In einem Land, gar nicht so weit entfernt, in einer Zeit, gar nicht so lange her, lebte einst ein reicher Kaufmann. Sein Reichtum, der immer größer wurde, reichte ihm allerdings nie. Stets war er bestrebt, weitere Schätze unter seinen Dächern zu horten. Um an diese Schätze zu gelangen, in Erfahrung zu bringen, wo sie lagerten, hatte er sich zur Gewohnheit gemacht, in ärmlicher Kleidung und somit unerkannt, im Gasthaus vor der Stadt einzukehren.
Hier war ein ständiges Kommen und Gehen. Handelskarawanen hielten hier an, so dass Mensch und Tier sich erholen konnten. Reisende aller Orten kehrten hier auf ein Mahl, einen Trunk oder auch auf ein heißes Bad ein.
So begab es sich, dass der Kaufmann wieder zugegen war, wieder den ihn bereits angestammten Platz in der Nähe der Eingangstür belegte, als ein junger Mann in der Kleidung eines Zimmermanns auf der Walz einkehrte. Der junge Mann nahm seinen breitkrempigen, schwarzen Hut ab, schaute sich im Schankraum um, einen freien Platz an den Tischen zu entdecken.
An diesem Abend war die Schänke nicht rege besucht. Er fand denn auch schnell einen Platz, setzte sich an einen Tisch, an dem bereits einige Männer saßen.
Dieser Umstand alleine ließ den Kaufmann aufmerken: Wohl einer, der nicht gern alleine sitzt. Einer der reden oder zuhören möchte. Einer, der Gesellschaft zu schätzen weiß.
Und richtig. Kaum hatte der Handwerksbursche die Bank unter seinem Allerwertesten, als er auch schon in die Runde der Anwesenden schaute.
„Ich bin schon sehr lange allein unterwegs, vermisse die Stimmen der Menschen. Sagt an, erzählt mir die Neuigkeiten der Gegend, die ich gerade mit meinen Füßen bearbeite.“
So fröhlich sprudelten die Worte aus seinem Munde, dass man sich gern ihm zuwandte, ihm von der Stadt und der Gegend zu erzählen.
Mit regem Interesse verfolgte der junge Mann dem Gesagten.
Der Kaufmann in seiner Ecke hatte allerdings längst gespürt, dass der Fremde ebenso begierig war, eine Geschichte zum Besten zu geben, wie es ihm drängte, Neuigkeiten zu erfahren.
So, als ginge ihn das Geschehen an dem einen Tisch nichts an, stand der Kaufmann auf, schlenderte durch den Schankraum, um sich dann wieder zu setzen. Diesmal allerdings auf einen Platz, der zum Lauschen viel besser geeignet war als der erste.
„Fürwahr, hier geschehen einige seltsame Dinge.“
Lachend schlug sich der Handwerksbursche auf die Schenkel, als einer der Anwesenden eine Anekdote zum Besten gab.
„Gern möchte ich Eure Freundlichkeit, mir berichtet zu haben, ebenfalls mit einem Erlebnis zollen. Wenn Ihr also gestattet….“
Er wartete das Einverständnis der anderen erst gar nicht ab, so begierig war ihm, das Erlebte zu erzählen.
„Was soll ich Euch sagen…
Ich war schon den ganzen Morgen bis weit in den Nachmittag schnellen Schrittes unterwegs, als ich am Rande eines Fichtenhains eine Pause einlegen musste. Der Schatten unter einer der letzten Fichten war so einladend, dass ich mich nieder ließ und am Stamm angelehnt einschlief.
Ich konnte nicht lange geschlafen haben, die Schatten waren kaum gewandert, als mich eine Melodie weckte. Schöner, feiner, zarter als jemals zuvor gehört.
Ich schaute mich um, den Vogel zu entdecken, der in der Lage sein sollte, solche Harmonien in den Himmel zu bringen. Es währte einige Zeit bis ich den Vogel entdeckte.
Einen Vogel, wie ich keinen zuvor jemals sah.
Leuchtend rot-gelb sein Gefieder, lange Federn wuchsen aus seinem Kopf, tanzten über seinen Rücken, vereinten sich mit den langen, geschwungenen Schwanzfedern zu einem zarten Gewebe, feiner, als das feinste Tuch des reichsten Königs.“
Der junge Mann hatte sich derartig in seiner Geschichte erhitzt, dass es ihn von seinem Platz gerissen hatte. Ruhelos, mit leuchtenden Augen und weit ausholenden Gesten schilderte er das Gesehene.
Seine Zuhörer saßen verzückt und teilweise mit geöffneten Mündern am Tisch, ließen kein Auge von dem Burschen.
„Hübsche Geschichte, mein Junge.“
Deutlich kamen die Worte auch mit verstellter Stimme über die Lippen des Kaufmanns.
„Ihr glaubt mir nicht?“
Heftig stürzte der Bursche auf den Alten in seinen schlechten Kleidern zu.
„Das habe ich nicht gesagt, mein Junge. Wo wollt Ihr denn diesen phantastischen Vogel gesehen haben?“
Jedes Wort kam einer Ohrfeige gleich.
Aber genau das bezweckte der Kaufmann.
„Ja, geht und schaut selber! Zwei gute Tagesmärsche nach Westen, Alter. Dort, wo am Fuße des Bergmassivs der Fichtenhain endet.“
Wütend rief der Bursche dem Wirt zu, ihm noch ein Bier zu bringen. Als er sich danach wieder dem Alten zuwandte, war dieser verschwunden. Sein suchender Blick durch den Schankraum fand ihn nicht mehr.
Schultern zuckend wandte er sich wieder den Leuten am Tisch zu.
„Glaubt zumindest ihr mir?“
„Ja.“
Ein sehr hagerer Mann mit sonnengebräunter Haut wandte sich ihm zu, sah ihm fest in die Augen.
„Der Vogel, den Ihr gesehen habt, ist ein Phoenix, mein Lieber.“
Die Worte des Mannes rührten den Jungen kaum, die Stimme aber ließ ihn aufmerken.
„Ich kenne keinen Phoenix. Was hat es mit diesem Vogel auf sich?“
„Der Phoenix ist ein Wesen, das, so sagen die Alten, in die Bereiche von Fabeln und Märchen gehört. Andere glauben, wissen, dass er existiert. Er gehört …“
„Natürlich existiert er! Ich habe ihn gesehen,“ unterbrach der Bursche den anderen.
„ … zu den ersten Wesen, die die Welt bewohnten. Wenn er erscheint, steht eine Veränderung bevor. Eine bemerkenswerte Veränderung, in der seine Kraft benötigt werden wird, den Rechten beizustehen, die Falschen zu strafen.“
Der Mann hielt kurz inne, schaute in die Gesichter der anderen.
„Was für eine Veränderung soll das sein?“
„Was soll das bedeuten: den Rechten beistehen, die Falschen strafen?“
„Welche Kraft wohnt dem Phoenix inne, die er einsetzen könnte?“
Wie Peitschenknallen flogen die Fragen der Umstehenden auf den Wissenden zu.
Langsam wandte er sich einem jeden Fragenden zu.
„Nach der Art der Veränderung fragt Ihr? Wer weiß das schon? Veränderungen erkennt man zumeist erst, wenn sie vollzogen sind.“
An den nächsten gewandt:
„Der Phoenix schaut nicht nur in die Gesichter der Menschen. Er schaut ihnen in Seele, Herz und Geist. So erkennt er jene, die reinen Herzens und frohen Mutes sind. Aber auch jene, die wider den Regeln leben und diese wird er zu richten wissen.“
Zum dritten:
„Der Phoenix hat viele Kräfte. Ich werde sie hier und jetzt und auch in weiter Ferne niemals kundtun. Sie sind und bleiben das Geheimnis des Phoenix.“
Derweil war der Kaufmann nach Hause geeilt. Hier entledigte er sich der ärmlichen Kleidung, zog sich seine guten Kleider an und ließ nach seinen Schergen rufen.
Als diese eingetroffen, prasselten die Befehle wie Hagelkörner auf sie nieder.
„Nehmt euch schnelle Pferde, reitet nach Westen! Ihr werdet ein Felsmassiv finden an das sich ein Fichtenhain anschließt. Dort sucht ihr einen besonderen Vogel: leuchtend im Gefieder mit wunderbarem Gesang. Bringt ihn mir und es wird euer Schaden nicht sein!“
So preschten die Schergen, drei an der Zahl, auf ihren Pferden westwärts. Zwei trugen zwischen sich, an einer hölzernen Stange aufgehängt, einen großen Vogelbauer, der dritte ein feinmaschiges Netz zusammengerollt über seinem Sattel.
Sie fanden die von dem Burschen bezeichnete Stelle am folgenden Tag. Genau wie jener allerdings erst zur Nachmittagsstunde.
Rasch hatten sie die Gegebenheiten erkundet und einen Plan ersonnen, den Vogel zu fangen. Man wolle sich bereits jetzt, da der Vogel ausgeflogen, auf die Lauer legen in Nähe seines Nestes. Sobald er heimgekehrt, wolle man ihm, vom Ausflug leicht ermüdet, das Netz überwerfen und ihn anschießend mitsamt des Netzes in den Bauer sperren.
Gesagt – getan.
Kaum, dass der Phoenix sich in seinem Nest niedergelassen hatte, warfen die drei das Netz über ihn. Sie erwarteten einen heftigen Kampf, doch ergab sich der Vogel ohne jedwede Gegenwehr seinem Schicksal.
Selbst als sie ihn in den Bauer steckten, begehrte er nicht auf. Ruhig, traurig seine Flügel hängen lassend, saß er in der Mitte des Bauers und erwartete das Kommende.
Als die drei Schergen dem Kaufmann berichteten, wie einfach der Fang vonstatten ging, wunderte er sich sehr. Es erfreute ihn aber auch, dass somit dem wunderbaren Vogel wohl auch keine Feder gekrümmt worden sei.
Erwartungsfroh lief der Kaufmann in den Pferdestall, wo zuerst einmal der Bauer abgestellt worden war.
Wie verwundert, wie erstaunt, wie zornig wurde der Kaufmann, als er denn in den Bauer schaute. Der von ihm geforderte Vogel, strahlend, leuchtend in seinem Gefieder, lieblich im Gesang, ward ihm nicht gebracht. Stattdessen saß ein unscheinbarer braun-grauer Vogel in dem Käfig, jämmerlich anzusehen mit seinen hängenden Flügeln und aus seinem Schnabel erklang lediglich das Krächzen eines waidwunden Tieres.
Blind vor Zorn ergriff der Kaufmann einen Dreschflegel, der an der Wand hing und schlug damit auf seine Schergen ein, vertrieb sie so von seinem Hof. Dem Vogelbauer versetzte er einen wütenden Tritt bevor er zurück ins Haus ging und grollend in seine Gemächer verschwand.
Des Nachts besuchte ihn ein wahrlich seltsamer Traum. Ihm träumte, dass der wundersame Vogel zu ihm sprach.
„Ich habe einen Auftrag zu erfüllen hier in deiner Heimat, Kaufmann. Gibst du mich nicht wieder in Freiheit, kann ich jenen nicht erfüllen. Dies wird mein Schaden nicht sein, aber der dieser Stadt und auch der deine. Entscheide als wohl!“
Verwirrt, ob dieses Traumes, lief der Kaufmann noch im Schlafgewand in den Pferdestall, besah sich den kränkelnden Vogel.
Wut über seinen Misserfolg gesellte sich zu seiner Habgier.
„So, so, du willst deine Freiheit haben? Die kannst du haben! Verwandele dich wieder in deine andere Gestalt, damit ich dich gut verkauft bekomme. Dann werde ich dafür Sorge tragen, dass du die Freiheit wieder erlangen wirst.“
Laut lachend ob seines Einfalls, betrat er wieder seine Gemächer und legte sich zu Bett.
Doch kaum war er eingeschlafen, erreichte ihn wieder der Traum.
Wieder sprach der Vogel zu ihm.
„Kaufmann, deine Worte waren nicht wohl gewählt. Dein Tun noch weniger. Eine zweite Gelegenheit will ich dir geben. Öffne den Bauer und lass mich frei.“
Ungehalten schlug der Kaufmann die Bettdecke zurück, schlüpfte in seine Hausschuhe und stapfte mit wütenden Schritten in den Pferdestall.
„Ich habe dir meine Entscheidung genannt. Ich bin ein Kaufmann. Ich entscheide mich EINMAL und wanke nicht mehr!“
Wütend trat er gegen den Bauer, stapfte zurück in sein Haus und legte sich wieder zur Ruhe.
Wie erwartet meldete der Vogel sich ein drittes Mal im Schlaf.
„Kaufmann, dies ist mein letzter Besuch. Ich kann dich nur bitten, Vernunft obsiegen zu lassen. Lass mich frei.“
So rasend vor Wut wie noch nie in seinem Leben rannte der Kaufmann die Stufen in die Halle hinunter, riss die Tür zum Innenhof auf, diesen zu überqueren. Mit weit gespreizten Beinen, die Hände in die Hüften gestemmt, stellte er sich vor den Vogel.
„Dies war dein letzter Besuch in meinem Traum? Das will ich dir auch geraten haben! Noch eine einzige Unterbrechung und ich werfe dich mitsamt des Bauern ins Kaminfeuer!“
Der Vogel sank noch weiter in sich zusammen, wurde zu einem unansehnlichen grauen Federknäul, das nur noch wenig Bewegung aufwies, von Gesang ganz zu schweigen.
Doch das erkannte der jähzornige Kaufmann nicht. Er war wieder in sein Bett gestiegen, überschlug zum Einschlafen die Summe, die er in den kommenden Tagen aus dem Verkauf des Vogels würde erzielen können. So schlummerte er, diesmal von weiteren Reichtümern träumend, bis in die Morgendämmerung hinein.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Radau und Krawall aus der Straße zu seinem Fenster aufstieg. Verwundert rieb er sich die verschlafenen Augen, wurde allerdings schlagartig hellwach, als der Tumult sich scheinbar in seinem Innenhof sammelte.
Er hörte harte Männerstimmen Befehle brüllen, hörte schwere Stiefel gegen Türen treten und Stufen hochsteigen, hörte die Tür seines Schlafgemaches gegen die Wand knallen.
Drei Männer, die Spuren von Dreschflegelschlägen noch auf Wangen und Unterarmen, standen in seinem Gemach, griffen nach ihm und zerrten ihn aus dem Bett, die Stufen hinunter und in den Innenhof hinein.
„Guten Morgen, Kaufmann!“
Wie gepeitschter Hohn trafen den am Boden Liegenden diese vermeintlich höflichen Worte. Er wollte aufbegehren, wollte jenes Gesindel in ihre Schranken weisen. Doch als er sich umsah, musste er erkennen, dass der gesamte Innenhof von jenen bevölkert war, die außerhalb der Stadtmauern als Vogelfreie ihr Dasein zu fristen hatten, weil sie gegen die Gesetze der Stadt verstoßen hatten.
Er erkannte den Müllersohn, den er angezeigt hatte, weil er eine von ihm überteuerte Schaufelspindel nicht vollständig bezahlt hatte.
Er sah den Metzger in der Masse stehen, dem er schlecht gearbeitete Messer zu überzogenen Preisen angedreht hatte, die jener auch nicht begleichen konnte.
Sogar die Hausdame des Richters sah er, als er sich umschaute. Ihrer persönlichen Dienste hatte er sich bedient, damit sie dem Richter aus bestellten und zu übertriebenem Preis verkauften Tuchen eine neue Robe erstellen konnte.
Gerade so viel Zeit wurde ihm gewährt, sich jene anzusehen, die durch seine Machenschaften geschädigt und verstoßen worden waren. Er sollte sich ihre Gesichter merken, sich der Begebenheiten erinnern.
Schon zückten die ersten ihre mitgebrachten Waffen.
Keine wirklichen Waffen, sondern jene der einfachen Leute, der Ausgestoßenen, der Vogelfreien eben.
Man hielt allerdings in der Bewegung inne, als ein Leuchten, ein gleißendes Strahlen aus dem Pferdestall dringend, den gesamten Innenhof erfüllte. Plötzlich lag ein so anmutiger, wohlklingender und beruhigender Gesang in der Luft. Lindernd legte sich dieser auf die erhitzen Gemüter, besänftigte die Wogen und ließ klare Gedanken sich Bahn brechen.
Der Kaufmann spürte sehr wohl die Veränderungen im Pöbel und richtete sich auf.
Höhnisch wollte er bereits jene verspotten, die angetreten waren, ihn zu richten, als sein Blick gen Pferdestalltor schweifte.
Langsam trat der wundersame Vogel aus dem Stall, begleitet weiterhin von dem übermäßigen Strahlen.
Nun ergriff auch den Kaufmann die Ehrfurcht und er senkte sein Haupt als der Phoenix auf ihn zutrat.
„Ich denke, du hast erkannt, wohin deine Habsucht dich getrieben hat. Es war nicht dein Verdienst, dass du noch lebend bist. Ich gab dir drei Möglichkeiten, die du nicht ergriffen hast.“
Beschämt walzte der Kaufmann seine Hände ineinander, wagte nicht, den Phoenix anzusehen, sondern hielt den Blick beständig zu Boden gerichtet.
„Aber ich kann in dein Herz schauen. Dort erblicke ich den kleinen Funken von Wandel, genährt durch den frischen Wind der Hoffnung. Ich wünsche für dich und für diese Stadt, dass du es schlaffen wirst, aus diesem Funken eine Flamme werden zu lassen.
Gib ab von deren Wärme und sie wird dir doppelt zurückgegeben werden!“
Damit erhob sich der Phoenix in den heller werdenden Morgenhimmel.
Zum Abschied sang er beim Aufsteigen den Anwesenden sein Lied.
Der Kaufmann sah dem Vogel noch lange nach, stand noch alleine im Innenhof als der Pöbel bereits in Gedanken versunken und schweigend von Dannen gezogen war.
Sehr nachdenklich erstieg der Kaufmann später die Stufen seiner Treppe und legte sich noch für ein Weilchen schlafen.
Man berichtet, von diesem Tage an habe der Kaufmann nurmehr angemessene Preise für seine Waren verlangt. Streitigkeiten wegen ausstehender Zahlungen gab es keine mehr. Wurde ein Käufer säumig, ging eher der Kaufmann hin, ihm seine Schuld zu erlassen, als dass er zum Richter ginge, den Säumigen anzuklagen.
Über die Jahre erblühte die Stadt in neuem Glanz und mit ihr die Augen des einst so verbitterten Kaufmann.
Quelle: Shannon O’Hara