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Wie der tapfere Wai das Meer besiegte

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Der tapfere Wai lebte ganz am Ende der Welt, in der Tundra am Meer. Das Meer aber war fürchterlich: groß, breit, hohe Wellen wanderten darüber hin, und unter den Wellen lebte allerhand Meeresgetier. Wenn die Jäger zum Fang hinausfuhren, um Fische oder Robben zu erlegen, tauchte ein Walroß, ein Seebär oder ein Wal auf, riß das Boot um und zog die Jäger in die Tiefe. Die Jäger fürchteten das Meer, aber wohin sollten sie sonst? Ihre Väter und Großväter hatten in der Tundra gelebt, den Weg in andere Gegenden kannten sie nicht.
Einmal kam der tapfere Wai ans Meer und setzte sich auf einen Stein. Es war ein klarer, stiller Morgen, am Himmel stand die warme Sonne. Sein alter Vater kam ebenfalls aus dem aus Häuten angefertigten Zelt, um seine alten Knochen in den Strahlen der Sonne zu wärmen. Wai sprach zu ihm: „Heute ist die See ruhig, ich will zur Jagd hinausfahren.“ — „Nein, Wai, tu es nicht“, antwortete der Vater, „unser Boot ist zu klein und zu schmal, damit kannst du nicht weil hinausfahren.“ — „Das macht nichts, Vater, ich fahre trotzdem aufs Meer“, sagte Wai. Er nahm Bogen und Pfeile, nahm auch das Messer, stieg ins Boot und fuhr aufs Meer hinaus. Das Wetter war schön. Wai war schon auf dem offenen Meer, die Küste war kaum noch zu sehen. Da die See so ruhig war, faßte er Mut und bat den Wind: „Wind, lieber Wind, blase stärker!“ Der Wind hörte das, blies aufs Meer, daß sich die Wellen hoben, das kleine Boot ins Schwanken geriet und von Woge zu Woge geschleudert wurde.
Drei Tage trieb das Boot übers Meer. Am vierten Tag flaute der Wind ab. Wai aber saß im Boot, hielt die Ruder fest gepackt und sang ein Lied. Das Meer beruhigte sich, rings um das Boot steckten Robben die Nasen aus dem Wasser. Wai erlegte eine Robbe, dann die zweite. Nach der zweiten schwammen zwei weitere heran. Insgesamt erlegte Wai zehn Robben, hob sie ins Boot, ruderte und freute sich. „Macht nichts, daß man mich zu Hause vermißt, dafür habe ich eine gute Beute gemacht.“ Das Meer schien seine Worte gehört zu haben. Plötzlich schnaufte es dicht am Boot. Wai sah hin und erblickte ein großes schwarzes Walroß. Es hatte nicht zwei Hauer, sondern vier. Das Walroß hakte sich mit den Hauern am Bootsrand fest und starrte Wai mit runden Augen an. Wai fühlte sich ungemütlich. „Zurück, rühr mich nicht an“, sprach Wai zum Walroß, „mit mir ist nicht gut spaßen.“ Das Walroß schien nicht zu verstehen, was gemeint war, legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Bootsrand und wollte das Boot zum Kentern bringen. Da packte der tapfere Wai die Hauer des Walrosses mit der einen Hand, mit der anderen schlug er mit aller Kraft auf den runden Kopf des Tieres ein. Da ließ das Walroß die Flossen aufs Wasser klatschen und ertrank.
Wai ruderte weiter und freute sich über seine erfolgreiche Jagd.
Aber da hörte er wieder ein Schnaufen neben dem Bool, sah sich um und erblickte einen riesigen Seebären, der auf das Boot zuschwamm. Sobald der Seebär das Boot erreichte, legte er die Flosse auf den Rand des Bootes, um es umzureiten, Wai ins Wasser fallen zu lassen und ihn zu fressen. Da sprach der tapfere Wai zum Seebären: „Zurück, Freundchen, reize mich nicht, mit mir ist nicht zu spaßen, ich habe eine lockere Hand.“ Der Seebär schien nicht zu verstehen. Er hielt das Boot gepackt, brüllte und wollte Wai anfallen. Kein Zureden half. Da sah Wai, dah ihm nichts anderes übrigblieb, und er packte den Bären mit der einen Hand am Ohr, mit der anderen versetzte er ihm einen Schlag auf den zottigen Kopf.
Ich muß möglichst schnell nach Hause zurück, denn sonst überfällt mich noch jemand, dachte Wai und legte sich aus allen Kräften in die Riemen.
Plötzlich wurde es finster, als hätte sich eine große Wolke vor die Sonne geschoben. Wai blickte hoch und sah im weißen Gischt einen gewaltigen schwarzen Wal vor sich, und nicht etwa einen einfachen Wal, sondern gewissermaßen den König aller Wale, mit einem Kamm auf dem Kopf. Der Wal starrte Wai in die Augen und brüllte mit menschlicher Stimme: „Jetzt isf’s um dich geschehen, Wai. Lebendig kommst du nicht davon. Weder dein Vater noch dein Großvater waren so dreist wie du, sie f ürchteten das Meer. Nun ist es aus mit dir.“
Da erschrak der tapfere Wai, ließ es sich aber nicht anmerken. Er erwiderte den Blick des Wals und sagte: „Gut, aber laß uns zuerst die Kräfte messen. Wenn du siegst, friß mich auf, siege ich, dann darfst du nicht länger dein Unwesen im Meer treiben und die Jäger töten. Bist du einverstanden? Dreimal wollen wir miteinander kämpfen.“ Der Wal überlegte und sprach: „Einverstanden. Aber wie wollen wir denn kämpfen?“ — „Siehst du das Ufer ’n der Ferne und unser Zelt am Ufer?“ fragte der tapfare Wai. „Wer als erster das Zelt erreicht, der hat gesiegt.“ — „Gut“, antwortete der Wal. „Wir wollen’s versuchen.“ Und schon ging’s los. Wais Boot war klein und schmal, er packte die Riemen, legte sich ins Zeug, und das Boot flog pfeilgeschwind dahin. Der Wal war groß und plump, ihm fiel das Schwimmen schwerer, trotzdem blieb er nicht hinter dem Boot zurück. Wai ruderte, was er konnte, aber da sah er, daß der Wal ihn überholte. Der Wal war als erster am Ufer, legte sich in den Sand und brüllte: „Du hast verloren, Wai, ich bin erster!“ Da packle Wai die Ruder noch fester. Das Boot bohrte sich mit dem Bug in den Ufersand. Wai sprang an Land, stellte sich vor den Eingang seines Zeltes und antwortete: „Nicht du bist erster, sondern ich. Wir haben ausgemacht, wer zuerst am Zelt ist, der ist Sieger. Du aber kannst nicht an Land.“ — „Na schön“, sagte der Wal, „dieses Mal hast du gewonnen. Aber unsere Wette ist damit noch nicht entschieden. Wir messen unsere Kräfte noch zweimal.“ Damit schwamm der Wal aufs Meer hinaus. Der tapfere Wai holte die Robben aus dem Boot und lief zum Vater, um ihm seine Beute zu zeigen.
Über kurz oder lang wurde es Frühling. Wai jagte auf dem Küsteneis. Er war lange gewandert, wurde müde, legte sich in den weichen Schnee, um auszuruhen, und schlief ein. Als er erwachte, begriff er nicht gleich, wo er sich befand. Er trieb auf einer kleinen Scholle übers Meer. Da erschrak Wai: Die Scholle, auf der ich lag, muß sich von der Küste gelöst haben und trägt mich aufs Meer hinaus. Aber Wai gehörte nicht zu den Leuten, die vor Angst weinen. Er setzte sich hin und überlegte, was zu tun sei. Plötzlich wurde es ringsum dunkel, als hätte sich eine finstere Wolke vor die Sonne geschoben, aus dem Wasser tauchte der gewaltige schwarze Wal mit dem Kamm auf dem Kopf empor, nicht etwa ein einfacher Wal, sondern der König aller Wale. Er starrte Wai an und brüllte mit fürchterlicher Stimme: „Jetzt habe ich dich zum zweitenmal erwischt. Nun ist es um dich geschehen.“ — „Weißt du noch, wir haben abgemacht, dreimal miteinander zu kämpfen“, antwortete Wai. ,,Schau einmal, dort in der Ferne fährt ein großes Schiff mit vielen Menschen. Wir wollen nach verschiedenen Seiten auseinanderschwimmen, und gewinnen soll der, zu dem das Schiff fährt. Einverstanden?“ — „Ja“, antwortete der Wal. Er schwamm in die eine Richtung, und Wais Scholle trieb der Wind in die entgegengesetzte. Die Menschen auf dem Schiff sahen durch ihr Fernrohr eine treibende Eisscholle und auf der Scholle einen Mann. „Seht, da treibt ein Mann auf einer Eisscholle!“ schrien die Matrosen. Die anderen antworteten: „Und dort drüben schwimmt ein Wal!“ — „Zuerst muß der Mann gerettet werden!“ riefen alle an Bord. Das Schiff drehte zur Scholle, fuhr heran, barg Wai und nahm dann Kurs auf die Küste.
Der Wal holte das Schiff ein und sprach mil menschlicher Stimme. „Nun gut, tapferer Wai, wir treffen uns noch einmal, und dann entgehst du mir bestimmt nicht.“ Damit tauchte der Wal und verschwand im gurgelnden Wasser, Wai aber kehrte nach Hause zurück.
Nach einiger Zeit brach der tapfere Wai wieder zur Jagd auf. Er stieg ins Boot, aber kaum war er um die großen Felsen an der Landzunge gerudert, als der Himmel sich wiederum verfinsterte, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben, und aus dem Wasser tauchte der schwarze Wal, der König aller Wale, mit riesigem Rachen, grimmigen Augen und einem schwarzen Kamm auf dem Kopf. Der Wal brüllte mit furchtbarer Stimme: „Aha, jetzt treffen wir uns zum letzten Mal!“ — „Nun, da wollen wir eben zum letztenmal unsere Kräfte messen“, antwortete Wai. „Wir wollen übers Meer jagen, und wer zuerst müde wird, der hat verloren. Einverstanden?“ — „Da verlierst du doch“, sagte der Wal, „du kannst nicht lange rudern. Deine Arme sind schwach. Ich bin viel stärker.“ — „Wollen sehen“, antwortete Wai, „du mußt bloß sagen, ob du einverstanden bist.“ — „Ja, ich bin einverstanden“, sagte der Wal. Er machte kehrt und schwamm übers Meer. Wai aber sprang aus dem Boot, schwang sich mit einem Satz auf den Rücken des Wals und nahm bequem Platz. Da drehte der Wal den Kopf und sagte: „Was willst du denn auf meinem Rücken? Kletter runter!“ — „Wir haben doch nicht ausgemacht, daß ich im Boot übers Meer jagen werde“, antwortete Wai, „du schwimme, ich will auf dir übers Meer fahren.“ Da ergrimmte der Wal, begann sich zu drehen, peitschte mit der Schwanzflosse das Wasser, aber Wai hielt sich fest, so daß der Wal ihn nicht abschütteln konnte.
Der Wal trug ihn lange übers Meer, wurde schließlich müde und konnte nicht mehr weiter. „Steig von meinem Rücken ab“, sagte er, „ich habe dich satt.“ — „Bist du müde?“ fragte Wai. „Ja“, antwortete der Wal. „Also hast du verloren?“ — „Meinetwegen“, sagte der Wal. „Vergiß nicht“, sagte Wai, „du hast versprochen, daß du nicht langer dein Unwesen treiben und die Jäger verfolgen wirst.“ Der Wal schlug mit der Schwanzflosse aufs Wasser und tauchte tief ins Meer hinab.
Seither fahren die Tundrajäger getrost aufs Meer hinaus, und keiner fürchtet sich mehr..

Quelle:
(Märchen der Nenzen)

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