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Der Hirte

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Es war einmal ein armer Hirtenknabe, dem Niemand in der Welt hold und verwandt war, außer seiner Stiefmutter. Die Stiefmutter aber war ein böses Weib, und gönnte ihm weder etwas im, noch am Leibe. Der arme Knabe litt so manche Noth. Den ganzen Gottes langen Tag mußte er mit dem Vieh auf der Weide umherziehen; erhielt aber nicht das Geringste, außer Morgens und Abends einen kleinen Bissen Brot.
Eines schönen Tages ging die Stiefmutter fort, ohne irgend eine Speise zurückzulassen. Der Hirtenknabe mußte auf diese Art nüchtern das Vieh zum Walde treiben, und als er sehr hungrig wurde, weinte er bitterlich. Als aber der Mittag kam, trocknete er seine Thränen ab, und ging auf einen grünen Hügel hinauf, wo er nach seiner Gewohnheit ausruhte, wenn im Sommer die Sonne heiß brannte. Auf dem Hügel pflegte es immer frisch und thauig unter den belaubten Bäumen zu sein, jetzt aber war der Thau fort, der Boden dürr, und das Gras niedergetreten. Dies kam dem Hirtenknaben seltsam vor, und er wunderte sich, wer in das grüne Gras getreten sein möchte. Wie er so recht in tiefen Gedanken saß, bemerkte er etwas, das wie die Sonne flimmerte und glänzte.
Der Knabe sprang hin, um nachzusehen, und fand ein paar kleine, kleine Stücke von verwitterten, überaus weißem Glase. Da ward er wieder vergnügt, vergaß seinen Hunger, und spielte den ganzen Tag mit den kleinen Glasstücken.
Am Abend, als die Sonne in den Wald ging, lockte der Hirtenknabe sein Vieh, und trieb es heim. Als er nun ein Stück Weges gegangen war, begegnete ihm ein kleiner, kleiner Knabe. Der grüßte freundlich: »Guten Abend!« »Guten Abend!« grüßte wieder der Hirtenknabe. Der Kleine fragte: »Hast du meine Glasstücke gefunden, die ich am Morgen im grünen Grase verloren?« Der Hirtenknabe gab zur Antwort: »Ja, ich habe sie gefunden. Aber, Lieber, laß‘ mich die kleinen Stücke behalten; ich hatte im Sinne, sie meiner Stiefmutter zu geben, vielleicht bekomme ich ein wenig Speise, wenn ich heim komme.«
Der Knabe bat nun sehr dringend: »Gib mir meine Glasstücke zurück, ein anderes Mal will ich dir wieder dienen.« Da gab ihm der Knabe die kleinen Glasstücke zurück, der Kleine aber war sehr froh, nickte vertraulich und sprang fort.
Der Hirtenknabe rief sein Vieh zusammen, und begab sich auf den Heimweg. Als er zum Hofe kam, war es schon finster, und die Stiefmutter schalt, daß er so spät komme. »Es ist noch Brei übrig in der Schüssel, iß nun, und lege dich zu Bette, daß du früh Morgens mit dem anderen Vieh hinauskommen kannst.« Der arme Hirtenknabe durfte auf diese harten Worte nichts antworten, sondern aß, und schlich sich hierauf zum Heuboden, wo er zu schlafen pflegte. Die ganze Nacht aber träumte er von nichts Anderem, als von dem kleinen Knaben, und seinen kleinen Glasstücken.
Am Morgen aber, ehe die Sonne im Osten schien, wurde der Knabe vom Rufe seiner Stiefmutter aufgeweckt: »Auf, spute dich, du Faulenzer, es ist heller Tag, und die Thiere sollen deinetwegen nicht heim bleiben, und hungern.« Er stand nun sogleich auf, erhielt einen Bissen Brot, und trieb sein Vieh auf die Weide. Als er zu dem grünen Hügel kam, wo es immer kühl und schattig war, schien es ihm wunderbar, daß der Thau vom Grase abgeschüttelt und der Boden dürr war, ja beinahe mehr als den Tag vorher. Als der Knabe nun so recht in tiefen Gedanken saß, sah er etwas, was im grünen Grase lag, und an der Sonne schimmerte. Er lief sogleich hin, und fand eine kleine, kleine Mütze; aber die Mütze war von rother Farbe, und kleine goldene Glöckchen waren an allen Seiten daran befestiget. Da freute sich der Knabe, so daß er seinen Hunger vergaß, und spielte den ganzen Tag mit der schönen Mütze.
Am Abend, als die Sonne in den Wald ging, versammelte der Hirtenknabe sein Vieh, und machte sich bereit, es heim zu treiben. Als er aber nun den Weg antrat, begegnete ihm eine sehr kleine, und noch dazu schöne Jungfrau. Sie grüßte freundlich: »Guten Abend!« »Guten Abend!« grüßte auch der Hirtenknabe. Die Kleine fragte: »Hast du meine Mütze gefunden, die ich am Morgen im Grase verloren?« Der Knabe antwortete: »Ja, ich habe sie gefunden. Aber Liebe, laß‘ mir die kleine Mütze, ich dachte sie meiner bösen Stiefmutter zu geben, so erhalte ich vielleicht ein wenig Speise, wenn ich heimkomme.« Die Jungfrau bat nun sehr schön: »Gib mir meine Mütze zurück, ein andermal will ich dir wieder dienen.« Da gab der Hirtenknabe ihr die kleine Mütze, die Jungfrau aber freute sich sehr, nickte freundlich, und lief ihres Weges.
Der Knabe versammelte nun sein Vieh, und begab sich nach Hause. Als er zum Hof kam, war es schon finster, und die Stiefmutter hatte ihn lange erwartet. Sie war nun sehr mißlaunig, und sagte: »Komme mir nie mehr so spät nach Hause, daß ich die halbe Nacht aufsitzen, und melken muß. Dort steht Brei übrig in der Schüssel, iß nun, und lege dich zu Bette, damit du früh Morgens mit dem anderen Vieh hinauskommen kannst.« Der arme Knabe durfte auf die harten Worte nichts antworten, sondern aß, und schlich sich hierauf auf den Heuboden, wo er zu schlafen pflegte. Die ganze Nacht aber träumte er von nichts Anderem, als von der kleinen Jungfrau, und ihrer rothen Mütze.
Am Morgen, ehe der Tag graute, wurde der Knabe mit dem gewöhnlichen Rufe von seiner Stiefmutter geweckt: »Steh‘ auf, du Faulenzer! Die Thiere dürfen deinetwegen nicht warten, und hungern.« Der arme Knabe stand sogleich auf, und machte sich bereit, die Thiere auf die Weide zu treiben; ehe er aber ging, bat er seine Stiefmutter um einen Bissen Brot. »Brot,« sagte das böse Weib, »ein Taugenichts, wie du, verdient kein Brot.« Der Knabe mußte sogleich fortgehen, ganz hungrig, was ihm schwer zu Gemüthe ging. Als er nun zum grünen Walde hinauskam, und sich auf den Hügel niedersetzte, wo er in der Sonnenhitze zu ruhen pflegte, kam es ihm seltsam vor, daß der Boden noch mehr abgedorrt, als die vorhergehenden Tage, und das Gras in großen Kreisen niedergetreten war. Da erinnerte er sich, was er von den kleinen Elfen gehört, daß sie in den Sommernächten in dem thauigen Grase ihren Reigen beginnen, und er ahnte, daß dieses ein Elfenring oder Elfentanz sein möge. Als er nun so in tiefen Gedanken saß, stieß er mit dem Fuße an eine kleine Klingel, die im Grase lag. Die kleine Schelle aber klang dabei so angenehm, daß alles Vieh zusammenlief, und sich anstellte, aufzuhorchen. Da ward der Knabe so fröhlich, und spielte mit der kleinen Schelle, daß er darob seinen Schmerz vergaß, und die Kühe ihre Weide verließen. Und so verging auch der Tag weit schneller, als er gedacht hatte.
Als der Abend kam, und die Sonne mit den Wipfeln des Waldes gleich stand, rief der Hirtenknabe sein Vieh, und machte sich bereit, wieder heimzukehren. Wie er aber auch schreien und rufen mochte, das Vieh wollte sich nicht von der Weide trennen, denn dort war ein schöner und grasreicher Ort. Da dachte der Knabe bei sich: »Vielleicht gehorchen sie der kleinen Schelle besser.« Er nahm daher seine Schelle hervor, und klingelte, als er den Weg betrat. Sogleich kam die Schellenkuh ihm nachgelaufen, und mit ihr folgte das übrige Vieh. Da ward der Hirtenknabe frohen Sinnes, denn er wußte nun wol, wie er die kleine Schelle benützen könne. Als er nun fortging, begegnete ihm ein kleiner, kleiner Greis. Der Greis grüßte freundlich: »Guten Abend!« »Guten Abend!« entgegnete der Knabe. Der Kleine fragte: »Hast du meine Klingel gefunden, die ich am Morgen im grünen Grase verloren?« Der Hirtenknabe erwiederte: »Ja, ich habe sie gefunden.« Der Greis sagte: »Gib sie mir zurück!« »Nein,« antwortete der Knabe; »ich bin nicht so dumm, wie du denkst. Vorgestern fand ich zwei kleine Glasstücke, die forderte mir ein kleiner Knabe ab. Gestern fand ich eine Mütze, die gab ich einer kleinen Jungfrau wieder, und nun kommst du, und willst mir die kleine Klingel nehmen, die so gut ist, um das Vieh damit zu locken. Andere Finder bekommen einen Finderlohn, aber ich bekomme nie etwas.« Der Kleine gab nun manches schöne Wort, daß er seine Klingel wieder zurückgeben solle; aber Nichts half. Da sagte der Greis: »Gib mir die kleine Klingel wieder, und ich will dir hier etwas anderes geben, womit du dein Vieh locken kannst, dabei sollst du dir drei Dinge wünschen.« Dem Knaben gefiel der Antrag, und er stimmte gerne ein. Er nahm nun das Wort: »Nachdem ich mir wünschen kann, was ich will, so wünsche ich, daß ich König werde; so wünsche ich, daß ich einen großen Königshof bekomme, und so wünsche ich, daß ich eine schöne, schöne Königin gewinne.« »Du wünschest dir nichts Geringes,« entgegnete der Kleine, »behalte aber wol, was ich dir nun sage. Nachts, wenn Alle schlafen, sollst du vom Hause gehen, bis du zu einem Königshof kommst, der rechts im Norden liegt. Hier hast du eine Pfeife von Bein. Wenn du in Noth kommst, so blase darauf. Kommst du ein zweites Mal in große Noth, so blase nochmals. Kommst du aber das dritte Mal in große Gefahr, dann zerbrich die Pfeife, und ich will dir helfen, wie ich es versprochen.« Der Knabe dankte sehr für das Geschenk des Greises, und so ging der Elfenkönig seines Weges. Der Hirtenknabe aber zog heim, und freute sich, daß er jetzt befreit werden sollte, das Vieh seiner bösen Stiefmutter auf die Weide zu treiben.
Als der Knabe zur Wohnung heim kam, war es schon finster, und die Stiefmutter hatte seine Heimkunft lange erwartet. Sie war jetzt sehr erbittert, so daß der arme Knabe Schläge statt zu Essen bekam. »Dieses dauert wol nicht mehr so lange,« tröstete sich der Knabe, als er zum Heuboden sich fortschlich. Er legte sich hierauf zur Ruhe, und überließ sich einem kurzen Schlummer.
Nach Mitternacht aber, lang ehe der Hahn krähte, stand der Hirtenknabe auf, schlich vom Hofe fort, und begann seinen Weg rechts nach Norden, wie der Greis gesagt hatte. Er wanderte so ohne Rast und Ruhe über Berge und Thäler, und zweimal ging die Sonne unter, während er noch auf dem Wege war.
Am dritten Tage gegen Abend kam der Hirtenknabe zu einem Königshofe, der so groß war, daß er nie deßgleichen gesehen zu haben sich erinnerte.
Der Knabe ging in die Küche, und bat um einen Dienst: »Was weißt du, oder welches Gewerbe treibst du?« fragte der Küchenmeister. »Ich kann mit dem Vieh auf die Weide gehen,« entgegnete der Knabe. Der Küchenmeister sagte: »Der König bedarf eines tüchtigen Hirten, aber es geht wol mit dir, wie es mit den andern ging, daß du jeden Tag ein Stück von deiner Herde verlierst.« Der Knabe antwortete: »Ich habe nie ein Thier verloren, wo ich auf die Weide trieb.« Er wurde nun in den Dienst am großen Königshof genommen, und weidete die Thiere des Königs; nie aber raubte ihm der Wolf irgend ein Thier, und so war er wol angesehen unter allen Dienern des Königs.
Eines Abends, als der Hirte sein Vieh nach Hause trieb, bemerkte er eine kleine Jungfrau, die am Fenster stand, und auf seinen Gesang lauschte. Der Knabe ließ sich nichts merken, obschon es ihm ganz warm unter dem Wams wurde. So ging es einige Zeit, und der Hirtenknabe freute sich jedesmal, so oft er die kleine Jungfrau sah, er wußte aber noch nicht, daß sie die Tochter des Königs war. Da ereignete es sich eines Tages, daß die junge Maid zu ihm gegangen kam, wo er sein Vieh auf die Weide trieb. Sie hatte ein kleines, schneeweißes Lamm mit sich, und bat ihn so freundlich, daß er das kleine Lamm vor den Wölfen im Walde behüten möge. Hierbei ward dem Hirten so wunderlich zu Muthe, daß er weder sprechen, noch antworten konnte. Er nahm nun das Lamm mit sich, und hatte seine größte Lust daran, es zu hüten. Das Thier huldigte ihm aber auch, wie ein Hund, der mit seinem Herrn spielt. Von dem Tage an sah der Hirtenknabe oft die schöne Königstochter. Des Morgens, wenn er auf die Weide treib, stand die Jungfrau am Fenster und lauschte auf seine Gesänge. Des Abends aber, wenn er aus dem Walde heim kam, ging die Prinzessin hinab, um ihr kleines Lamm zu liebkosen, und einige freundliche Worte mit dem Hirtenknaben zu sprechen.
So ging es eine geraume Zeit. Der Hirtenknabe wurde zu einem schmucken Jungen, die Königstochter aber blühte heran, und ward die schönste Jungfrau, die nah und fern zu finden war. Gleichwol kam sie jeden Abend, um ihr Lamm zu liebkosen, wie sie es gewohnt war. Eines schönen Tages aber war die Prinzessin fort, und konnte nicht wieder gefunden werden.
Da herrschte große Betrübniß und Unruhe am ganzen Königshofe, denn Alle liebten sie; der König aber, und die Königin trauerten am allermeisten. Der König ließ deßhalb ein Aufgebot über das ganze Land ergehen, daß derjenige, welcher seine Tochter wieder bringen würde, die Prinzessin, und dazu das halbe Königreich erhalten sollte. Da kamen die Königssöhne und Jünglinge und Kämpen, sowol von Osten als auch von Westen; sie kleideten sich in Eisen, und zogen mit Waffen und Gefolge hinaus, um die geraubte Jungfrau zu suchen. Deren aber waren nicht viele, die von der Fahrt zurückkehrten, und die, welche heim kamen, hatten weder etwas gehört, noch erkundet. Der König und die Königin trauerten nun über die Maßen, und meinten, daß sie einen Schaden erlitten, der nie mehr geheilt werden könne. Der Hirte trieb wie früher sein Vieh in den Wald, er war aber nicht mehr froh, denn die schöne Königstochter lag ihm im Sinn, jeden Tag und jede Stunde.
Eines Nachts schien es dem Hirten im Schlafe, als stünde der kleine Elfenkönig vor seinem Bett, und sage: »Nach Norden! Nach Norden! dort findest du deine Königin.« Da freute sich der Junge, und sprang in die Höhe, und als er erwachte, sieh‘, da stand noch der Kleine da, und winkte: »Nach Norden! Nach Norden!« Hierauf verschwand der Greis, der Hirte aber wußte nicht recht, ob es nicht doch eine Täuschung gewesen. Als es nun tagte, ging der Junge auf die Burg, und begehrte mit dem König zu sprechen. Hierüber wunderten sich alle Diener des Königs, und der Küchenmeister sagte: »Du hast so viele Jahre geweidet, daß du wol eine Zulage des Lohnes und der Kost erhalten magst, ohne daß du gerade mit dem Könige selbst zu sprechen brauchst.« Der Hirte aber bestand fest auf seinem Begehren, und kündete ihnen, daß er etwas ganz anderes im Sinne habe. Als er nun in den Saal hinaufkam, fragte der König nach seinem Anliegen. Der Junge nahm das Wort: »Ich habe viele Jahre dir treu gedient, und nun bitte ich um Erlaubniß, fortzuziehen, und die Prinzessin aufzusuchen.« Da ward der König erzürnt, und sagte: »Wie willst du, der du mit den Thieren auf die Weide gehst, das zu unternehmen denken, was kein Kämpe oder Königssohn auszurichten vermochte?« Der Hirte aber antwortete freimüthig, daß er die Prinzessin aufsuchen, oder für sie das Leben opfern wolle. Da mäßigte der König seinen Zorn, und gedachte des alten Spruchs: »Oft schlägt unter einem Bauermantel ein adelig Herz.«
Er gab daher Befehl, daß der Hirte auf das Beste ausgerüstet werden solle, mit Habe und mit Pferden, und mit Allem, was er sonst noch bedürfe. Der Junge aber sagte: »Ich passe nicht auf ein Pferd; gebt mir blos eure Einwilligung und Urlaub, sammt hinlänglicher Wegzehrung.« Der König wünschte ihm hierauf Glück auf den Weg; alle Pagen und anderen Diener am Königshofe aber lachten über das gewagte Unternehmen des Hirten.
Der Junge wanderte nun gegen Norden, wie der Elfenkönig ihn gelehrt hatte, und ging so lange fort, daß er wol nicht mehr weit zum Ende der Welt haben konnte.
Nachdem er so über Berge und öde Steige gereis’t war, kam er zuletzt zu einem großen See; mitten in der See war eine schöne Insel, und auf der Insel lag ein Königshof, noch weit ansehnlicher, als der, von welchem der Hirte gekommen war. Der Junge ging zum Seestrande hinab, und beschaute den Königshof von allen Seiten. Als er sich so um und um sah, gewahrte er eine Jungfrau mit schönem goldenen Haar, die am Fenster stand, und mit einem Seidenband winkte, welches das Lamm der Königstochter zu tragen pflegte. Da hüpfte dem Jungen das Herz im Leibe, denn nun fiel ihm ein, daß keine Andere, als die Prinzessin dieses Mädchen sein könne. Er setzte sich nun, um nachzusinnen, wie er über das Wasser zum großen Königshofe kommen könne; aber er wußte keinen Rath. Endlich erinnerte er sich, daß er wol versuchen könnte, ob die kleinen Elfen ihm helfen wollten. Er nahm daher seine kleine beinerne Pfeife hervor, und blies einen weithin hallenden Ton. »Guten Abend!« sagte in demselben Augenblicke eine Stimme hinter ihm. »Guten Abend!« grüßte der Junge zurück, und wandte sich um. Da stand vor ihm der kleine Knabe, dessen Glasstücke er einmal im grünen Grase gefunden hatte. »Was willst du von mir?« fragte der Elfenknabe. Der Hirte sagte: »Ich bitte, führe mich über den See zum Königshofe.« Der Knabe erwiederte: »Setze dich auf meinen Rücken.« Der Junge that, wie ihm geheißen; in demselben Augenblicke aber veränderte der Knabe seine Gestalt, und ward zu einem großen, großen Habicht; der durch die Luft flog, und nicht früher ruhte, bis sie zur Insel gekommen, wie der Hirte verlangt hatte.
Der Junge ging nun in die Burg hinauf, und begehrte Dienst. »Was verstehst du, und was ist dein Gewerbe?« fragte der Küchenmeister. »Ich kann mit dem Vieh auf die Weide gehen,« entgegnete der Hirte. Der Küchenmeister sagte: »Der Riese bedarf wol eines tüchtigen Hirten, vielleicht aber ergeht es dir, wie es den andern ergangen; denn wenn du irgend ein Vieh verlierst, gilt es dein Leben.« Der Junge erwiederte: »Dies scheint mir eine bedenkliche Bedingung zu sein, ich will sie aber dennoch eingehen.« Da hieß ihn der Küchenmeister willkommen, und sagte, daß er seinen Dienst den andern Tag antreten könne.
Der Junge ging nun mit dem Vieh des Riesen auf die Weide, und sang seine Lieder, und klingelte mit der Schelle, wie er es gewohnt war; die Königstochter aber saß am Fenster, und lauschte, und winkte ihm zugleich, er solle sich nichts merken lassen. Am Abend trieb der Hirte wieder das Vieh aus dem Walde heim.
Da kam der Riese ihm entgegen gegangen, und sagte: »Du stehst mir mit deinem Leben für das fehlende Stück ein;« kein Thier aber fehlte, wie der Riese auch zählen mochte. Nun ward der Riese freundlich und sprach: »Du sollst mein Hirte bleiben, dein Leben lang.« Er ging hierauf zum Seestrande, machte seinen verzauberten Kahn los, und ruderte dreimal um die Insel, wie er zu thun pflegte. Während der Riese fort war, stellte sich die Königstochter an das Fenster, und sang:

»Zu Nacht! Zu Nacht! du Hirtenknab‘,
Da wird verdunkeln sich mein Stern.
Und kommst du dann, so bin ich dein
Die Krone gebe ich dir gern.«

Der Hirte horchte auf den Gesang, und verstand, daß er Nachts kommen, und die Königstochter befreien müsse. Er ging fort, ohne daß er etwas merken ließ. Als es aber spät war, und Alle im tiefsten Schlafe lagen, schlich er sich wieder zum Thurm, stellte sich unter das Fenster und sang:

»Zu Nacht, erwartet dich der Hirt‘,
Am Gitter dort er traurig hält;
Und kommst du dann, so wirst du mein,
Wenn schon der Schatten weithin fällt.«

Die Königstochter flüsterte: »Ich bin mit goldenen Ketten gebunden, komm‘ und zerbrich sie.« Da wußte sich der Hirte keinen Rath, sondern nahm seine kleine Pfeife, und blies einen weithin hallenden Ton. »Guten Abend!« sagte in demselben Augenblicke eine Stimme hinter ihm. »Guten Abend!« erwiederte der Hirte den Gruß, und sah sich um. Da stand vor ihm der kleine Elfenmann, von welchem er einmal die Klingel und die beinerne Pfeife bekommen.
»Was willst du von mir?« fragte der Greis. Der Hirte erwiederte: »Ich bitte, daß du mich und die Prinzessin hinwegführst.« Der Kleine sagte: »Folge mir.« Sie gingen zum Thurme hinauf, zum Käfich der Jungfrau. Die Thür der Burg aber öffnete sich von selbst, und als der Greis die Kette berührte, brach sie in Stücke entzwei. Hierauf gingen sie alle drei zum Strande hinab. Da sang der Elfenmann:

»Du kleiner Hecht! es birgt den Mond
Das Schilf; o komme, komme gleich;
Auf dir dann die Prinzessin thront,
Dazu ein König auch, so reich.«

In demselben Augenblicke kam die kleine Jungfrau, deren Mütze der Hirte im grünen Grase gefunden hatte. Sie hüpfte in den See, und ward zu einem großen Hecht, der lustig im Wasser umher schwamm. Da sagte der Elfenkönig: »Setzet euch auf den Rücken des Hechten. Die Prinzessin aber darf sich nicht fürchten, wenn etwas geschieht, denn dann ist meine Macht zu nichte.« So sprach der Alte, und verschwand. Der Hirte aber und die schöne Königstochter thaten, wie er gesagt hatte, und der Hecht führte sie schnell durch die Wogen.
Während sich dieses Alles zutrug, hielt der Riese Wacht auf dem Dachboden, sah durch das Windauge, und bemerkte, wie der Hirte auf dem Wasser mit der jungen Königstochter davon fuhr. Sogleich nahm er seine Adlergestalt an, und flog ihnen nach. Als der Hecht aber das Geräusch des Flügelschlages des Adlers vernahm, tauchte er tief in das Wasser hinab, worüber die Königstochter sich zu fürchten begann, so daß sie laut schrie. Da war die Macht des Elfenkönigs zu nichte, und der Riese ergriff beide Flüchtlinge mit seinen Krallen. Als er wieder zum Königshof gekommen, ließ er den Hirten in ein dunkles Loch werfen, wol fünfzig Klafter unter der Erde; die Prinzessin aber setzte er in den Jungfern-Zwinger, und sie wurde so bewacht, daß sie nicht entkommen konnte.
Der Junge lag nun im Thurme gefangen, und es war ihm schlimm zu Muthe, da er die Königstochter nicht befreien konnte, und zugleich sein eigenes Leben verspielt hatte. Da erinnerte er sich dessen, was der Elfengreis gesagt hatte: »Wenn du das dritte Mal in große Gefahr kommst, zerbrich dann die kleine Pfeife, und ich will dir helfen.« Als nun der Hirte wol wußte, daß er nie mehr das Tageslicht sehen werde, nahm er die kleine beinerne Pfeife hervor, und zerbrach sie in Stücke. »Guten Abend!« hörte er in demselben Augenblicke eine Stimme hinter sich. »Guten Abend!« grüßte der Hirte zurück, und sah sich um. Da stand vor ihm der kleine Greis, und fragte: »Was willst du, daß du mich rufst?« Der Hirte antwortete: »Ich will die Prinzessin befreien, und sie zu ihrem Vater heimführen.« Nun nahm ihn der Greis mit sich, und sie gingen durch verschlossene Thüren und durch viele prächtige Zimmer. Zuletzt kamen sie in einen großen Saal, der mit allerhand Waffen, Schwertern, Spißen und Aexten angefüllt war, von welchen einige wie blanker Stahl, und einige wie reines Gold glänzten. Der Greis machte ein Feuer an der Feuerstätte, und sagte: »Entkleide dich.« Der Hirte that es, und der Kleine verbrannte seine alten Kleider. Hierauf ging der Greis zu einer großen Eisenkiste, und nahm eine kostbare Rüstung heraus, die von dem reinsten Golde schimmerte. »Kleide dich an!« sagte er. Der Hirte that es. Als nun der Junge vom Kopf bis zum Fuß in voller Rüstung stand, band der Greis ein scharfes Schwert an seine Seite, und sprach: »Es ist bestimmt, daß der Riese von diesem Schwerte falle, und in diese Rüstung schneidet kein Stahl.« Der Hirte aber fühlte wol Muth in der goldenen Rüstung, und er bewegte sich darin, als wäre er der tapferste Königssohn. Hierauf kehrten sie wieder zu dem dunklen Gefängnißloch. Der Hirte dankte dem Elfenkönig für seinen guten Beistand, und so schieden sie von einander.
Gegen Morgen entstand ein großer Lärm und Geräusch im ganzen Hofe, denn der Riese feierte seine Hochzeit mit der schönen Königstochter, und hatte seine Verwandten zu einem Gastmahl geladen. Die Prinzessin war nun auf das Allerprächtigste gekleidet, mit Goldkrone, rothen Ringen und anderem kostbaren Schmuck, welchen die Mutter des Riesen selbst getragen. Hierauf wurde die Hochzeit mit Lustbarkeiten begangen, und es fehlte weder an Speise, noch Trank. Die Braut aber weinte ohne Unterlaß, und ihre Thränen waren so heiß, daß sie wie Flammen auf der Wange brannten.
Als es nun bis in die Nacht gedauert, und der Riese seine Braut zur Brautkammer führen wollte, schickte er seinen Pagen, den Hirten zu holen, der im Gefängniß lag. Als sie aber in den Thurm hinabkamen, war der Gefangene fort, und statt seiner stand dort ein tapferer Kämpe, mit Schwert, Panzer und vollen Waffen. Bei diesem Anblick erschraken die Jungen und flohen, der Hirte aber folgte ihnen nach, und kam so zum Burghof hinauf, wo die Brautschar versammelt war, sein Lebensende zu schauen. Als nun der Riese den rüstigen Kämpen erblickte, ward er erzürnt, und sagte: »Schande über dich, du arger Troll!« Als er sprach, waren seine Augen so wild, daß sie mitten durch die Rüstung sahen. Der Junge aber fürchtete nichts, sondern antwortete: »Hier sollst du mit mir um deine schöne Braut streiten.« Der Riese wollte nicht warten, sondern entwich. Der Hirte aber zog sein Schwert, und es flammte wie eine feurige Flamme. Als nun der Riese das Schwert erkannte, durch welches er fallen sollte, erschrak er, und sah bleich zur Erde; der Hirte aber ging keck auf ihn los, schwang sein Schwert, und führte einen gewaltigen Hieb; so daß der Kopf des Riesen vom Körper getrennt wurde. Dies war das Ende des Riesen.
Als die Hochzeitsgäste dies sahen, wurden sie von Furcht befallen, und fuhren jeder in sein Loch; die Königstochter aber lief hin, und dankte dem tapferen Hirten für ihre Befreiung. Sie gingen hierauf zum Seestrande hinab, lösten das verzauberte Schiff des Riesen, und ruderten von der Insel fort. Als sie zum Königshofe heim kamen, entstand eine große Freude, und der König war entzückt, als er seine einzige Tochter wieder gefunden, die er so lange betrauert hatte. Hierauf wurde eine prächtige Hochzeit veranstaltet, und der Hirte erhielt die schöne Königstochter. Sie lebten nun glücklich und vergnügt noch viele, viele Jahre, und sahen ihre Kinder heranblühen. Die Schelle aber und die zerbrochene beinerne Pfeife werden zum Angedenken noch heut zu Tage auf dem Königshofe aufbewahrt.

[Gunnar Hyltén-Cavallius/George Stephens: Schwedische Volkssagen und Märchen ]

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