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Der Robbenfänger und die Meerleute

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An der Nordküste von Schottland lebte in einer kleinen Hütte ein Mann, der Fischfang trieb, vor allem aber Robben fing. Deren Felle wurden ihm gut bezahlt. Die Tiere kamen in großer Zahl aus dem Meere und legten sich auf die Felsen bei seinem Hause in die Sonne. So war es nicht schwer, ihnen beizukommen. Einige darunter fielen durch ihre Größe auf, und manche meinten, das seien überhaupt keine Robben, sondern Wassermänner und Meerfrauen, die auf dem Grunde der See wohnten. Aber der Robbenfänger lachte nur darüber und sagte, gerade damit mache man das beste Geschäft: je größer die Tiere, desto größer die Felle und um so höher die Preise.
Eines Tages hatte er beim Jagen ein Missgeschick. Das Tier, nach dem er stieß, entglitt ihm mit lautem Geheul ins Wasser mitsamt dem Jagdmesser, das in ihm steckte. Als er verdrießlich nach Hause ging, kam ein Fremder dahergeritten, der noch ein zweites Pferd mit sich führte. Er hielt den Robbenfänger an und sagte, er sei von jemand abgeschickt, der mit ihm einen Handel über eine Anzahl Seehundsfelle schließen wolle, und ob er mit ihm zu dem Auftraggeber gehen: es müsse aber sofort sein. Der Robbenfänger freute sich. Da war ein guter Handel in Aussicht, der konnte den Verlust mehr als wett machen. Er willigte also ein, bestieg das zweite Pferd, und der Fremde ritt mit ihm so geschwind los, dass der Wind, der, wie der Fischer wusste, doch vom Rücken her kam, ihm ins Gesicht zu blasen schien. Mit einemmal hielt der Fremde an, sie standen an einem Felsenhang, der in die See hineinragte und steil abstürzte.
„Hier ist es“, sagte der Führer, packte dabei den Fischer mit übernatürlicher Kraft und stürzte sich ohne weiteres mit ihm gerade ins Meer hinein. Der Robbenfänger dachte schon, jetzt sei es aus mit ihm, da merkte er zu seinem Erstaunen, dass sich etwas mit ihm verändert hatte. Mitten im Wasser konnte er ganz leicht atmen, und dabei sanken sie immer tiefer und so schnell, wie sie vorher zu Land durch die Luft gesaust waren. Sie waren – er wusste nicht wie tief – hinabgetaucht, da kamen sie auf dem Grunde an ein großes gewölbtes Tor, das schien aus rosenroten Korallen gemacht und war besetzt mit Herzmuscheln. Es öffnete sich von selbst, und sie traten in einen großen Saal, dessen Wände aus Perlmutt waren und dessen Boden aus glattem, festem Seesand bestand.
Der Saal war voll von Gästen, lauter Robben, aber sie sprachen und zeigten an ihrem gebaren, dass sie wie Menschen empfanden. Sie schienen alle sehr traurig zu sein, bewegten sich lautlos durch den Saal, sprachen leise miteinander oder lagen schwermütig auf dem Sandboden und wischten sich mit ihren weichen felligen Flossen große Tränen aus den Augen.
Der Robbenfänger wandte sich zu seinem Begleiter und wollte ihn fragen, was das alles bedeutete – da sah er zu seinem Schrecken, dass der ebenfalls die Gestalt eines Seehundes angenommen hatte. Noch mehr entsetzte er sich aber, als er nun gewahr wurde, dass auch er selber nicht mehr den Menschen ähnlich, sondern in einen Seehund verwandelt war. Ganz benommen und verzweifelt war er bei dem Gedanken, dass er nun sein Leben lang in dieser schauderhaften Gestalt bleiben müsse.
Jetzt zeigte ihm sein Führer plötzlich ein langes Messer und fragte ihn: „Hast du das schon einmal gesehen?“ Er erkannte sein eigenes, womit er am Morgen den Seehund getroffen hatte. Er erschrak so sehr, dass er auf sein Gesicht fiel und um Gnade bat. Er dachte nicht anders, als dass sie Rache an ihm nehmen und ihm ans Leben gehen wollten. Statt dessen aber umringten sie ihn und rieben ihre weichen Nasen an seinem Fell, um ihm zu zeigen, wie gut sie es mit ihm meinten, und baten ihn gar sehr, er solle nur ruhig sein; es würde ihm nichts geschehen und sie würden ihn ihr ganzes Leben lang lieben, wenn er nur täte, was sie von ihm verlangten. Sein Führer brachte ihn in einen Nebenraum. Da lag ein großer brauner Seehund auf einem Lager von blassrotem Seetang mit einer klaffenden Wunde an der Seite.
„Es war mein Vater“, sagte sein Führer, „den Du heute morgen verwundet hast. Ich habe Dich hierher gebracht, damit du ihm die Wunde verbindest. Denn keine andere Hand als die deinige kann ihn gesund machen.“
„Ich verstehe zwar nicht viel von der Heilkunst“, sagte der Robbenfänger und war erstaunt über die Nachricht dieser seltsamen Geschöpfe, denen er solches Unrecht getan hatte, „aber ich will ihn verbinden, so gut ich nur kann. Es tut mir von Herzen leid, dass meine Hand ihm die Wunde schlug.“
Er ging zu dem Bett, wusch und besorgte den Kranken, so gut er nur konnte. Kaum war er damit fertig, da schien sich die Wunde schon zu schließen und zu heilen. Nur eine Narbe blieb, und der alte Seehund sprang, so munter wie je. Da verwandelte sich die Trauer in allgemeine Lust und Freude, im ganzen Robbenpalast lachten sie, schwätzten sie, küssten sich in ihrer sonderbaren Weise, scharten sich um den Alten, rieben ihre Nasen gegen seine, als wollten sie ihm zeigen, wie glücklich sie über seine schnelle Heilung wären.
Der Robbenfänger stand die ganze Zeit in einer Ecke, bedrängt von finsteren Gedanken. Er sah wohl, sie wollten ihn nicht töten – aber sollte er nun sein ganzes übriges Leben lang als Seehund hier klaftertief unter dem Meere bleiben? Da nahte sich zu seiner großen Freude wieder sein Führer und sagte: „Nun steht es dir frei, zu Weib und Kindern heimzukehren. Ich will dich zu ihnen bringen, aber nur unter einer Bedingung.“ – „Und welche wäre das?“ fragte der Robbenfänger begierig und war ganz außer sich vor Freude bei dem Gedanken, unversehrt wieder in die Oberwelt und zu seiner Familie zurückkehren zu dürfen. „Dass du einen feierlichen Eid schwören willst, nie wieder einen Seehund zu verwunden.“ Das wollte er gern tun. Wenn er damit auch den Robbenfang, seinen bisherigen Lebensberuf, aufgeben musste, so wusste er doch, nur so würde er seine richtige Gestalt wiedergewinnen können. Schließlich konnte er sich ja dann später auf irgendeine andere Art sein Brot verdienen.
So legte er den geforderten Eid mit aller Feierlichkeit ab, hielt seine Flosse hoch zum Schwur, und alle die anderen Robben stellten sich neben ihn als Zeugen. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Säle, als die Worte gesprochen waren: denn er war der tüchtigste Robbenfänger im Norden gewesen.
Dann sagte er der seltsamen Gesellschaft Lebewohl. Mit seinem Führer zog er wieder durch das äußere Korallentor und hoch durch das schattenhafte grüne Wasser, bis es anfing immer lichter zu werden und sie zuletzt auftauchten im Sonnenschein der Erde. Mit einem Sprung waren sie oben auf der Klippe, wo die beiden schwarzen Rosse schon auf sie warteten und ruhig das grüne Gras abknabberten.
Als sie das Wasser verließen, fiel ihre seltsame Verkleidung von ihnen ab, und sie waren gerade so wie vorher, ehe sie ins Wasser hinabgetaucht waren: ein einfacher Robbenfänger und ein hochgewachsener gutgekleideter Mann im Reitanzug. Dann geschah alles wie vorher, die Pferde sausten dahin, und es dauerte nicht lange, da stand der Robbenfänger wieder wohlbehalten vor seinem Haus. Wie er dem Fremden die Hand hinhielt, um Lebewohl zu sagen, zog der einen großen Beutel Goldes heraus und reichte ihn hin: „Du hast deine Pflicht bei dem Handel erfüllt – wir müssen es ebenso machen“, sagte er. „Man soll nie sagen dürfen, wir hätten eines ehrlichen Mannes Arbeit beansprucht, ohne uns erkenntlich zu zeigen.“
Damit verschwand er. Als der Robbenfänger in seiner Hütte den Beutel auf dem Tisch ausleerte, war es so viel, dass er nicht bedauern brauchte, seinem Handwerk entsagt zu haben.

Quelle: (Schottisches Märchen)

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