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Die geheimnisvolle Schatztruhe

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Früher, als die Menschen noch keine Märchen kannten, lebte einmal ein König, der eine wunderschöne Schatztruhe besaß. Schatztruhen waren eigentlich nichts Ungewöhnliches in einem Schloss, aber diese Schatztruhe war etwas Besonderes. Sie war aus purem Gold, mit Edelsteinen und Diamanten besetzt. Sobald das Sonnenlicht auf die Truhe fiel, leuchtete sie so bunt wie ein Regenbogen.
Kein Mensch wusste, was sich in der Truhe befand. Denn der König versteckte sie mit einem Schloss versehen in seiner Schlafkammer. Der Schlüssel dazu hängte an einer goldenen Kette, die der König um den Hals trug. Die Halskette nahm der König niemals ab, außer wenn er sich einmal im Monat in seine riesengroße, mit Schaum bedeckte Badewanne legte. Da war es besser, alles auszuziehen, fand der König. Und genau in so einem Moment entwendete ein neugieriger Diener ganz heimlich und leise den Schlüssel und lief damit zum königlichen Schmied. Der sollte ihm schnell einen zweiten, gleichartigen Schlüssel nachmachen. Schon bald darauf legte der Diener den Schlüssel wieder an seinen Platz, sodass der König von alldem nichts mit bekam.
Eines Tages, als der König zur Jagd ausgeritten war, schlich sich der Diener in das Zimmer des Königs, öffnete vorsichtig die Schatztruhe und staunte über den Inhalt. So etwas hatte der Diener noch nie zuvor gesehen. Welch ein Glanz! Welch ein Klang! Der ganze Raum war mit wundervollen Melodien erfüllt, Wörter und Sätze flogen durch die Luft, es war einfach himmlisch. Lauter Märchen schwebten durch die Gegend.
Der Diener ließ sich aufs Bett fallen. Er wollte nur ein wenig den Geschichten lauschen. Vor lauter Begeisterung und Spannung vergaß er die Zeit und alles andere um sich herum.
Plötzlich stand der König vor ihm. „Was erlaubst du dir?“, schnaubte er, rannte zur Schatztruhe, knallte den Deckel zu und drehte den Schlüssel herum. Eiligst lief er zum Fenster und verschloss es, so als müsste er Feinde abwehren und schrie: „Du hast meine Märchen freigelassen! Das sind meine Märchen! Hol sie mir sofort wieder zurück!“
Der Diener schämte sich für seinen Ungehorsam. Jetzt erst wurde ihm bewusst, was er angerichtet hatte. Trotzdem bereute er keine Minute, die er mit dem Hören der Märchen zugebracht hatte. Also machte sich der Diener auf den Weg, um die verlorenen Märchen zurückzuholen. Das war keine leichte Aufgabe. Die Geschichten hatten sich blitzschnell in allen Himmelsrichtungen verteilt. Und mit jedem Mal, wo sie ein neues zuhörendes Ohr gefunden hatten, vermehrten sie sich. Denn die Zuhörer erzählten die Märchen weiter – jeder auf seine Art und Weise. Manchmal erfanden die Menschen etwas dazu oder ließen etwas weg, jedenfalls veränderten sich die Märchen.
Der Diener ist bis heute noch nicht zum König zurückgekehrt. Was das wohl bedeuten mag? Jedenfalls ist alle Welt dem Diener sehr dankbar dafür, dass er die geheimnisvolle Schatztruhe geöffnet hat.
 
 
Quelle: Carmen Kofler

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