Schon bei seiner Geburt hatte Wihio von den Schicksalsfeen einen unstillbaren Wandertrieb und nie versiegende Lust zu allerlei Scherz und Schabernack mitbekommen. Und das war ihm gerade recht, denn er merkte bald, daß einem Zugvogel vom Leben viel reichere Gaben beschert werden als jenen Sesshaften, die kaum einen Schritt aus ihrer Hütte herauskommen, und daß man bei einem Wanderleben mancherlei Kurzweil erleben kann. Und so rückte er denn, kaum hatte er so halbwegs mit Pfeil und Bogen umgehen gelernt, von daheim aus und lenkte seine Schritte den Urwäldern zu, die er weit im Norden, unter verschneiten Berggipfeln schimmernd, liegen sah. Auf dem Wege gab es für ihn so viel zu sehen, daß seine an die flache gewöhnte Prärie gewöhnten Augen aus dem Staunen nicht heraus kamen, was ihnen in den Weg kam, sonnendurchflutende Waldwinkel, Tannen, die so hoch waren, daß ihre Wipfel unsichtbar blieben. In dieser Wildnis lebten auch viele ihm unbekannte Tiere, und Wihio plauderte mit ihnen. Sie lehrten ihn die Weisheit des Waldes, und von ihnen erfuhr er auch, daß im Norden der Häuptling der Tiere der furchtbare Bär war, der seinen reichen Jagdgrund am Bärenbach wie seinen Augapfel hütete und einen jeden, der mit Absicht oder auch nur versehentlich in dieses Gebiet geraten war, im Bärengalopp wieder hinausjagte. Wihio hätte nicht Wihio sein dürfen, wenn er nicht auf den Gedanken gekommen wäre, dem alten Brummbär einen Streich zu spielen. Es war Winter. Der Herumtreiber war an den zugefrorenen Bärenbach gekommen und hackte ein Loch in das Eis. Und ohne sich im geringsten darum zu scheren, daß ganz in der Nähe die Höhle des Bären war, begann er zu fischen. Kurz darauf hörte er schwere Tritte und ein aufgeregtes Brummen. Aber Wihio ließ sich nicht stören und zog mit der größten Seelenruhe eine Forelle nach der anderen aus dem Loch. Der Bär tobte. „Wie kannst du dich unterstehen, mir meine Fische wegzufangen?“ brüllte er. Wihio lächelte ihn unschuldig an und sagte: „Gut, daß du endlich kommst. Ich habe gehört, daß du die Fische nur so mit der Tatze fängst. Aber auf diese Weise entwischen dir ja die meisten. Und da habe ich mir gedacht, es wird gut sein, dich aufzusuchen und dir das richtige Fischen beizubringen. Dem Häuptling der Tiere gebührt eine Beute, die seiner würdig ist. So – und jetzt paß gut auf!“ er spießte einen neuen Köder an die Angel und warf sie in den Bach. Nach einem Weilchen zappelte ein so prächtiger Kerl an der Schnur, das dem Bären das Wasser im Maule zusammenlief. „Mhm!“ machte er anerkennend und fügte dann betrübt hinzu: „Was kann mir das schon nützen, ich habe doch keine Angel.“ „Das tut nichts“, tröstete ihn Wihio. „Dafür hast du einen leckeren, fleischigen Schwanz, in denen die Fische mit tausend Freuden hineinbeißen werden. Du mußt dich nur mit dem Rücken zum loch stellen und den Schwanz ins Wasser tauchen. Wenn einer angebissen hat, ziehst du ihn sofort heraus.“
„Was du sagst,, klingt ganz vernünftig. Aber wehe dir, wenn du mich zum Narren hälst. Der Bär hob drohend seine schwere Pranke. Dann setzte er sich an den Rand des Loches. Es dauert nicht lange, und er hatte das Gefühl, als würde sein Schwanz von etwas zusammengedrückt. Er warte noch ein Weilchen, damit sich der Fisch auch richtig festbeißen konnte, und wollte dann den Schwanz mit einem Ruck aus dem Wasser ziehen, aber das ging gar nicht: Der Schwanz war festgefrorenen.
„Hilf mir ziehen“, befahl er Wihio. „ein Riesenkerl hat angebissen!“
„Gar nichts hat angebissen!“ lachte der Vagabund und wollte sich ausschütten vor Lachen. „Der Schwanz ist dir festgefroren, du Dummkopf! Recht geschieht dir, das ist die Strafe für deine Selbstsucht.“ Wihio stopfte seine Fische in den Sack und ging, ein Liedchen von der Einfältigkeit des Bären vor sich hinpfeifend, langsam davon. Der Zottelbär brüllte wie ein Rasender und zog und zerrte, aber der Schwanz stak fest. Schließlich blieb ihm nichts übrig, als alle seine Kräfte zusammenzunehmen und sich mit einem tüchtigen Ruck zu befreien. Rrritz! Der Bär schlug einen Purzelbaum. Er befühlte die schmerzende Stelle und kam zu der traurigen Erkenntnis, daß von seinem schönen Schwanz nur noch ein unansehnlicher Stummel übriggeblieben war. Unterdessen war Wihio weitergewandert. Er hatte die verschneiten Wälder verlassen und durchstreifte nun ein Teil des Landes, wo es rote Felsen und tiefe Abgründe gab. Die Dörfer der Indianer aber waren menschenleer. Was mag das zu bedeuten haben? fragte sich Wihio und erfuhr bald des Rätsels Lösung: In jener Gegens hauste eine riesige Eule, die nachts die kleinen Kinder fortschleppte, und so hatten es die Bewohner vorgezogen, das Dorf zu verlassen. Als Wihio diese traurige Geschichte hörte, nahm er sich vor, die Eule aufzusuchen, aber niemand konnte ihm sagen, wo sie ihr Nest hatte. Da zog er die Kleider eines kleinen Kindes an und wartete, bis die Eule selber zu ihm kommen würde. Punkt Mitternacht ließ sich ihr Heulen vernehmen, und bald darauf hörte Wihio das Rauschen ihrer mächtigen Flügel. Er fühlte sich in ein Klauenpaar gerissen und in die Luft gehoben. Der Flug dauerte nicht lange. Die Eule nistete in einer nahe gelegenen Höhle, wohin sie nun auch Wihio schleppte. Dort ließ sie ihn fallen und brüstete sich vor ihm: „Noch niemand ist es gelungen, mich zu überwinden, und auch dir wird es nicht gelingen. Deine letzte Stunde ist gekommen…Mir läuft schon jetzt das Wasser im Mund zusammen, wenn ich daran denke, wie du mir schmecken wirst!“ Wihio tat, als wären die Worte der Eule nicht für ihn bestimmt, langte in seinen Sack, den er stets bei sich trug, zog etwas heraus und steckte es in den Mund. „Was hast du denn da, Gutes?“ fragte die Eule neugierig und machte einen langen Hals. „Ein Stückchen Ahornzucker. Willst du kosten?“ „Her mit allem, was du hast“, schrie ihn die Eule an und stampfte mit der Klaue auf. Wihio wühlte eine Weile in dem Sack herum und hielt dann der Eule anstatt des Zuckers, den er knabberte, einen Batzen Pech hin. Die Eule merkte in ihrer Gier nicht, wonach sie schnappte. Als der zähe Klumpen nicht in den Schlund rutschen wollte, drückte sie den Schnabel zusammen, so fest sie konnte, um den Batzen zu verkleinern. Aber das war das einzige, was sie nicht hätte tun sollen. Das Pech klebte ihren Kiefer so fest aneinander, daß sie, sie nie wieder aufbringen konnte. Wihio aber ging herzhaft lachend an der wehrlosen Eule vorbei und verließ die Höhle.
Als er draußen war, stimmte er ein Liedchen an, das nicht nur von einem dummen Bären, sondern auch von einer noch viel dümmeren Eule erzählte.
Der lockere Wandervogel war schon längst über alle Berge, aber die Eule hackte noch immer vergebens mit ihrem zusammengeklebten Schnabel auf einen Felsblock ein…Wihio hatte dir rötlichen Felsen hinter sich gelassen und zog nun durch Moor – und Sumpfland. Wie hätte er ahnen können, daß in dieser Gegend der schrecklichste aller schrecklichen Alligatoren hauste? Als er dahinterkam, war es schon zu spät. Vor ihm gähnte ein Rachen, so groß wie der Eingang eines Wigwams. Ein einziger Schritt noch, und unser Wanderer wäre nicht mehr unter den Lebenden gewesen! „Komm, nur herein“, lockte ihn der Alligator mit schneidender Stimme, „mir entgehst du sowieso nicht mehr!“ „Wenn ich dich früher gesehen hätte als du mich, wäre es umgekehrt: Ich hätte dich verspeist!“ behauptete Wihio. Der Alligator lachte. „Das muß ich erst sehen!“ „Ach was, jetzt hat es ja doch keinen Sinn mehr, dich überzeugen zu wollen. Ich weiß, daß du von allen Tieren das stärkste bist, und ehe ich mit dem Leben abschließe, möchte ich nur noch gern deine schrecklichen Zähne aus nächster Nähe sehen, damit ich mir vorstellen kann, was mich erwartet.“ Der Alligator fühlte sich geschmeichelt.
Er sperrte sein riesiges Maul auf so weit er konnte und streckte die rote Zunge heraus. Darauf hatte Wihio nur gewartet. Er zog blitzschnell einen großen Stein aus seinem Sack, warf ihn dem Alligator ins Maul, damit er es nicht mehr zumachen konnte, und schnitt ihm die halbe Zunge ab.
Der Alligator rast vor Schmerz. Aber nicht allein vor Schmerz, sondern auch vor Wut, denn es gelang ihm trotz aller Anstrengungen nicht, den Stein auszuspucken. Inzwischen war Wihio schon wieder ein Stück weitergezogen und sang ein Lied davon, warum der Alligator eine so kurze Zunge hat. Er war schon mehrere Tage unterwegs, und die frische Luft hatte ihn hungrig gemacht. Er sah sich nach etwas Essbarem um, aber er konnte nichts finden. Da traf er einen Kojoten. Der kam ihm sehr gelegen, denn er wußte, daß dieser mit allen Wassern gewaschene Pfiffikus nie um einen guten Bissen verlegen war. Wihio redete ihn an.
„Wie ich sehe, bist du dick und fett. Möchtest du mir nicht verraten, wo man so gut speist?“ Anfangs wollte der Kojote nicht mit der Wahrheit herausrücken, aber als Wihio sich nicht abweisen ließ, sagte er: „Dort unter dem Hügel steht eine Hütte, in der gibt es einen Haufen gutes Trockenfleisch. Daran habe ich mich so manches Mal sattgegessen, aber eines Tages haben sie einen Stock auf mir tanzen lassen und mich einen alten Dieb geschimpft. Dort laß dich lieber gar nicht erst blicken!“ Wihio überlegte. Der Kojote mochte recht haben. Die in der Hütte waren Geizhälse, von denen würde er nichts bekommen. Aber in diesem Augenblick blitzte ihm ein Gedanke durch den Kopf. „Spitz deine Ohren und höre, was ich dir sage. Ich ziehe ein Weiberkleid an und stecke dich in den Sack. Den hocke ich mir auf den Rücken, und du brüllst wie ein halbverhungertes Kind. Das sollte doch sonderbar zugehen, wenn wir auf diese Weise nichts zu essen bekamen.“ Der Kojote hatte aufmerksam zugehört und sagte nun, sich hinter den Ohren kratzend: „Das wird eine sehr anstrengende Arbeit für mich sein. Du mußt mir dein Wort geben, daß du von jedem Stück nur einen Bissen kostet. Alles andere kriege ich!“
Wihio wußte, daß er mit dem Kojoten auf andere Weise nichts ausrichten würde, und so erklärte er sich mit der Bedingung einverstanden. Später würde man ja weitersehen. Ohne noch ein Wort über die Sache zu verlieren, steckte er in den Kojoten in einen Sack und vermummte ihn so, daß man nur noch die Augen sah. Er selber verkleidete sich in eine Indianersquaw hockte sich den Sack mit dem Kojoten auf den Rücken, wie es die Indianerinnen mit ihren kleinen Kindern tun, und trat in den Wigwam. Im Innern war nur ein Mann. Der fragte: „Warum schreit dein Kind so?“ „Es ist sehr hungrig, und ich habe nichts, was ich ihm geben kann.“ Der Mann nahm schweigend mehrere Stück Trockenfleisch und hielt sie dem Stroch hin. Ach, das schmeckte! Wihio leckte sich die Lippen und gab dem Kojoten, der in seinem Sack schon ungeduldig zappelte, nur ein paar magere Abfälle und die Knochen, weil er die selber nicht essen konnte. Dann dankte er dem Mann, verließ die Hütte und ging mit dem Sack auf dem kürzesten Weg zum Fluß. Der Kojote war über die karge Mahlzeit sehr aufgebracht. „Na warte! Wenn ich herauskomme, haue ich dich windelweich dafür, daß du mich so betrogen hast!“ Aber diese und andere Drohungen nahmen bals ein jähes Ende, den als Wihio das Ufer erreicht hatte, lud er den Sack vom Rücken und warf ihn mitten in den Fluß. Ein Weilchen blieb Wihio noch in Gedanken verloren stehen, dann setzte er sich in das grüne Gras, und während seine Augen dem in der Strömung davonschwimmenden, sich immer mehr blähenden Sack folgten, entstand in seinem Kopf schon wieder ein neues Wanderlied von dem Kojoten, der noch viel dümmer gewesen war als seine drei Vorgänger.
*
Quelle: Märchen der Stämme:
Cheyenne/ Choctaw u. Micwac