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Märchenbasar

Wie sie den Mond einfangen wollten

4.5
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Weit, weit weg, im westlichen Felsengebirge, wo nicht einmal Fuchs und Hase einander Gute Nacht sagen, lag ihr Dorf. Da aber dorthin kein Weg führte, führte auch kein Weg von dort zurück. Darum wohl wussten die Dorfbewohner gar nichts von der Welt und waren, um die Wahrheit zu sagen, ein bisschen wie auf den Kopf gefallen. Aber hört selbst:
Eines Abends, als der Vollmond hell wie eine Laterne am Himmel leuchtete und gerade über dem nächsten Berg stand, kamen einige Bauern aus dem Gasthaus.
„Wie schön uns der Mond auf den Weg scheint“, sagte einer. „Besser wär’s, er leuchtete in der Stube“, sagte ein anderer. „Wenn es dunkel wird, kann ich daheim nicht einmal meine Nasenspitze sehen!“
Der Dritte, der für den Klügsten gehalten wurde, hörte ein Weilchen zu und sagte dann: „Das ist doch leicht. Wir steigen auf den Berg, holen den Mond hinunter und teilen ihn dann!“
Gesagt, getan. Als sie atemlos und erschöpft oben auf dem Berg angelangt waren, stellten sie fest, dass auch der Grösste von ihnen die leuchtende Scheibe nicht erreichen konnte. Überdies war der Mond am Himmel weitergewandert und stand schon über einem anderen Berg.
„Da ist nichts zu machen“, entschieden die Männer, „wir müssen ihm nach.“ Als sie wieder unten im Dorf angelangt waren, konnten sie vor Müdigkeit kaum mehr die Beine schleppen und wären am liebsten nicht mehr auf den nächsten Berg hinaufgestiegen. Aber der Neunmalkluge sagte: „Jetzt entkommt er uns nicht mehr. Wir ködern ihn mit Butterbrot“, und er zeigte seine grosse Tasche, in der er eine Schnitte hatte. „Der Mond liebt Butterbrot über alles, dass ihr’s nur wisst“, redete er weiter. Und die übrigen stimmten ihm zu. Wie gut, dass sie so einen Weisen hatten!

Entschlossen zogen sie dem Berg zu, aber bald war ihre Begeisterung verflogen. Weiss Gott, wie sie auf den Gipfel gelangten, sie konnten kaum noch Luft schnappen. Der Mond hatte freilich nicht auf sie gewartet und lächelte nur still vom Firmament herab.
„Tut nichts“, sagten die Bauern, und ihr Klugredner öffnete die Tasche, zog das Butterbrot hervor und legte los:
„Lieber Vollmond, wie wir wissen,
du liebst einen guten Bissen!
Schau, was wir hier für dich haben,
sollst zum Frühstück dich dran laben!“
So sang er, und die übrigen stimmten ein. Aber der Mond kam nicht um einen Zoll näher. Im Gegenteil, er rollte weiter ans Meer.
„Ich hab’s! Er geht baden!“ Der Neunmalkluge schlug sich vor die Stirn. „Jetzt wollen wir ihm auflauern!“
Die Bauern hatten gar keine Lust mehr, weiterzugehen, aber da es bergab ging, liessen sie sich überreden.
So kamen sie an einen tiefen Fjord, und siehe da, drei Meter vom Ufer entfernt badete der Mond im Wasser! Freilich, den Himmel konnten sie nicht sehen, überhängende Felsen verdeckten ihnen die Aussicht.
„Pst! Macht euch fertig, ich zähle bis drei, dann springen wir alle dem Mond nach“, kommandierte der Klugredner. „Eins, zwei, drei!“
Plumps! Die Männer planschten im eiskalten Wasser, aber den Mond konnten sie nicht fangen. Wohin war er verschwunden?
„D – d – dort!“, zeigte der Neunmalkluge zähneklappernd zum Himmel. Und wirklich, dort oben leuchtete der Vollmond, als wäre nichts geschehen.

Patschnass und todmüde gingen sie nach Hause. Am meisten verdross es sie, dass ihnen der Mond auch im Wasser entkommen war. Denn niemals kam ihnen der Gedanke, dass sie im Fjord nur den Widerschein des Mondes hatten einfangen wollen. Denn in ihrem Dorf sagten sich nicht einmal Fuchs und Hase gute Nacht, und kein Weg führte hin und auch keiner zurück.

Märchen aus Island
Quelle: Milos Maly  „Nordische Märchen“

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