Suche

Märchenbasar

Zottelhaube

1
(1)
Es waren einmal zwei ungleiche Schwestern. Fast zugleich erblickten sie das Licht der Welt, doch sie konnten nicht verschiedener sein. Einmal glücklich da, hielten sie immer zusammen.

Aber bis die beiden endlich in unseren Kreis treten! Das dauert lange.

‚Viel zu lang dauert mir das‘, dachte die Königin. ‚Die Zeit verrinnt. Jetzt wird sie allmählich knapp. Der König und ich, wir kriegen und kriegen und kriegen kein Kind. Das Volk hat schon aufgehört, sich zu wundern. Der Hofstaat hat aufgehört, sich in die Ohren zu tuscheln. Der Herr Gemahl hat aufgehört, mich anzusehn. Und dieser ganze weite Spiegelsaal dröhnt mir die Ohren voll. Ach, Schwermut und Stille, das klingt lauter als alles Kindergeschrei‘.

Da riß die Königin rasch ein Fenster auf, schaute ins Weite und dann auf den Platz. Dort unten spielten Kinder Verstecken. Eins hielt sich hinter dem Wachhäuschen verborgen. Eins kauerte unter dem Tisch der Spargelverkäuferin. Ein drittes drückte sich lang und dünn an den Stamm der Kastanie. Ein Kind sollte die anderen suchen, blickte aber just in diesem Augenblick auf, sah die Königin oben an ihrem Fenster und begann heftig zu winken.

Die Königin winkte schweren Herzens zurück.

Nicht lange darauf bestellten Königin und König einen Mann ein. Der erschien und war beflissen und übergab eine Kassette. Der Kasten war mit grünem Leinen überzogen. Darin Bilder von großäugigen Kindern.
„Wähl Du eins.“
„Nein, zieh Du eins.“
Am Ende schickten die beiden den Mann wieder fort.

Eine gute Frau vom anderen Ende der Hofstraße brachte eins ihrer Mädchen. Das spielte und schlief im Palast und durfte sogar nachmittags dem Teefräulein zur Hand gehn.
An einem hellen Sommertag segelte dem Kind eine Papierschwalbe aus dem offenen Fenster. Sie rannte die Treppen hinunter, eilte hinaus auf den Schloßplatz, um den Flieger zu retten. Wie sie wieder hinauf ging, hielt sie den Papierflügler sicher in der einen Hand. Mit der anderen aber zog und zurrte sie ein armseliges Bettlermädchen hinter sich her.

„Wen hast Du da mitgebracht, ach herrje“, rief die Königin aus. „Du bist aber ein besonders lumpiges Bettelkind. Bleib vom Teppich, nimm einen Keks. Gruß an die Eltern.“
„Bist Du die Königin, die keine Kinder bekommt?“ So sprach das Bettelmädchen. „Meine Mutter sagt, sie kann Dir welche verschaffen.“
„Solche wie von Deiner Sorte?“, fragte die Königin mißtrauisch. „Das Königshaus dankt.“
„An Deiner Stelle wäre ich ein wenig mehr interessiert“, entgegnete das schmutzige Kind. „Frag nur die Mutter.“
„Will sich die auch noch einschleichen? Hier, eine letzte Katzenzunge. Und dann ab.“
„Frag nur die Mutter. Wirst schon sehn.“ Und das Schmuddelkind stemmte sich breitbeinig vor die königliche Hoheit, die Hände fest in die Hüften gestützt. Es warf die Schultern zurück und wölbte einen nicht vorhandenen Bauch.
„Jetzt muß ich mich gar im eigenen Palast verspotten lassen“, klagte die Königin. „Nun spring los, geh die Mutter holen.“
„Wein liebt sie. Die Alte nämlich. Roten Wein und süßen Kuchen. Tisch ihr nur starken Wein auf, dann taut sie gleich auf. Gläser nicht notwendig.“ Das Kind rannte los.

Die schmutzige Alte erschien so schnell unter der Tür, als hätte sie draußen gelauert. Sie delektierte sich am Wein, dann am Kuchen, dann wieder am Wein. Verlangte nach einer zweiten Flasche.

„Die gibt es mit auf dem Weg. Jetzt gib Du mir erst mal was“, verlangte die Königin. „Ich will und will und will ein Kind. Wie Du sicher schon weißt.“

„Noch hat der Wein meine Zunge nicht gelöst,“ meinte die scheußliche Alte. Doch das Bettelmädchen nahm ihr schnell die Flasche vom Tisch und das Weib lenkte ein.

„Zwei Schüsseln mit Wasser laß abends in Deine Waschkammer tragen. Benetz Dein Gesicht mit dem ersten Wasser. Die Hände säubere aber in der zweiten Schale. Ruf den König herein. Schütte alles Waschwasser über seine Füße. Am nächsten Morgen, wenn Du nachsiehst, ist vom Boden alle Feuchtigkeit verschwunden. Doch dafür stehen zwei Blumen, eine schöne und eine häßliche. Die schöne sollst Du brechen, klein schneiden und auf einem Butterbrot verspeisen. Die häßliche laß stehn.“

„Ich muß mir das alles sauber notieren“, seufzte die Königin. „Sonst mach ich am Ende noch etwas falsch.“

Die Königin tat, wie geheißen. Zwei große weiße Porzellanschüsseln voll Wasser; Gesicht und Hände benetzt. Den König kommen lassen. Alles über seine Füße gekippt. Den König beschwichtigt. Endlich das Licht ausgelöscht und eingeschlafen.

Zwei Blumen wuchsen am Morgen danach. Soll ich sie beschreiben? Die eine mit fleischigen Blüten, die andere ganz verwelkt. Die eine mit glänzenden Blättern, die andere glanzlos. Grün die eine, schwärzlich die andere. Die Königin hatte ihren Aufschrieb verlegt und schnitt deshalb kurzerhand beide Blumen ab. Sie halbierte ihr Butterbrot, belegte die Hälften mit dem feingehackten Grünzeug und verspeiste die Mahlzeit mit großem Genuß.

„Das wird schon nicht schaden. Viel hilft schließlich viel.“

Das tat es auch. Der Königliche Bauch schwoll an und füllte sich Tag um Tag mehr. Die Königliche Hoheit lächelte glücklich. Eines Tages aber legte sie sich ins Kindbett.

Eine nach der anderen, schlüpften die zwei ungleichen Schwestern heraus. Mit großem Ach und Krach kam die erste. Einen Rührlöffel hielt sie in der Hand! Auf einem Bock kam sie geritten! Was für ein Graus.

„Mama, wir sind da!“, krähte das garstige Kind.
„Gott helf mir, wenn ich deine Mama sein soll“, rief die Mutter.
„Keine Sorge. Wir drei schaffen das schon. Da kommt ja noch eine. Siehst, die ist viel hübscher als ich.“
Da seufzte die Königin und brachte auch noch die andere Schwester zur Welt.

Dieses Kind war so schön wie die Ältere häßlich. Der König freute sich über beide. Ob lieblich oder abstoßend, vor Gott und dem König ist jedes Kind gleich.

Die Ältere ritt auf dem Bock, sang, schwang wild den Löffel. Die Jüngere trippelte ihr hinterdrein, mit verklärtem Gesicht. Mutter, Zofen, sie wollten nicht zusehn. Sie trennten die beiden, nahmen die häßliche Schwester weg. Die Zweitgeborene schlüpfte ihnen durch die Beine, schlich hinüber zum Geschwister. Wo immer die eine war, da wollte die andere auch sein.

Auf der Straße klang es:

„Zottelhaube, Distelkind,
bockig wie ein Wirbelwind.“

So sangen die Kinder, so schrie lauthals die Ältere. Zottelhaube. Das Wort klebte an ihr wie eine schäbige Mütze. Sie trug es mit Stolz. Der Name blieb haften.

Die Schwestern wuchsen heran, die Jahre vergingen, ein jedes in seinem eigenen Takt. Die Königin blickte zum Fenster heraus. Sah eine wilde Kinderschar. Darunter Zottelhaube auf ihrem Bock, mit dem Löffel die freien Lüfte aufrührend. Die hübsche Schwester im Pulk mit den anderen und ebenso wild.

In einer Julnacht ruckelte es in den Schornsteinen, trippelte es auf den Dächern, klapperte es in den Fluren. Die Trollweiber suchten den Palast heim. Hier wollten sie Weihnachten feiern; das Schloßvolk hielt sich wohlweislich versteckt.

„Die Trollweiber? Auf’s Dach will ich sie jagen!“ Der Zottelkopf war nicht zu halten. Die Schwester sollte derweil auf die Eltern aufpassen, sollte Sorge tragen, daß alle Türen wohl verschlossen blieben.

Zottelhaube ließ den Rührlöffel wirbeln und hetzte, hoch die Treppen, runter die Treppen, hinter den Trollweibern her. Im sicheren Hort freuten sich alle königlich. Was mußten diese Weiber auch immer zur Weihnachtszeit schwärmen. Auf dem Flur war es bald still. Der König öffnete beherzt die Tür. Unter ihm steckte die Schwester ihren Kopf aus dem Zimmer. Doch das war nicht klug.

„Gott helf mir, mein Kind hat einen Kalbskopf“, schrie die Mutter auf.

Da fegte die Ältere auf ihrem Bock den langen Flur zurück
„Ein Dummschädel! Bei diesen Eltern auch nicht verwunderlich!“, wütete Zottelhaube. Die weinende Schwester fuhr sich wieder und wieder über das Haupt. Zottelkopf überlegte nicht lange.
„Das muß sich ändern. So paßt Du mir gar nicht.“
Mit der Schwester mußte sie zu den Trollhexen reisen; davon brachte niemand die Bockreiterin ab.
„Vater, gebt mir ein Schiff, einen Steuermann, eine Mannschaft. Zwieback, soviel das Schiff trägt. Reisen macht hungrig.“

Schließlich lenkte der König ein. Kopfjägerin und kalbsköpfige Schwester brachen bald auf.

Wie mit der Feder gezogen segelte das Schiff geradewegs über die See und auf das Land der Trollhexen zu. Das Schiff glitt in den Hafen hinein.

„Das ist kein Geschäft für euch. Wer sich rührt, kriegt eins mit dem Löffel“, drohte Zottelhaube Schwester und Reisegefährten. Sie selbst lenkte den Bock aufs Land und trabte den Anweg zur Trollburg hinauf. Da stand schon der schöne Kopf ihrer Schwester, auf einem Fenstersims. Ach, Tränen strömten aus den Augen, flossen die Wangen hinab!

Zottelhaube preschte heran, griff sich das Schwesternhaupt, machte kehrt, stieß dem Bock in die Flanken. Schwirrend und wirbelnd brachen Trollgestalten aus allen Ecken hervor. Zottelhaube aber ließ den Rührlöffel kreisen; der brave Bock selbst keilte und rammte und stieß.

Entmutigt ließen die Tollhexen ab. „Haben wir nicht gut mit dem Trollvolk verhandelt?“, frohlockte die zottlige Jungfrau.

Die Mannschaft stand im Kreis, als Zottelhaube der schönen Schwester den Kopf wieder aufsetzte und ihn sorgsam zurecht schob. Wohin sollte es jetzt noch gehen? So früh schon in die Heimat zurück?

„Ich will und will und will noch was von der Welt sehn“, rief Schwester Wiederschön. Zottelhaube studierte die Karte.
„Wir sind ziemlich hier. Was man so Welt nennt, befindet sich hauptsächlich dort.“

Das Schiff nahm Kurs auf ein fernes Königreich. Dort ankerte es im Hafen. Und wieder befahl Zottelhaube:
„Dies ist kein Geschäft für euch. Verhaltet euch still. Wer sich rührt, den mische ich mit dem Breilöffel auf!“
Ein König, ein Witwer wohnte hier, mit seinem einzigen Sohn. Er schickte seine Leute aus, um nach dem seltsamen Schiff zu forschen. Sie erblickten ein häßliches Mädchen mit wirbelnden, zottligen Strähnen. Es ritt auf dem Bock, trieb ihn hart über das Deck.

„Sagt Eurem König, wir sind da!“, krähte das garstige Mädchen.
„Wer seid ihr?“, riefen die Männer zurück.
„Zottelhaube mit ihrer bildschönen Schwester.“

Zottelhaube

Eine Bockreiterin? Mit einer bildschönen Schwester? So ein Unfug! Der König eilte zum Strand. Zwei Schwestern erblickte er in trautem Gespräch. Ach, und er sah nur die Schöne und wollte fortan nichts anderes mehr sehn.

„Aufs Schloß? Dich gleich mir ihr verloben? Nichts da!“, schrie Zottelhaube vom Schiff herüber. „Versprich mir erst Deinen Sohn! Der soll mich nehmen, dann heiratet Dich meine Schwester.“

„Gott helf mir, ich will diesen Wirrkopf nicht haben“, klagte der junge Prinz. Vergebens. Für zwei Paare ließ der König die Hochzeit bestellen. Der Sohn war verzweifelt. Solch schweren Kirchgang hatte er noch nie unternommen.

In einer Kutsche fuhren König und des Zottelhaupts schöne Schwester voraus.

Der junge Prinz auf seinem Pferd hintendrein. Neben dem Rappen schnaubte der Bock. Zottelhaube ritt gleichmütig wie immer und schwang den Rührlöffel nach altem Brauch.

‚So jung bin ich noch und doch ist mir gar nichts mehr peinlich‘, dachte der Prinz bei sich. ‚Sofern ich diesen Gang überhaupt überlebe.‘

„Du bist recht still. Und das an unserem Freudentag“, bemerkte der Wildkopf.

„Ich trau mich nicht lauter freuen.“

„Auch fragst Du recht wenig.“

„Das ist, weil ich mich vor Deinen Antworten fürchte.“

„Frag doch mal, warum ich auf diesem häßlichen Bock reite“, schlug Zottelhaube vor,

Der Prinz seufzte.
„Warum reitest Du auf diesem häßlichen Bock?
„Ist gar nicht häßlich. Schau doch genau hin.“
Dies tat der Prinz. Just ebenda war aus dem Bock ein prächtiger Gaul geworden, stärker und höher als der Rappe des Jünglings.

‚Na und‘, dachte der Prinz. ‚Ein feuriges Pferd macht eine Braut doch nicht schöner‘.

Und wieder ritten beide stumm nebeneinander. Zottelhaube lächelnd, der Prinz sorgenvoll und bedrückt.

„Warum manche Prinzen gar nicht neugierig sind“, begann das wilde Mädchen aufs Neue.
„Ehrlich gesagt, will ich gar nicht so viel wissen.“
„Frag doch mal, warum ich diesen blöden Breilöffel schwinge.“
Der Prinz seufzte wieder.
„Warum schwingst Du diesen blöden Breilöffel?“, fragte er schließlich.
„Ist gar nicht blöde. Schau doch genau hin.“
Und wie er so hinsah, verwandelte sich der stumpfe Kochlöffel in eine lange Reitgerte. Zottelhaube, die vortreffliche Reiterin, hielt sie lässig und sicher.

Und weiter ging es. Der Prinz blieb in sich gekehrt wie ein paar vom Wind verwirbelte Blätter am Wegrand.

„Ich weiß, was Du mich eigentlich fragen willst“, warb Zottelhaube wieder um ihn.
Als Antwort kam nur ein Seufzer. Aus tiefstem Herzen. Doch das ließ der Wildfang, das lassen wir gelten.
„Frag doch mal, warum ich diese grauslige Zottelhaube trage.“
Ein weiteres Mal wollte der Prinz aufseufzen. Doch er fragte stattdessen:
„Warum trägst Du diese grauslige Zottelhaube?“
„Ist gar nicht grauslig. Lieber Dummkopf, schau doch genau hin.“
Dies tat der Prinz und sah die Verwandlung mit eigenem Auge. Da schwadronierte kein rauhbeiniges Frauenzimmer, da ritt neben ihm auf einmal das beste Mädchen der Welt. Nichts mehr zu sehen vom zottligen, haarigen Filz. Jetzt warf ein Blondkopf das prächtige Haar.
„Leider nur mittelblond,“ lachte die Braut.
„Die Farbe von Weizen und Sommer“, antwortete der Prinz.

Bevor die beiden Schwestern in die Kirche traten, wandten sie sich noch einmal um, faßten sie sich an der Hand, blickten sie über die See.
„So verschieden“, sagte die eine.
„Doch immer dieselbe“, sagte die zweite.

Quelle:
(Gerhard Winkle)

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content