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Märchenbasar

Wie aus dem dummen der schlaue Sebastian wird

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In einem Dorf nahe dem Waldrand lebt eine arme Frau mit ihrem Sohn Sebastian. Ein rechter Faulpelz ist er, der nichts als Bosheit und Unfug im Kopf hat. Die Mutter droht ihm oft: „Warte, eines Tages holt dich die Waldhexe.“

„Pah, die Waldhexe kann mir gar nichts“, ruft er übermütig zurück. „Vielleicht gibt es sie nicht einmal.“ Schon sind die Worte der Mutter vergessen.
Sebastian streicht auf den Wiesen umher, schlägt mit einem Stock nach Schmetterlingen oder köpft die bunten Blumen. Am Wegrand entdeckt er einen Igel, beugt sich zu ihm hinunter und schreit: „Na, du dummes Stacheltier.“ Hämisch grinsend versetzt er ihm einen kräftigen Fußtritt. Der Igel rollt sich blitzschnell zusammen und kullert unter einen Strauch. Sebastian beachtet ihn nicht weiter, flitzt auf den Waldrand zu und erspäht mit einem Mal ein kleines weißes Reh. „Ist das schön! Das muss ich fangen“, flüstert er und reibt sich vergnügt die Hände. Doch das Reh ist dem dummen Jungen immer eine Nasenlänge voraus. Die wilde Jagd dauert eine Stunde, plötzlich ist es verschwunden, wie in Luft aufgelöst. Sebastian steht mitten im tiefsten Wald. Die Bäume lassen kaum noch die Nachmittagssonne hindurch scheinen. Am Boden sind weder ein Weg noch irgendein Pfad zu erkennen. „Wo bin ich nur hingeraten?“, jammert er.
„Du bist zu mir gekommen“, hört er eine höhnisch krächzende Stimme hinter sich. Sebastian dreht sich hastig um. Vor ihm steht wirklich und wahrhaftig die Waldhexe, von der ihm die Mutter erzählt hat. Klein und dürr, stützt sie sich gebeugt auf einen Krückstock. Ihr graues Haar bedeckt ein schwarzes, zerlöchertes Wolltuch, so schwarz wie ihre kleinen stechenden Augen. Eine große, gebogene Nase mit einer dicken Warze darauf ragt aus einem faltigen Gesicht. Auf dem Rücken trägt sie einen großen Korb, angefüllt mit den verschiedensten Kräutern. Der dumme Junge bekommt zum ersten Mal mächtige Angst und möchte am liebsten davongelaufen. Aber wohin?
„Hab dich schon erwartet, Sebastian. Ich wusste, dass du eines Tages den Weg zu mir finden würdest, hi, hi, hi“, kichert sie unheimlich. „Komm mit!“
Unwillig folgt Sebastian der Hexe in ihre kleine Hütte. Ihm ist schrecklich mulmig zumute. Drinnen sieht es fast so aus wie zu Hause, nur dass auf der Ofenbank eine dicke schwarze Katze liegt, die ihn mit grünen Augen argwöhnisch anfunkelt.
„Hilf mir, den Korb vom Rücken herunterzuholen“, krächzt die Hexe. Sebastian tut vor Angst, was sie von ihm verlangt.
„Gut so, hi, hi, hi. Setz dich, hab mit dir zu reden!“
Sebastian schaut sich um, will aber nicht zu nahe bei der Alten sitzen und schubst die Katze grob von der Ofenbank.
„Miauuu“, kommt es kläglich. Die Hexe schüttelt den Kopf. Dann beginnt sie: „Du bist der faulste und dümmste Junge im ganzen Dorf. Aber damit nicht genug, du ärgerst auch gern die Tiere, nicht wahr?“
Sebastian wird es noch mulmiger. „Woher weiß sie denn das bloß alles?“, denkt er bange.
„Ich weiß alles über dich. Du wirst bei mir bleiben, drei Nächte und drei Tage. Wenn du dich änderst, kannst du wieder nach Hause. Wenn nicht, werde ich dich in ein Waldtier verwandeln, und du siehst deine Mutter nie wieder.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schließt sie die Tür fest zu, verschwindet in einer Kammer und legt sich zur Ruhe. Ergeben in sein Schicksal bettet er sich auf die harte Ofenbank und schläft hungrig ein.

Am nächsten Morgen wird Sebastian zeitig geweckt. Zum Frühstück gibt es trockenes, aber weiches Brot und frische Ziegenmilch. Dem Jungen schmeckt es ausgezeichnet, da er lange nichts gegessen hat. Danach setzt sich die Hexe auf einen Stuhl und beginnt aus Weidenruten einen Korb zu flechten. Ab und zu schaut sie auf Sebastian, der sich mit verschränkten Armen gelangweilt umsieht. Da er nichts hat, womit er sich beschäftigen kann, die Katze zum Ärgern auch nicht auf der Ofenbank liegt, nimmt er all seinen Mut zusammen und setzt sich zu ihr.
„Möchtest du das auch einmal probieren?“, fragt sie den Jungen freundlich.
„Das kann ich bestimmt nicht“, wehrt er ab. Aber sie drückt ihm den angefangenen Korb einfach in den Schoß und fängt sofort an, einen neuen zu flechten. Er schaut auf ihre knochigen, jedoch sehr geschickten Hände und versucht es selbst. Und siehe da, es geht. Es dauert nicht lange und er kann es ganz allein. Am Abend ist sein erster Korb fertig. Die Alte lobt ihn. Sebastian ist mächtig stolz. Es ist das erste Lob in seinem Leben. Schon bald duftet ein gutes Abendessen von der Küche her. Danach begeben sich beide zur Ruhe. Diesmal schläft er in einem richtigen Bett. Die Katze nimmt wieder ihren alten Platz ein, schielt ab und zu mißtrauisch zu Sebastian, fängt aber bald an zu schnurren.

Am zweiten Tag erwacht Sebastian schon recht früh. Leise schleicht er in die Kammer, aber die Alte scheint noch zu schlafen. So hässlich wie am ersten Tag kommt sie ihm gar nicht mehr vor.
„Ich werde schon die Ziege melken und Frühstück machen“, überlegt er, schnappt sich das Milcheimerchen und flitzt hinaus in den Stall. Die Hexe hat das wohl gemerkt und schmunzelt.
Nach kurzer Zeit kommt Sebastian mit der frischen Milch zurück, gießt sie in zwei Becher und legt das Brot auf den Tisch. Er füllt sogar etwas Milch in eine kleine Schüssel und reicht sie der Katze. Diese traut ihren Augen nicht. Als er sie auch noch streichelt und um Verzeihung bittet, dass er sie so gemein von ihrem Platz geschubst hat, beginnt sie zu schnurren und schleckt genüßlich die Milch. Dann weckt er die Alte. „Oh“, sagt sie, „du hast ja schon das Frühstück bereitet, das ist sehr lieb von dir, hi, hi, hi.“
Ihr komisches Lachen ängstigt Sebastian nicht mehr. „Sie ist eben alt und wunderlich.“
Nach dem Frühstück geht sie mit ihm in eine Kammer, angefüllt mit jeder Menge Ton und Lehm. In der Mitte stehen eine Drehscheibe und davor ein Hocker.
„Ich werde dich jetzt lehren Krüge, Vasen und anderen Hausrat herzustellen“, erklärt sie, nimmt etwas Ton, beginnt mit den Füßen putzmunter und keineswegs wie eine alte Frau die Scheibe zu drehen und formt mit beiden Händen einen Krug. Dieser wird nun in einem Brennofen gehärtet, an der Luft gekühlt und bunt bemalt. Das gefällt Sebastian. Er probiert es sofort selbst. Die Hexe verlässt mit ihrem „hi, hi, hi“ die Kammer und werkelt in der Küche.
Bis zum Abend hat Sebastian wunderschöne Krüge, Tassen und Teller geformt, gebrannt und bemalt. Dafür wird er sehr gelobt. Wieder ist Sebastian mächtig stolz.
„Komisch, Arbeit kann ja sogar Spaß machen, und am Ende wird man auch noch gelobt.“ Es macht ihm mehr und mehr Freude, nützliche Dinge zu tun. Zusehends wird aus dem dummen der schlaue Sebastian.

Am dritten Morgen gibt ihm die Hexe eine ganz andere Arbeit. „Geh in den Wald“, sagt sie. „Sieh nach den Tieren, ob sie sich in Fallen verfangen haben oder eines sogar verletzt ist.“
Sebastian steckt Bindfaden, ein paar Nägel und einen Apfel in die Hosentasche. „Wer weiß, wozu es gut ist“, denkt er und zieht los. Im Wald ist es herrlich friedlich. Er sieht die Natur jetzt mit ganz anderen Augen. Plötzlich entdeckt er etwas, das auf und ab hopst. Er geht näher heran und findet einen Hasen, der sich mit dem rechten Hinterlauf in einer Schlinge verfangen hat. Sebastian weiß nicht, wie er ihn anfassen soll. Da spricht er beruhigend auf ihn ein, entschuldigt sich, dass er die Kaninchen zu Hause immer erschreckt habe und siehe da, der Gefangene hockt sich friedlich hin. Nun kann ihn Sebastian befreien. Der Hase stellt sich auf die Hinterläufe, wackelt zum Dank mit seinen langen Ohren und hoppelt schnell davon.
Der Junge wandert weiter. Als nächstes hört er ein klägliches Gepiepse und entdeckt auf dem Boden einer uralten Eiche ein Vogelnest mit vier Vogelkindern. Den Sturz haben alle glücklich überlebt, doch wie sollen sie allein wieder hinauf kommen? Die Vogeleltern flattern aufgeregt um das Nest. Sebastian sucht ein breites, bauchiges Stück feste Rinde, einen handlichen Stein und klettert auf den Baum zur Niststelle. Oben angekommen legt er die Baumrinde darauf, zieht ein paar Nägel aus seiner Hosentasche und nagelt die Rinde fest. Dann holt er behutsam das Nest, bindet es vorsichtig auf die Rinde und rüttelt kurz daran. „Das hält sogar einen Strum aus“, stellt er zufrieden fest. Wieder auf dem Boden angekommen, fliegen die Vogeleltern gleich zu ihren Kindern. Dann umkreisen sie dankbar und fröhlich zwitschernd Sebastian. Er freut sich, dass er helfen konnte und will eigentlich schon den Rückweg einschlagen. Doch plötzlich hustet es hinter ihm . „Achu, achu, achu.“
Das kommt ihm bekannt vor. Natürlich, es ist der Igel. Dieser rollt sich vorsichtshalber gleich ein. Sebastian kniet sich vor ihm ins Gras und flüstert: „Hallo Igel! Du, es tut mir sehr leid, dass ich dir damals einen Fußtritt gegeben habe. Bitte verzeih mir.“ Er holt den Apfel aus der Hosentasche heraus, teilt ihn in zwei Hälften und legt eine vor den Igel hin. Dieser schnuppert. Seine schwarze Kugelnase bewegt sich ganz langsam in Richtung Apfel und wird immer länger. Das sieht so lustig aus, dass Sebastian lachen muss. Zögernd entrollt sich der Igel, zwinkert dem Jungen mit schwarzen Knopfaugen verzeihend zu und macht sich genüßlich über den Apfel her. Sebastian lässt sich die andere Hälfte gut schmecken, verabschiedet sich vom Igel und schlendert fröhlich zurück zur Hütte. Er erzählt der Alten, was er im Wald erlebt und wie er den Tieren geholfen hat.
„Gut“, sagt sie, „sehr gut.“
Es ist spät geworden und beide legen sich zur Ruhe.

Als Sebastian am Morgen erwacht, traut er seinen Augen nicht. Er liegt in seinem eigenen Bett.
„Also bin ich wieder zu Hause“, jubelt er, wird aber sofort nachdenklich. „Was hat die alte Frau zu mir gesagt? Wenn ich mich innerhalb von drei Nächten und drei Tagen ändern würde, dann darf ich wieder nach Hause.“ Oh, wie freut er sich und hüpft gleich aus dem Bett. War vielleicht alles nur ein Traum? Aber nein, neben dem Bett stehen der beste Korb und der schönste Krug. Arbeiten, die er bei der Hexe geschaffen hat. Für ein paar Sekunden gedenkt er der Alten und bedankt sich. Da ertönt auf einmal ihre kichernde Stimme: „Ist schon recht so, ist schon recht so, hi, hi, hi.“ Sebastian erschrickt nicht, sondern lächelt nur. Er geht in den Hof und sieht die Mutter bei den Kaninchen.
„Guten Morgen, Mutter“, ruft er ihr freundlich zu. Die Mutter, die so etwas nicht von ihm kennt, ist verdutzt, aber sehr froh.
„Guten Morgen Sebastian, wo hast du dich nur die letzten Tage herumgetrieben? Ich war in großer Sorge um dich.“
„Oh Mutter, das ist eine lange Geschichte. Jetzt werde ich dir erst einmal bei der Arbeit helfen.“
„Ob ihm vielleicht die Waldhexe begegnet ist?“, denkt sie.
Sebastian hilft beim Körbeflechten. Die Mutter staunt, wie geschickt er arbeitet. Auch Krüge und anderen Hausrat formt er, wie er es gelernt hat. Die Mutter ist überaus stolz und lobt ihn. Er aber lacht sie glücklich an. Für die Körbe und den irdenen Hausrat erhalten sie auf dem Markt gutes Geld und die Not hat für beide ein Ende.

Quelle: Doris Liese

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