das?“
Die Königin war entsetzt. „Könnt Ihr Euch denn an gar nichts mehr erinnern?“
Der Weihnachtsmann dachte lange nach, dann schüttelte er müde den Kopf. „An überhaupt nichts“, antwortete er mit schwacher Stimme.
„Das ist ja furchtbar“, stöhnte die Königin und alle anderen im Raum stimmten mit ein: „Das ist ja furchtbar!“
Horst, der endlich ein warmes Plätzchen gefunden hatte, drängelte sich nach vorn, schaute dem Weihnachtsmann tieftraurig in dessen kristallblaue Augen und fragte zitternd: „Hast du etwa auch vergessen, dass ich mir einen großen Ofen zu Weihnachten gewünscht habe?“
Sofort stürmten auch die anderen zum Bett des Weihnachtsmannes und überschütteten ihn mit tausend Fragen nach ihren Geschenken. Der versuchte tapfer, jedem zuzuhören.
„Von Euren Geschenken weiß ich nichts. Aber seid ihr wirklich sicher, dass mein Name ‚Weihnachtsmann‘ ist?“
Die Königin hob die Hände und alle verstummten.
„Ihr seht doch, es hat gar keinen Sinn, er kann sich an nichts erinnern. Jetzt überlegt schnell, wie wir ihm helfen können.“
„Wir müssen erst einmal seinen Schlitten mit den Geschenken finden“, rief der Schneemann und jeder war von seinem Vorschlag begeistert. Rasch leerte sich der Raum und nur der Weihnachtsmann blieb allein zurück. Seine verzweifelte Frage „Nun sagt mir doch endlich, bin ich wirklich der Weihnachtsmann?“ verhallte unbeantwortet.

Alle Märchenwaldbewohner liefen aufgeregt im Land umher und suchten nach dem Schlitten. Fast alle, wie die Königin rasch feststellte, denn es fehlten Hänsel und Gretel. Sie ließ sich zu deren Häuschen bringen und klopfte energisch an ihre Tür. Zunächst war nichts zu hören. Als aber der Wolf, der sie begleitet hatte, laut schrie „Kommt raus oder ich fresse euch“, öffnete sich ganz vorsichtig die Pforte. Mit schokoladenverschmierten Mündern standen Hänsel und Gretel vor ihr und blickten schuldbewusst zu Boden.
„Habt ihr zufällig den Schlitten des Weihnachtsmannes gesehen?“, säuselte die Königin.
Hänsel wehrte trotzig ab: „Mir sage nix.“
„Nee, mir sage nix!“, schmatzte Gretel.
„Denkt doch an die armen Menschenkinder, die jetzt auf ihre Geschenke warten“, redete die Königin ihnen ins Gewissen.
„Mir sage trotzdem nix“, antworteten beide gleichzeitig.
Da erklang die Stimme des Wolfes, der sich inzwischen schon auf die Suche begeben hatte. „Ich habe den Schlitten gefunden, königliche Hoheit. Die kleinen Racker hatten ihn im Stall versteckt.“
„Gott sei Dank“, rief die Königin, „jetzt kann doch noch alles gut werden.“

Rasch lief sie zum Stall der Geschwister und beide stiegen auf den Schlitten. Der Wolf trieb mit lautem Knurren die reichlich verstörten Rentiere an.
„Sag mal, Wölfie, waren das nicht einmal acht Rentiere?“, fragte die Königin schmunzelnd und musterte dabei den Wolf.
„Keine Ahnung“, antwortete dieser und zog seinen prall gefüllten Bauch ein.
„Für uns im Märchenland kann ich die Weihnachtsbescherung ja übernehmen, aber was wird aus den armen Menschenkindern?“, wechselte die Königin das Thema.
„Das Pack hat keine Geschenke verdient“, knurrte der Wolf.
„Wölfie, das können wir doch nicht machen“, antwortete sie streng, „dir fällt doch bestimmt jemand ein, der die Aufgabe des Weihnachtsmannes übernehmen könnte.“
„Wie wäre es denn mit dem Osterhasen? Der kennt die Tour genau und hat im Moment eh nichts zu tun.“
„Wölfchen, du bist ein Schatz“, rief die Königin begeistert und drückte ihm einen feuchten Schmatzer auf die graubärtige Wange.
„Ich werde ihn bestimmt davon überzeugen können, dass er dieses Jahr ein zweites Mal zu den Menschen muss.“

So geschah es. Nach eifrigem Zureden erklärte sich der Osterhase bereit, als Aushilfskraft für den Weihnachtsmann einzuspringen.
„Allerdings nur, wenn meine acht Kinder in diesem Jahr ihre Geschenke vom Weihnachtsschlitten selber auswählen dürfen“, bat er, „denn der Weihnachtsmann hat ihnen bisher immer die falschen Dinge unter den Baum gelegt.“
„Selbstverständlich“, versprach die Königin und fügte hinzu: „Außerdem werde ich ihm ins Gewissen reden, dass er dich als Konkurrenten etwas netter behandelt, weil du ihm doch in diesem Jahr so selbstlos geholfen hast.“
Der Osterhase errötete vor Stolz: „Na ja, ein wenig besser könnte er mich schon behandeln, nur wegen meiner Kinder natürlich.“

Das Weihnachtsfest auf Erden war gerettet. Die Berichte von aufgeregten Kindern, sie hätten in der Weihnachtsnacht den Osterhasen auf einem fliegenden Schlitten gesehen, wurden von den Erwachsenen natürlich nicht geglaubt. Doch waren die meisten ein wenig verblüfft, als sie ihre Geschenke in einem Nest unter dem Christbaum vorfanden. Aber im allgemeinen Weihnachtstrubel war dies schnell wieder vergessen.

© 2007 Josef Herzog

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