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Märchenbasar

Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand

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Einmal lebte ein armer Tagelöhner, der sich mit seiner Frau kümmerlich von einem Tage zum andern durchbrachte. Von drei Kindern war ihnen das jüngste, ein Sohn, geblieben, der neun Jahr alt war, als man erst den Vater und dann die Mutter begrub. Dem Knaben blieb nichts übrig, als vor den Thüren guter Menschen sein Brot zu suchen. Nach Jahresfrist gerieth er auf den Hof eines wohlhabenden Bauerwirths, wo man gerade einen Hüterknaben brauchte. Der Wirth war nicht eben böse, aber das Weib hatte die Hosen an und regierte im Hause wie ein böser Drache (»Schüreisen«). Wie es dem armen Waisenknaben da erging, läßt sich denken. Die Prügel, die er alle Tage bekam, wären dreimal mehr als genug gewesen, Brot aber wurde nie soviel gereicht, daß er satt geworden wäre. Da aber das Waisenkind nichts Besseres zu hoffen hatte, mußte es sein Elend ertragen. Zum Unglück verlor sich eines Tages eine Kuh von der Herde; wohl lief der Knabe bis Sonnenuntergang den Wald entlang, von einer Stelle zur andern, aber er fand die verlorene Kuh nicht wieder. Obwohl er wußte, was seinem Rücken zu Hause bevorstand, mußte er doch jetzt nach Sonnenuntergang die Herde zusammentreiben. Die Sonne war noch nicht lange unter dem Horizont, da hörte er schon der Wirthin Stimme: »Fauler Hund! wo bleibst du mit der Herde?« Da half kein Zaudern, nur rasch nach Hause unter den Stock. Zwar dämmerte es schon, als die Herde zur Pforte hereinkam, aber das scharfe Auge der Wirthin hatte sogleich entdeckt, daß eine Kuh fehle. Ohne ein Wort zu sagen, riß sie den nächsten Staken aus dem Zaun und begann damit den Rücken des Knaben zu bearbeiten, als wollte sie ihn zu Brei stampfen. In der Wuth hätte sie ihn auch zu Tode geprügelt oder ihn auf Zeit Lebens zum Krüppel gemacht, wenn der Wirth, der das Schreien und Schluchzen hörte, dem Armen nicht mitleidig zu Hülfe gekommen wäre. Da er die Gemüthsart des tückischen Weibes genau kannte, so wollte er sich nicht geradezu dazwischen legen, sondern suchte zu vermitteln. Er sagte halb in bittendem Tone: »Brich ihm lieber die Beine nicht entzwei, damit er doch die verlorene Kuh suchen kann. Davon werden wir mehr Nutzen haben, als wenn er umkommt.« »Wahr,« sagte die Wirthin, »das Aas kann auch die theure Kuh nicht ersetzen,« – zählte ihm noch ein Paar tüchtige Hiebe auf und schickte ihn dann fort, die Kuh zu suchen. »Wenn du ohne die Kuh zurückkommst,« – setzte sie drohend hinzu, – »so schlage ich dich todt.« Weinend und stöhnend ging der Knabe zur Pforte hinaus und geradeswegs in den Wald, wo er Tages mit der Herde gewesen war, suchte die ganze Nacht, fand aber nirgends eine Spur von der Kuh. Als am andern Morgen die Sonne sich aus dem Schoße der Morgenröthe erhoben hatte, war des Knaben Entschluß gefaßt. »Werde aus mir, was da wolle, nach Hause gehe ich nicht wieder.« Mit diesen Worten nahm er Reißaus und lief in einem Athem vorwärts, so daß er das Haus bald weit hinter sich hatte. Wie lange und wie weit er so gelaufen war, wußte er selber nicht, als ihm aber zuletzt die Kraft ausging und er wie todt niederfiel, stand die Sonne fast schon in Mittagshöhe. Als er aus einem langen schweren Schlafe erwachte, kam es ihm vor, als ob er etwas Flüssiges im Munde gehabt habe, und er sah einen kleinen alten Mann mit langem grauen Barte vor sich stehen, der eben im Begriffe war, den Spund wieder auf den Lägel (Milchfäßchen) zu setzen. »Gieb mir noch zu trinken!« bat der Knabe. »Für heute hast du genug,« erwiederte der alte Vater, »wenn mein Weg mich nicht zufällig hierher geführt hätte, so wäre es sicher dein letzter Schlaf gewesen, denn als ich dich fand, warst du schon halb todt.« Dann befragte der Alte den Knaben, wer er wäre und wohin er wollte. Der Knabe erzählte Alles, was er erlebt hatte so lange er sich erinnern konnte, bis zu den Schlägen von gestern Abend. Schweigend und nachdenklich hatte der Alte die Erzählung angehört, und nachdem der Knabe schon eine Weile verstummt war, sagte jener ernsthaft: »Mein liebes Kind! dir ist es nicht besser noch schlimmer ergangen als so Manchen, deren liebe Pfleger und Tröster im Sarge unter der Erde ruhen. Zurückkehren kannst du nicht mehr. Da du einmal fortgegangen bist, so mußt du dir ein neues Glück in der Welt suchen. Da ich weder Haus noch Hof, weder Weib noch Kind habe, so kann ich auch nicht weiter für dich sorgen, aber einen guten Rath will ich dir umsonst geben. Schlafe diese Nacht hier ruhig aus; wenn morgen die Sonne aufgeht, so merke dir genau die Stelle, wo sie emporstieg. In dieser Richtung mußt du wandern, so daß dir die Sonne jeden Morgen in’s Gesicht und jeden Abend in den Nacken scheint. Deine Kraft wird von Tage zu Tage wachsen. Nach sieben Jahren wird ein mächtiger Berg vor dir stehen, der so hoch ist, daß sein Gipfel bis an die Wolken reicht. Dort wird dein künftiges Glück blühen. Nimm meinen Brotsack und mein Fäßchen, du wirst darin täglich soviel Speise und Trank finden, als du bedarfst. Aber hüte dich davor, jemals ein Krümchen Brot oder ein Tröpfchen vom Trank unnütz zu vergeuden, sonst könnte deine Nahrungsquelle leicht versiegen. Einem hungrigen Vogel und einem durstigen Thiere darfst du reichlich geben: Gott sieht es gern, wenn ein Geschöpf dem andern Gutes thut. Auf dem Grunde des Brotsacks wirst du ein zusammengerolltes Klettenblatt finden; das mußt du sehr sorgfältig in Acht nehmen. Wenn du auf deinem Wege an einen Fluß oder einen See kommst, so breite das Klettenblatt auf dem Wasser aus, es wird sich sofort in einen Nachen verwandeln und dich über die Flut tragen. Dann wickele das Blatt wieder zusammen und stecke es in deinen Brotsack.« Nach dieser Unterweisung gab er dem Knaben Sack und Fäßchen und rief: »Gott befohlen!« Im nächsten Augenblick war er den Augen des Knaben entschwunden.
Der Knabe hätte Alles für einen Traum gehalten, wenn nicht Sack und Fäßchen in seiner Hand die Wirklichkeit des Geschehenen bezeugt hätten. Er ging jetzt daran, den Brotsack zu prüfen und fand darin: ein halbes Brot, ein Schächtelchen voll gesalzener Strömlinge, ein anderes mit Butter und dazu noch ein hübsches Stückchen Speckschwarte. Als der Knabe sich satt gegessen hatte, legte er sich schlafen, Sack und Fäßchen unter dem Kopfe, damit kein Dieb sie wegnehmen könne. Den andern Morgen wachte er mit der Sonne auf, stärkte seinen Körper durch Speise und Trank und machte sich dann auf die Wanderung. Wunderbarer Weise fühlte er gar keine Müdigkeit in seinen Beinen; erst der leere Magen mahnte ihn daran, daß die Mittagszeit gekommen war. Er sättigte sich mit der guten Kost, that ein Schläfchen und wanderte weiter. Daß er den rechten Weg eingeschlagen hatte, sagte ihm die untergehende Sonne, die ihm gerade im Nacken stand. So war er viele Tage in derselben Richtung vorwärts gegangen, als er einen kleinen See vor sich erblickte. Hier konnte er die Kraft seines Klettenblattes prüfen. Wie es der alte Mann vorausgesagt hatte, so geschah es: ein kleines Boot mit Rudern lag vor ihm auf dem Wasser. Er stieg ein, und einige tüchtige Ruderschläge führten ihn an’s andere Ufer. Dort verwandelte sich das Boot wieder in ein Klettenblatt, und dieses ward in den Sack gesteckt.
So war der Knabe schon manches Jahr gewandert, ohne daß die Nahrung im Brotsack und im Fäßchen abgenommen hätte. Sieben Jahre konnten recht gut verstrichen sein, denn er war zu einem kräftigen Jüngling herangewachsen; da sah er eines Tages von weitem einen hohen Berg, der bis in die Wolken hinein zu ragen schien. Es verging aber noch eine Woche, ehe er den Berg erreichte. Dann setzte er sich am Fuße des Berges nieder, um auszuruhen und zu sehen, ob die Prophezeiungen des alten Mannes in Erfüllung gehen würden. Er hatte noch nicht lange gesessen, als ein eigenthümliches Zischen sein Ohr berührte: gleich darauf wurde eine große Schlange sichtbar, welche mindestens zwölf Klafter lang war und sich dicht bei dem jungen Manne vorbeiwand. Schrecken lähmte seine Glieder, so daß er nicht fliehen konnte; aber im Nu war auch die Schlange vorüber. Dann blieb ein Weilchen Alles still. Darauf schien es ihm, als käme aus der Ferne ein schwerer Körper in einzelnen Sätzen herangehüpft. Es war eine große Kröte, so groß wie ein zweijähriges Füllen. Auch dieses häßliche Geschöpf zog an dem Jüngling vorüber, ohne ihn gewahr zu werden. Sodann vernahm er in der Höhe ein starkes Rauschen, als wenn ein schweres Gewitter sich erhebe. Als er hinauf sah, flog hoch über seinem Haupte ein großer Adler in derselben Richtung, welche vorher die Schlange und die Kröte genommen hatten. »Das sind wunderbare Dinge, die mir Glück bringen sollen!« dachte der Jüngling. Da sieht er plötzlich einen Mann auf einem schwarzen Pferde auf sich zu kommen. Das Pferd schien Flügel an den Füßen zu haben, denn es flog mit Windesschnelle. Als der Mann den Jüngling am Berge sitzen sah, hielt er sein Pferd an und fragte: »Wer ist hier vorübergekommen?« Der Jüngling erwiederte: »Erstens eine große Schlange, wohl zwölf Klafter lang, dann eine große Kröte von der Größe eines zweijährigen Füllens und endlich ein großer Adler hoch über meinem Kopfe. Wie groß er war, konnte ich nicht abschätzen, aber sein Flügelschlag rauschte wie ein Gewitter daher.« – »Du hast recht gesehen,« sagte der Fremde, »es sind meine schlimmsten Feinde, und ich jage ihnen jetzt eben nach. Dich könnte ich in meinem Dienste brauchen, wenn du nichts Besseres vor hast. Klettere über den Berg, so kommst du gerade in mein Haus. Ich werde dort mit dir zugleich anlangen, wenn nicht noch früher.« – Der junge Mann versprach zu kommen, worauf der Fremde wie der Wind davon ritt.
Es war nicht leicht, den Berg zu erklimmen. Unser Wanderer brauchte drei Tage, ehe er den Gipfel erreichte, und dann wieder drei Tage, ehe er auf der andern Seite an den Fuß des Berges gelangte. Der Wirth stand schon vor seinem Hause und erzählte, daß er Schlange und Kröte glücklich erschlagen habe, des Adlers aber nicht habhaft geworden sei. Dann fragte er den jungen Mann, ob er Lust habe, als Knecht bei ihm einzutreten. »Gutes Essen bekommst du täglich, soviel du willst, und auch mit dem Lohne will ich nicht geizen, wenn du dein Amt getreulich verwaltest.« Der Vertrag wurde abgeschlossen und der Wirth führte den neuen Knecht im Hause umher, und zeigte ihm, was er zu thun habe. Es war dort ein Keller im Felsen angebracht und durch dreifache Eisenthüren verschlossen. »In diesem Keller sind meine bösen Hunde angekettet,« sagte der Wirth, »du mußt dafür sorgen, daß sie sich nicht unterhalb der Thür mit den Pfoten herausgraben. Denn wisse: wenn auch nur einer dieser Hunde frei würde, so wäre es nicht mehr möglich, die beiden anderen fest zu halten, sondern sie würden nacheinander dem Führer folgen und alles Lebendige auf Erden vertilgen. Wenn endlich der letzte Hund ausbräche, so wäre das Ende der Welt da, und die Sonne hätte zum letzten Male geschienen.« Darauf führte er den Knecht an einen Berg, den Gott nicht geschaffen hatte, sondern der von Menschenhänden aus mächtigen Felsblöcken aufgethürmt war. »Diese Steine« – sagte der Wirth – »sind deßwegen zusammengetragen, damit immer wieder ein neuer Stein hingewälzt werden kann, so oft die Hunde ein Loch ausgraben. Die Ochsen, welche den Stein führen sollen, will ich dir im Stalle zeigen, und dir auch alles Uebrige mittheilen, was du dabei zu beobachten hast.«
Im Stalle fanden sie an hundert schwarze Ochsen, deren jeder sieben Hörner hatte; sie waren reichlich zwei Mal so groß wie die größesten Ukrainer Ochsen. »Sechs Paar Ochsen vor die Steinfuhre gespannt, führen einen Stein mit Leichtigkeit weg. Ich werde dir eine Brechstange geben, wenn du den Stein damit berührst, rollt er von selbst auf den Wagen. Du siehst, deine Arbeit ist so mühsam nicht, desto größer muß deine Wachsamkeit sein. Drei Mal bei Tage und ein Mal bei Nacht mußt du nach der Thür sehen, damit kein Unglück geschieht, der Schade könnte sonst größer sein, als du vor mir verantworten könntest.«
Bald hatte unser Freund Alles begriffen und sein neues Amt war ganz nach seinem Sinne: alle Tage das beste Essen und Trinken, wie es ein Mensch nur begehren konnte. Nach zwei bis drei Monaten hatten die Hunde ein Loch unter der Thür gekratzt, groß genug, um die Schnauze durchzustecken, aber sogleich wurde ein Stein davor gestemmt, und die Hunde mußten ihre Arbeit von neuem beginnen.
So waren viele Jahre verstrichen und unser Knecht hatte sich ein hübsches Stück Geld gesammelt. Da erwachte in ihm das Verlangen, ein Mal wieder unter andere Menschen zu kommen; er hatte so lange in kein anderes Menschenantlitz gesehen, als in das seines Herrn. War der Herr auch gut, so wurde dem Knecht doch die Zeit entsetzlich lang, zumal wenn den Herrn die Lust anwandelte, einen langen Schlaf zu halten. Dann schlief er immer sieben Wochen lang ohne Unterbrechung und ohne sich sehen zu lassen.
Wieder war einmal eine solche Schlaflaune über den Wirth gekommen, als eines Tages ein großer Adler sich auf dem Berge niederließ und so zu sprechen anhub: »Bist du nicht ein großer Thor, daß du dein schönes Leben für gute Kost hinopferst? Dein zusammengespartes Geld nützt dir nichts, denn es sind ja keine Menschen hier, die es brauchen. Nimm des Wirthes windschnelles Roß aus dem Stalle, binde ihm deinen Geldsack um den Hals, setze dich auf und reite in der Richtung fort, wo die Sonne untergeht, so kommst du nach wenig Wochen wieder unter Menschen. Du mußt aber das Pferd an einer eisernen Kette fest binden, damit es nicht davon laufen kann, sonst kehrt es zu seiner gewohnten Stätte zurück und der Wirth kann kommen, um dich anzufechten. Wenn er aber das Pferd nicht hat, so kann er nicht von der Stelle.« »Wer soll denn hier die Hunde bewachen, wenn ich weggehe, während der Wirth schläft?« fragte der Knecht. »Ein Thor bist du, und ein Thor bleibst du!« erwiederte der Adler. »Hast du denn noch nicht begriffen, daß der liebe Gott ihn dazu geschaffen hat, daß er die Höllenhunde bewache? Es ist reine Faulheit, daß er sieben Wochen schläft. Wenn er keinen fremden Knecht mehr hat, so wird er sich aufraffen und seines Amtes selber warten.«
Der Rath gefiel dem Knechte sehr. Er that, wie der Adler gesagt hatte, nahm das Pferd, band ihm den Geldsack um, setzte sich auf und ritt davon. Noch war er nicht gar weit vom Berge, als er schon hinter sich den Wirth rufen hörte: »Halt an! Halt an! Geh‘ in Gottes Namen mit deinem Gelde, aber laß mir mein Pferd.« Der Knecht hörte nicht darauf, sondern ritt immer weiter, bis er nach einigen Wochen wieder zu sterblichen Menschen kam. Dort baute er sich ein hübsches Haus, freite ein junges Weib, und lebte glücklich als reicher Mann. Wenn er nicht gestorben ist, so muß er noch heute leben; aber das windschnelle Roß ist schon längst verschieden.

[Estland: Friedrich Reinhold Kreutzwald: Ehstnische Märchen]

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