Vor sehr langer Zeit, da lebte in Växbo ein Bauernjunge, dessen Aufgabe es war, das Vieh der Gemeinde zu hüten. Natürlich nahm er seine Aufgabe auch sehr ernst, aber er war auch ein Träumer. Das Vieh wurde damals in Schweden nicht nur auf Weiden gehütet, sondern durchaus auch im Wald. Wenn er nun so mit dem Vieh durch den Wald lief, dann beobachtete er auch das Moos auf den Steinen, den Wind in den Blättern und die Regentropfen in den Tannennadeln. So ging er denn jeden Tag mit dem Vieh los und wuchs nach und nach zu einem hübschen Burschen heran, der bald auch den ersten Mägden den Kopf zu verdrehen begann. Markus wurde er genannt, und die Magd, die sich in ihn verliebte, hieß Ullalena. Beide wurden recht schnell ein Paar und wollten auch bald heiraten. Ullalena war zwar jünger als Markus, in ihrer Art etwas reifer und sich auch bewusst, dass sie bei Markus nicht zögern durfte, da auch andere Frauen ein Auge auf ihn geworfen hatten.
Aber nicht nur die Frauen der Menschen fanden ihn interessant, auch die Bewohnerinnen des Waldes. Annefrid hatte sich ebenfalls in Markus verguckt. Jetzt sollte man wissen, dass Annefrid kein menschliches Wesen war, nein, sie war eine Skogsrå oder auch Huldra, um es verkürzt auszudrücken. Huldren haben allerdings ganz andere Umgangsformen, vor allen Dingen, was die Männer der Menschen betraf. Kurz: Wer ihnen gefiel, den nahmen sie sich. Männer können sich dem kaum widersetzen, da die Skogsrå die Macht und Kontrolle über den Mann übernehmen. Doch jetzt wird es kritisch: Konnte der Mann sie zufriedenstellen und befriedigen, dann war die Welt für sie in Ordnung. Oftmals entstanden Kinder aus den Beziehungen, die sie dann aufbauten und die auch lange hielten. Konnte der Mann sie allerdings nicht befriedigen, ja, dann war es um den Mann geschehen. Sie verwirrten seinen Geist so sehr, dass er niemals mehr aus dem Wald herausfand. Hier ist dann schon so mancher Mann verhungert. Allerdings gibt es noch einen Unterschied zwischen den Frauen der Menschen und den Huldren: Huldren hatten stattliche Schwänze, so wie sie bei Tieren vorkommen. Oftmals hatte der Schwanz die Form eines Kuhschwanzes, aber manchmal auch die Form und das Aussehen eines Fuchsschwanzes.
Als Markus jedenfalls an diesem Morgen mit seinen Kühen in den Wald lief, wurde er von Annefrid sehr genau beobachtet. Sie sah zu, wie er sich bei Ullalena mit einem Kuss verabschiedete und die Tiere durch das Dorfgatter auf die Weide und den sich anschließenden Wald trieb, und sie beobachtete genau, dass er den Tau und die Tautropfen in den Nadeln der Kiefern und Tannen betrachtete. Ein Lächeln ging über ihr Gesicht, jetzt wusste sie, dass sie gewonnen hatte. Beim nächsten Blick in die Tannenzweige und auf die Tautropfen wurde er auf einmal sehr müde – sie hatte die Macht über Markus übernommen. Der Blick auf die Tautropfen ließ seinen eigenen Willen schwinden. Er legte sich bald auf das nächste Mooskissen und schlief ein. Als er wieder wach wurde, blickte er in das hübsche Gesicht von Annefrid und erhielt sofort einen herzhaften Kuss. Allerdings stellte er bald fest, dass er seine Beine nicht bewegen konnte. Ein Blick nach unten ließ ihn erkennen, warum das so war. Seine Beine waren von einem Kuhschwanz umwickelt und konnten sich daher auch gar nicht bewegen. Annefrid hatte die Kontrolle über ihn übernommen: „Ich weiß schon, dass du eine Frau bei den Menschen hast“, lächelte sie ihn an, „ich will dich hier auch nicht gegen deinen Willen festhalten, natürlich kannst du zu ihr zurück, aber schenke mir eine Woche und wenn du dann willst, ja, dann kannst du gern zu ihr zurückkehren.“ Was sollte Markus da auch sagen, Annefrid konnte er nicht entkommen, warum aber auch? Das wussten auch die Frauen der Menschen, die in Växbo und der Umgebung lebten. Allen war bewusst, dass es in den Wäldern um Växbo nur so von Feen und Huldren wimmelte. Es wurde eine sehr kurzweilige Woche, aber war es wirklich nur eine Woche? Markus hatte irgendwann kein richtiges Zeitgefühl mehr. Eines Morgens meinte Annefrid nur: „Es wird Zeit, dass du zu deiner Annalena zurückkehrst, sonst geht es nicht mehr.“ Markus verstand zunächst gar nicht, was sie meinte, aber das sollte er recht bald erfahren. „Ich werde dir aber zum Abschied ein Geschenk machen, damit du mich nicht vergisst“, lächelte sie ihn an. Da führte sie ihn auf eine Waldwiese, die er noch nie gesehen hatte, obwohl er doch so oft in diesem Wald mit seiner Herde gewesen war.
Er verstand auf einmal, dass der Wald für die Huldren viel größer war, als er es je als Mensch wahrnehmen konnte. Die Wiese war voller Blumen, die er nicht kannte und auch nie zuvor gesehen hatte. „Suche dir Blumen aus, die dir gefallen – sie werden dann bei euch Menschen blühen.“ So ging Markus ziemlich ratlos über die Waldwiese. Schließlich pflückte er sich einen kleinen Strauß aus Blumen mit blauen Blüten und ging damit zu Annefrid zurück. „Nun gut, du hast nur eine einzige Blume gewählt, aber das ist schon in Ordnung so, glaub es mir, es war keine schlechte Wahl.“ Da bekam er einen langen Abschiedskuss von Annefrid, der ihn erneut in einen Schlaf versetzte. Als er wach wurde, hatte er den Blumenstrauß auf seiner Brust liegen, aber auch einen kleinen Stoffbeutel mit Blumensamen daneben.
So ging er dann nach Växbo zurück, aber hier bekam er den Schrecken seines Lebens. Er kannte die Menschen kaum wieder und sie ihn auch nicht. Die jungen Frauen blickten ihn interessiert an und die Frauen im mittleren Alter zuckten zusammen: „Bist du es, Markus? Du siehst genau so aus wie jemand, der einmal Markus hieß und vor zehn Jahren unser Vieh hüten sollte, aber nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt ist.“ Markus wurde ganz schwindelig, und er musste sich erst einmal hinsetzen: „Ja, ich bin dieser Markus.“ Danach erzählte er, was er alles im Wald erlebt hatte. Ulrika, eine Freundin von Ullalena, nickte nur und meinte: „Ullalena hat lange auf dich gewartet, danach ist sie zu ihrem Bruder nach Klässbol gezogen. Du kannst sie immer noch haben.“ Jetzt verstand Markus auch, was Annefrid damit meinte, dass er zurück müsse. Ja, es würde tatsächlich noch mit Ullalena passen, sie war damals vier Jahre jünger als er und jetzt ist sie sechs Jahre älter. So brach er am nächsten Morgen nach Klässbol auf, ließ aber bei Ulrika einen Teil der Samenkörner von Annefrid zurück. Es war allen im Dorf bekannt, dass diese Art der Feen- oder Huldrengeschenke nie zum Nachteil der Menschen waren. Die Samen von Annefrid wurden aber noch im selben Jahr in Klässbol als auch in Växbo ausgesät. Es waren die schönen blauen Blüten, die hier bald zu sehen waren. Das Leinen ist so bei den Menschen angekommen. Als sich Ulrika und Ullalena im Herbst in Klässbol trafen, war die Überraschung für beide groß: In Klässbol hatte man aus den reifen Samenkapseln der Pflanze ein schönes Öl gepresst, das später als Leinöl bekannt wurde und gute Eigenschaften für den Menschen hatte. In Växbo jedoch, da hatte man die langen Fasern der Pflanze erkannt und einen Faden daraus gesponnen, nachdem man die Fasern erst gebrochen hatte. Hier wurde der Flachs geboren. So ist es bis heute geblieben! Växbo liefert den Flachs für Schweden an, der auch in Klässbol auf Webstühlen zu schönen Leinenprodukten weiterverarbeitet wird.
Aus Annalena und Markus ist aber dann doch noch ein glückliches Paar und später auch eine Familie geworden, obwohl irgendwann Nachrichten aus dem mystischen Reich eintrafen, dass auch die Begegnung zwischen Annefrid und Markus wohl nicht ohne Folgen geblieben ist. Annalena und Markus leben heute schon lange nicht mehr, aber das Geschenk der Huldra, ja, das blüht immer noch mit seiner blauen Blüte für die Menschen und erinnert so auch an eine große Liebe einer Huldra zu einem Menschen.
von: Larissa Tjärnväg
aus: Kalle-Nisses Träume und Erzählungen – September – / Copyright 2016-2025 – WeyTeCon Förlag – Årjäng