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Vom verlorenen Kinde

2.3
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In einem Farmhause, das noch heute in der Gemeinde Llanfabon zu sehen ist und Berth Gron genannt wird, lebte einstmals eine junge Witwe mit ihrem einzigen Kinde. Nachdem sie ihren Gatten verloren hatte, war in ihrer Einsamkeit dieser junge Sohn, Griff mit Namen, ihr einziger Trost geworden.
Er war etwas über drei Jahre alt und ein stattliches Kind für sein Alter.
Zu jener Zeit ward die Pfarrgemeinde von den Bendith y Mamau besonders stark heimgesucht und wenn der Mond voll und glänzend am Himmel stand, da pflegten diese die Einwohner durch ihre Musik bis gegen Morgengrauen nicht Ruhe finden zu lassen. Die Kobolde von Llanfabon waren bekannt durch ihre Häßlichkeit und sie waren in gleicher Weise verrufen durch die Streiche, die sie vollführten.
Sie stahlen Kinder aus ihren Wiegen, während die Mütter abwesend waren oder lockten Erwachsene durch ihre betörende Musik in irgendeinen verpesteten und verödeten Sumpf; Schelmentaten, die ihnen ein besonderes Vergnügen zu bereiten schienen. Es war daher nicht wunder zu nehmen, wenn die Mütter den ganzen Tag auf der Hut waren, ansonst sie ihre Kinder verloren hätten.
Was die Witwe betrifft, so war sie dermaßen wachsam über ihren Sohn, daß manche Leute in der Nachbarschaft zu sagen pflegten, sie wäre zu ängstlich um ihn und daß eben darum noch irgend ein Unheil ihrem Kinde zustoßen würde. Doch sie zollte keine Beachtung dergleichen Worten, denn all ihre Freude, ihr Trost und ihre Hoffnungen, sie fanden sich in ihrem Kinde verkörpert.
Da geschah es nun eines Tages, daß sie aus der Richtung des Kuhstalles eine wehklagende Stimme vernahm, und in der Furcht, daß irgend etwas dem Vieh begegnet sein könnte, eilte sie dahin und ließ dabei die Tür des Hauses offen, wo ihr Söhnchen im Kinderbettchen lag. Wer kann den Kummer der armen Mutter beschreiben, als sie zurückkam und gewahrte, daß ihr Kind verschwunden war! Sie suchte überall nach ihm, doch es war vergebens!
Gegen Anbruch der Nacht erschien ein kleiner Bursche vor ihr und sagte ganz deutlich vernehmbar:
»Mutter!«
Sie warf einen Blick auf ihn und entgegnete dann:
»Du bist nicht mein Kind!«
»Ich bin es wahrhaftig«, sagte der Kleine.
Aber der Mutter schien es damit nicht richtig und sie wollte es nicht glauben, daß dies ihr Sohn war. Etwas flüsterte ihr beständig zu, – wie es denn auch war – daß das nicht ihr Sohn sei.
Wie immer auch, jener verblieb ein ganzes Jahr lang bei ihr, doch schien er inzwischen keineswegs wachsen zu wollen, dieweil Griff, ihr Sohn, ein kräftig sich entwickelnder Knabe gewesen. Überdies wurde der kleine Kerl mit jedem Tage häßlicher.
Schließlich entschloß sich die Witwe, zu einem weisen Manne zu gehen, um von ihm Auskunft und Aufklärung in dieser Angelegenheit zu erlangen.
Es lebte nämlich zu Castell y Nos ein Mann, der wegen seiner tiefen Kenntnis der Geheimnisse der Teufelswelt einen weiten Ruf genoß. Nachdem sie diesem ihr Anliegen vorgebracht und er es geprüft hatte, wandte er sich mit folgenden Worten an sie:
»Jener ist ein Crimbil; dein eigenes Kind dagegen ist mit jenen alten Bendiths an irgendeinem verborgenen Ort. Doch wenn du meine Weisungen getreulich und bis ins kleinste befolgen willst, wird dir dein Sohn alsbald wiedergegeben werden. Nun vernimm: morgen um Mittag schneide ein Ei mitten entzwei, werfe die eine Hälfte fort, behalte die andere aber in deiner Hand und mische den Inhalt fortwährend nach vorwärts und rückwärts. Trachte, daß der kleine Bursche anwesend sei und darauf achte, was du vollführst; aber versuche ja nicht, selbst ihn darauf aufmerksam zu machen – sein Interesse muß vielmehr angezogen werden, ohne daß er angerufen wird – und höchstwahrscheinlich wird er dich fragen, was du machst. Du hast ihm zu antworten, daß du ein Brot für die Schnitter bereitest. Laß es mich wissen, was er darauf entgegnen wird.«
Die Frau kehrte heim und am nächsten Morgen befolgte sie des weisen Mannes Rat aufs genaueste. Der kleine Bursche stand neben ihr und sah ihr aufmerksam zu. Alsbald fragte er:
»Mutter, was machst du da?«
»Ich mische ein Brot für die Schnitter, mein Knabe.«
»Ach, das wird daraus! Ich hörte von meinem Vater« – er hatte es von seinem Vater gehört! – »daß die Eiche vordem eine Eichel war und daß die Eiche in der Erde stecke; aber ich habe niemals noch gehört oder gesehen, daß irgend jemand das Brot für die Schnitter in einer Eischale mischte.«
Die Frau bemerkte, wie sehr verdrießlich er dreinsah, als er so redete, was zu seiner Häßlichkeit noch beitrug, so daß er nachgerade abstoßend war.
Am Nachmittag begab sich die Frau zum weisen Mann, um ihm mitzuteilen, was der Zwerg gesprochen hatte.
»O«, sagte jener, »er ist von dieser alten Brut! Nun denn, der nächste Vollmond wird in vier Tagen sein. Du mußt dahin gehen, wo die vier Straßen oberhalb Rhyd y Gloch einander kreuzen. Erscheine dort Schlag zwölf Uhr in der Nacht, da der Mond voll sein wird. Trachte dich an einer Stelle zu verbergen, von wo du die Enden der sich kreuzenden Straßen überblicken kannst. Und solltest du irgend etwas gewahren, was dich aufregen könnte, trachte dennoch still zu bleiben und deine Gefühle zu beherrschen, andererseits der Plan vereitelt und du deinen Sohn nicht mehr zurückerlangen würdest.«
Die unglückliche Mutter wußte nicht, was sie von dem seltsamen Auftrag des weisen Mannes halten sollte; sie tappte im Dunkeln wie früher.
Schließlich kam die Zeit heran und zur bezeichneten Stunde verbarg sie sich sorgsam hinter einem breiten Buschwerk, ganz in der Nähe, von wo aus sie alles ringsher übersehen konnte. Sie blieb da geraume Zeit auf der Lauer, doch nichts war zu sehen oder zu hören, dieweil die tiefe und melancholische Stille der Mitternacht über alles gelagert war.
Endlich vernahm sie die Klänge von Musik, die aus der Ferne herankam. Näher und näher erschollen die süßen Töne und sie lauschte ihnen mit hingerissener Aufmerksamkeit. Ehe noch jene ganz nahe waren, bemerkte sie schon, daß es eine Prozession der Bendith y Mamau war, die irgendwohin auf dem Wege sich befand.
Da wimmelte es von Hunderten von Kobolden auf jedem Fleckchen und in der Mitte der Prozession – ein Anblick, der ihr das Herz durchbohrte und das Blut in ihren Adern stocken machte, – gewahrte sie, zwischen vier der Bendith einhergehend, ihr eigenes teures Kind!
Sie vergaß sich da und machte sich daran, in ihre Mitte zu springen, um es ihnen – wenn sie es vermochte – gewaltsam zu entreißen. Doch als sie im Begriff stand, aus ihrem Versteck hervorzulaufen, da erinnerte sie sich noch rechtzeitig der Warnung des weisen Mannes, daß jede Störung durch sie alles zunichte machen würde und sie ihr Kind niemals mehr wiedersehen könnte.
Als die Prozession vorbeigezogen war und die Klänge der Musik in der Ferne verstummten, da trat sie aus ihrem Versteck hervor und richtete ihre Schritte heimwärts.
War sie schon bisher voll Sehnsucht nach ihrem Sohne gewesen, so ward sie es nun um so gewaltiger. Und ihr Widerwille gegen den kleinen Zwerg, der ihr Sohn zu sein vorgab, war jetzt noch um ein beträchtliches gestiegen, denn sie war nun bei sich vollends überzeugt, daß er einer von der alten Brut war.
Sie wußte nicht, wie sie ihn nur einen Augenblick noch unter ihrem Dache ertragen könnte, geschweige denn, von ihm sich »Mutter« ansprechen zu hören. Allein trotzdem verfügte sie über genügend Selbstbeherrschung, um sich gegen den häßlichen Knirps in ihrem Hause geziemend zu benehmen.
Am Morgen aber eilte sie ohne Zögern zu dem weisen Mann, um ihm zu berichten, von was sie Zeuge in der vergangenen Nacht gewesen und weitere Weisung zu finden. Der weise Mann hatte sie erwartet und als sie eintrat, bemerkte er schon an ihren Blicken, das sie irgend etwas erlebt, was sie in Unruhe versetzte.
Sie erzählte ihm, was sie am Kreuzwege gesehen und nachdem er es vernommen, öffnete er ein mächtiges Buch, das er vor sich liegen hatte. Dann, nachdem er lange darin umhergespäht, erklärte er ihr, daß, bevor sie ihr Kind zurückerlangen könnte, es notwendig wäre, daß sie eine schwarze Henne finde ohne eine einzige weiße Feder, oder solche von irgend einer anderen Farbe als Schwarz. Diese sollte sie über einem Holzfeuer braten, mitsamt ihren Federn und völlig unversehrt. Überdies sollte sie, sobald sie die Henne übers Feuer gebracht, jedes Loch und jeden Abzug in der Mauer verschließen, ausgenommen von einem einzigen. Und sie sollte dem Crimbil nicht die geringste Beachtung schenken, bis daß die Henne nicht gar und alle Federn von ihr abgefallen wären. Sodann möge sie nachsehen, wo er wäre.
So sonderlich auch die Weisung des weisen Mannes klang, sie war entschlossen, sie zu befolgen.
Daher ging sie am nächsten Tage daran, zwischen ihren Hennen nach einer der benötigten Art zu suchen; doch zu ihrer Enttäuschung fand sie keine solche. Sie begab sich nun auf die Suche von einem Farmhaus zum anderen; allein das Glück schien ihr zürnen zu wollen; da sie das Gewünschte nirgends erlangte.
Indessen nun, als sie darüber beinahe verzweifelt war, entdeckte sie solch eine Henne, wie sie deren benötigte, in einem Bauernhause am Ende des Dorfes. Sie erstand sie und nachdem sie heimgekehrt war, richtete sie das Feuer her und tötete die Henne, die sie über die lodernde Flamme im Herde brachte.
Dieweil sie das Braten der Henne überwachte, hatte sie vollständig des Crimbils vergessen und war in eine Art von Weltverlorenheit versunken, als sie plötzlich durch die Töne von Musik, die außerhalb ihres Hauses erklangen, aus ihrem Traumzustand erweckt wurde; von einer Musik, die jener ähnelte, die sie einige Nächte vorher am Kreuzweg vernommen.
Die Federn waren unterdessen von der Henne abgefallen, und als die Frau nun nach dem Crimbil ausschaute, da war dieser verschwunden!
Die Mutter durchspähte nun mit wilden Blicken das Haus und zu ihrem Entzücken vernahm sie mit einem Male die Stimme ihres verlorenen Sohnes, der von der Straße her nach ihr rief. Sie stürzte ihm entgegen und küßte ihn leidenschaftlich. Doch als sie ihn befragte, wo er so lange gewesen, da wußte er nichts anderes zu berichten, als daß er einer wundervollen Musik gelauscht habe. Er war sehr mager und bleich geworden, und es benötigte einer geraumen Zeit, bis er wieder völlig hergestellt ward. Und also endet die »Geschichte vom verlorenen Kinde«.

[Keltisch: M. Brusot: Keltische Volkserzählungen]

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