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Die tönende Linde

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Es war einmal ein Mädchen, dem war schon früh die Mutter gestorben, und so lebte es mit seinem Vater allein. Einmal ging das Mädchen seine Patin besuchen. Die Patin aber hätte den Witwer gern geheiratet. „Wenn dein Vater mich zur Frau nimmt“, versprach sie, „so werde ich deine Füße täglich in Milch waschen und dein Haar in Bier.“
Der Vater nahm auch tatsächlich die Patin zur Frau, und am ersten Tag wusch die neue Stiefmutter dem Mädchen noch die Füße in Milch und die Haare in Bier, doch schon am zweiten Tag nahm sie Spülwasser.
Nach einiger Zeit wurden der Stiefmutter drei Töchter geboren, die erste hatte nur ein Auge, die zweite zwei und die dritte hatte drei Augen. Das arme Mädchen musste täglich die Kühe auf die Weide treiben und bekam abends nur ein Stück hartes Brot und gepfefferten Käse. Und doch wurde sie von Tag zu Tag schöner und hatte rötere Wangen als ihre Stiefschwestern zusammen.
Das ließ der Stiefmutter keine Ruhe. Sie wollte dahinterkommen, wieso das Mädchen so aufblühte, und so schickte sie ihre einäugige Tochter mit auf die Weide. Die sollte gut Acht geben, was die Stieftochter den ganzen Tag über treibe.
Kaum waren sie auf der Weide, setzte sich die Einäugige ins Gras und befahl: „Kämm mir mein Haar!“ Das Mädchen kämmte sie und flüsterte dabei: „Schlaf, Äuglein, schlaf!“ Und die Einäugige schlief ein. Kaum hatte sie das Auge geschlossen, da lief eine gescheckte Kuh aus der Herde herbei und gab dem Mädchen aus einem Horn zu essen und aus dem anderen zu trinken. Am Abend erwachte die Einäugige und sie trieben gemeinsam die Kühe nach Hause.
„Nun, hast du etwas gesehen?“ fragte die Stiefmutter ihre Tochter, aber die hatte natürlich nichts gesehen.
Am nächsten Tag ging die zweite Tochter mit auf die Weide. Sie setzte sich ins Gras und befahl: „Kämm mir mein Haar!“ Das Mädchen kämmte sie und flüsterte dabei: „Schlaft, Äuglein, schlaft Äugelein beide!“ Und so schlief auch die zweite Stiefschwester ein und hat nichts gesehen.
Am dritten Tag schickte nun die Stiefmutter ihre dritte Tochter mit auf die Weide, und wie die ersten beiden, befahl auch sie: „Kämm mir mein Haar!“. Das Mädchen kämmte das Haar und flüsterte dabei leise: „Schlaft, Äuglein, schlaft Äugelein beide!“ Doch das dritte Auge hatte sie vergessen. Wieder kam die gescheckte Kuh gelaufen und gab ihr zu essen und zu trinken. Zwei Augen der Stiefschwester schliefen, doch das dritte sah alles mit. Als sie ihrer Mutter davon berichtete, beschloss diese, die Kuh zu schlachten.
Eines Tages sprach die Kuh zu dem Mädchen: „Heute wird man mich schlachten. Du aber lass dir von deiner Stiefmutter meine Eingeweide geben. Darin wirst du einen Stein finden, den pflanze unter deinem Fenster in die Erde.“
Das Mädchen tat, wie ihr die Kuh geraten hatte, und aus dem Stein wuchs schon bald eine gläserne Linde. Wenn der Wind in ihren Blättern spielte, so erklang ein silberner Ton. Unter dem Baum bellte ein Hündchen, und aus der Wurzel entsprang ein klarer Quell. Die Stiefmutter ließ das arme Mädchen in dem Quell Wäsche waschen, bis ihre Hände blutig davon waren.
Einmal fuhr ein Edelmann an dem Haus vorbei, und als er das Mädchen sah, gefiel es ihm so gut, dass er es zur Frau nehmen wollte. Doch die Stiefmutter wollte das nicht zulassen. Der Edelmann kam nach einer Woche in einer Kutsche gefahren, um das Mädchen zu holen. Da befahl die Alte: „Nehmt starke Ketten und bindet damit die Linde!“
Inzwischen hatte das Mädchen seine schönsten Kleider angezogen, es setzte sich zu ihrem Bräutigam in die Kutsche und fuhr mit ihm davon. Da sprengte die Linde ihre Ketten und sprang hinten auf den Wagen. Hinter der Kutsche aber lief fröhlich bellend das Hündchen her.
Nach einem Jahr wurde der jungen Frau ein Sohn geboren. Als das die Stiefmutter erfuhr, machte sie sich mit ihrer zweiäugigen Tochter auf, die junge Mutter zu besuchen. „Wie geht es dir, mein Töchterlein?“ fragte sie freundlich. „Danke, Mütterchen, gut.“ Die Alte trat ans Fenster und rief aus: „Oh, schau nur, mein Kind, wie da draußen im See die Fische spielen!“ Und als die junge Frau aus dem Fenster sah, gab die Alte ihr einen Stoß, so dass sie aus dem Fenster direkt in den See fiel. An der Stelle aber, wo sie verschwunden war, tauchte eine Ente auf und schwamm traurig auf den Wellen.
Die Stiefmutter legte ihre eigene Tochter in das Bett und ging nach Hause. Um Mitternacht aber kam eine Ente ins Zimmer geflogen, verwandelte sich in eine junge, schöne Frau, badete das Kind und weinte. Dann legte sie den Knaben zurück in die Wiege, küsste ihn auf die Stirn und sprach: „Meine Linde tönt nicht, mein Hündchen bellt nicht, nur mein Söhnchen, das weint gar sehr. Nun komme ich noch einmal, und dann nimmermehr.“ Dann verwandelte sie sich wieder in eine Ente und flog aus dem Fenster.
Eine Dienerin hatte alles mit angesehen und berichtete es dem Herrn. Der beschloss, in der nächsten Nacht in einem Versteck zu warten. Als die Nacht kam, flog wieder die Ente durchs Fenster, verwandelte sich in die schöne junge Frau, badete ihr Kindlein, küsste es auf die Stirn, als sie wieder in die Wiege legte und sprach: „Meine Linde tönt nicht, mein Hündchen bellt nicht, nur mein Söhnchen, das weint gar sehr. Nun komme ich nimmermehr.“
Bei diesen Worten sprang ihr Gemahl aus dem Versteck hervor und umarmte sie noch ehe sie sich wieder in eine Ente verwandeln konnte. Die junge Frau aber bat traurig: „Lass mich los, mein Liebster, meine Zeit ist um!“ „Nein, ich werde dich nie mehr von mir lassen!“ rief der Edelmann und drückte sie noch fester an sich. Da sagte die Frau: „Ich habe einen schmalen Gürtel um den Körper, wenn du ihn mit einem einzigen Schwertschlag durchschlägst, so darf ich bei dir bleiben. Doch wenn es dir nicht gelingt, so wird es mir schlecht ergehen.“
Mit einem einzigen Schlag durchschlug der Edelmann den Gürtel, und da stand seine Frau wieder fröhlich und rotwangig vor ihm wie eh und je. Und sie erzählte ihm, was ihr die böse Stiefmutter angetan hatte. Am nächsten Tag banden die Knechte die Stiefmutter an den Schweif eines wilden Pferdes und jagten es davon.
Die Linde aber tönte wieder, das Hündchen bellte, und das Söhnchen lächelte in seiner Wiege.

Quelle: sorbisches Märchen

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