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Die Schleifersöhne

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Ein Scherenschleifer, der zwei Söhne hatte, wollte in eine Stadt fahren, wo er immer viele Arbeit fand und sich deshalb jährlich längere Zeit aufzuhalten pflegte. Der Weg dahin führte durch einen Wald. Der Schleifer zog seinen Karren, und die zwei Knaben schoben das elende Fahrzeug, wie sie es gewöhnlich taten. Aber heute wollte die Fahrt nicht vorwärts gehen, denn der Weg war schlecht, und der Karren blieb ein über das andere Mal im Kot stecken. Mit Mühe und Schweiß kamen sie zwar weiter, doch nahmen die Kräfte des alten Schleifers immer mehr und mehr ab, bis er müde und matt zu Boden sank.
Da befahl er seinen zwei Knaben, in die Stadt zu rennen und ihm Speise und Trank zu holen. Die Burschen rührten sogleich hurtig ihre Beine und liefen schnurstraks gegen die Stadt. Als sie an das Ende des Waldes gekommen waren und schon die Stadt sahen, erblickten sie plötzlich im Farnkraut nahe am Weg einen seltsamen, wunderschönen Vogel. Da war aber auch der arme Vater vergessen, und ihr Sinnen und Trachten ging nur darauf, den schönen Vogel zu bekommen. Allein dieser ließ sich nicht einfangen und flog weiter, und wenn sie oft schon glaubten, ihn unter der Kappe zu haben, war er schon wieder entkommen und flog eine Strecke weiter, wo er dann wieder stillsaß. Die zwei Knaben liefen ihm über Stock und Stein nach und entfernten sich immer mehr vom Weg. Nach langem Laufen und Jagen gelang es ihnen endlich doch, des Vogels habhaft zu werden.
Nun liefen die zwei Knaben freudig zu ihrem Vater zurück und zeigten ihm den herrlichen Fang. Der Vater war aber voll Zorn und Ärger, daß sie ihm keine Speise brachten, zankte seine Kinder aus und wollte den Vogel fortfliegen lassen. Da sah er auf dem Kopf des Vogels folgende Worte geschrieben: »Wer meinen Kopf brät und ißt, findet täglich einen Sack voll Gold.« Kaum hatte er diese Worte gelesen, verwahrte er den Vogel ganz sicher, ließ sich dann auf den Karren heben und von seinen Söhnen in die Stadt ziehen. Dort angekommen, begaben sie sich ins Wirtshaus, in dem der Schleifer gewöhnlich Herberge nahm. Er trug dann den schönen Vogel sogleich in die Küche und befahl der Köchin, ihn zu braten und auf ihn gut achtzugeben, denn er habe ihn um sündteures Geld gekauft, und sein Fleisch solle ihm das Kopfweh vertreiben. Dann stärkte er sich vorläufig mit Brot und Wein und ging einstweilen seinem Geschäft nach.
Die Köchin tat nach seinen Worten, rupfte und putzte den Vogel sorgfältig und stellte ihn ans Feuer. Die zwei Knaben standen am Herd und sahen ihr zu. Da mußte die Köchin einmal die Küche verlassen, und die zwei Schleiferbuben blieben allein zurück. Das war für diese eine gemähte Wiese, denn sie waren hungrig wie Raben, und der Duft des Bratens kitzelte ihre Nasen gar sehr. Sie nahmen nun den Vogel, machten sich damit aus der Küche und teilten ihn dann unter sich, doch so, daß der ältere, der ein schlauer Patron war, dem jüngeren nur den Kopf des Vogels ließ. Dann aßen sie den Braten auf und ließen sich ihn gut schmecken.
Der alte Schleifer blieb aber auch nicht lange aus und verlangte seinen Braten. Die Köchin antwortete ihm, daß er verschwunden sei und sie nicht wisse, wohin. Seine Knaben seien in der Küche gewesen und müßten es wissen, wohin er gekommen sei. Da der Vater dies gehört hatte, ging ihm ein Lichtlein auf, er nahm eine Gerte, suchte die zwei Söhne in der Kammer auf und wichste den älteren durch, daß der Staub aufflog. Der Knabe gestand ihm aber kein Sterbenswörtchen. Als der Vater sah, daß an diesem Hopfen und Malz verloren war, nahm er den jüngeren beim Schopf und gerbte ihn gehörig durch. Da wurde es dem Knaben doch zu arg, und er gestand, daß er bloß den Kopf des Vogels gegessen habe, während sein Bruder alles übrige davon aufgezehrt habe. Wie der Vater dies hörte, dachte er sich, wenn das so ist, kann mir das Gold doch nicht entgehen, und ließ den Knaben laufen. Seine Mutmaßung bestätigte sich auch, denn er fand täglich unter dem Kopfkissen des jüngeren Sohnes einen schweren Beutel Goldes.
Der Schleifer gab nun sein früheres Gewerbe auf, kaufte sich Hof und Haus, Roß und Wagen und spielte den großen Herrn. Die Leute aber vergaßen nicht, was er früher war, und nannten ihn nur den Schleifer, und seine Söhne hießen überall die Schleiferbuben. Dies und das Betragen des Vaters, der ihnen nie sagte, woher er das viele Geld bekomme, verdroß die Knaben so sehr, daß sie eines Morgens auf und davon gingen und beschlossen, bei einem Müller in den Dienst zu treten.
Sie waren schon eine gute Strecke gewandert, als sie zu einer Mühle kamen und dort um einen Dienst anfragten. Der Müller hätte wohl einen Knecht angenommen, aber er wollte von zwei nichts wissen. Da sich die Brüder nicht trennen wollten, blieb ihnen keine Wahl, als weiterzuwandern und anderswo ihr Unterkommen zu suchen. Am folgenden Tag kamen sie wieder zu einer Mühle und traten dort in den Dienst. Sie arbeiteten fleißig und dienten ihrem Meister treu und redlich.
Da sagte einmal die Magd zu ihnen: »Glaubt ihr denn, ich sei eine Diebin, daß ihr jeden Morgen einen Beutel Gold unters Kopfkissen legt, um meine Redlichkeit zu prüfen?« Mit diesen Worten warf sie ihnen einige Beutel Gold vor die Füße und verließ sie.
Die zwei Schleifersöhne schauten ungläubig darein, nahmen das Gold und machten sich aus dem Staub, denn sie getrauten sich nicht länger zu bleiben. Als sie schon eine große Strecke gewandert waren und nirgends einen Dienst fanden, wo sie beisammenbleiben konnten, kamen sie zu einer riesigen Eiche, bei der sich der Weg teilte. Da sprachen sie: »Es geht so nicht, wir müssen uns trennen.«
Dann nahmen sie voneinander Abschied und versprachen sich, nach einem Jahr hierher zurückzukehren, um zu erfahren, wie es jedem von ihnen ergangen war. Nun steckten sie ihre Messer tief in den Stamm der Eiche. Sollte eines davon rostig befunden werden, so sei das ein Zeichen, daß es dem Eigentümer schlecht ergehe, und dann sollte der andere sich aufmachen, um den Bruder aus dem Unglück zu retten. Sie umarmten sich dann und schieden voneinander, worauf der ältere den Weg zur Rechten, der jüngere den zur Linken einschlug. Jeder ging ganz einsam seinen Weg, nur eine Flinte und einen Säbel hatte er bei sich.
Der ältere, der Hans hieß, kam bald in einen dichten Wald. Er war darin noch gar nicht lange fortgegangen, als er in der Nähe einen großen, schönen Fuchs erblickte. Das ist ein schöner Fang, dachte sich Hans, nahm die Flinte von der Schulter und wollte auf das schöne Tier anlegen. Da begann aber der Fuchs plötzlich zu reden und sprach. »Schone mein Leben, und ich will dir in Treue folgen. Vielleicht kann ich dir noch nützlich sein.«
Hans hatte Mitleid mit dem Tier und schenkte ihm das Leben. Der Fuchs kam nun ganz nahe heran und folgte dem Schleifersohn wie ein Hündchen seinem Herrn. Bald darauf kam ein Wolf aus dem Gehölz und wollte über den Weg gehen. Da nahm Hans wieder seine Flinte und wollte das Tier erlegen; aber der Wolf rief: »Laß mich leben, und ich will dir immer folgen und dir dankbar sein.«
Hans war es zufrieden und schenkte dem Wolf das Leben. Das Tier schritt nun herzu und begleitete den Schleifersohn. Nach einer Weile trabte ein zottiger Bär aus dem Dickicht hervor, da legte der Hans auf ihn an, aber der Bär brummte: »Laß mich leben, und ich werde dir dankbar folgen.«
Der Schleifersohn war damit einverstanden und ließ den Bären am Leben. Nun hatte der Hans einen Fuchs, einen Wolf und einen Bären zu seinen Begleitern und Dienern und kam bald aus dem dunklen Wald ins Freie. Von da gingen sie noch einen Tag lang und erreichten dann eine große, schöne Stadt. Darin sah es aber gar trüb und traurig aus, und die Leute waren niedergeschlagen, als ob ihnen ein großes Unglück geschehen wäre. Da fragte Hans ein altes Mütterchen, das ihm begegnete, was die tiefe Trauer und Totenstille zu bedeuten habe. Das Mütterlein antwortete: »Weil morgen des Königs einzige Tochter sterben muß«, und helle Tränen rollten über die abgemagerten Wangen der Alten.
Hans fragte: »Warum soll sie sterben? Ist sie todkrank?«
Das alte Mütterlein sprach: »Nein, aber der siebenköpfige Drache, der alljährlich einmal kommt und dem man eine Jungfrau geben muß, wird heute noch daherfliegen, und dieses Mal hat das Los die Königstochter getroffen. Morgen wird sie zur Kapelle geführt, wo sie der Drache in Empfang nimmt.«
Hans fragte: »Aber warum tötet man nicht den Drachen?«
Da sprach das Mütterchen: »Mein Kind, du hast leicht reden. Der König hat dem, der das Untier erlegt, die Hand seiner schönen Tochter versprochen, aber niemand will sein Leben gerne verlieren.«
Da dachte sich der Schleifersohn, vielleicht kannst du dir die Königstochter erwerben, und fragte, wo die Kapelle sei. Das alte Mütterlein beschrieb ihm den Weg zur Kapelle, und Hans bedankte sich dann und nahm von der Alten Abschied. Er wartete nicht lange und stieg mit seinen drei Tieren auf den Drachenberg, wo die Kapelle stand.
Es dauerte nicht lange, und das Untier brauste schon durch die Luft daher und schoß auf die Kapelle zu. Dort war aber Hans mit den drei Tieren, und er hetzte diese auf den Drachen los. Doch dieser spie Feuer aus und wollte ihn mit seinen scharfen Krallen packen. Da waren aber auch die drei Tiere nicht faul und sprangen auf das Höllentier los und Hans führte so gewaltige Streiche, daß der geflügelte Wurm einen Kopf nach dem anderen verlor. Dann trabte der Bär auf dem Drachen herum und zertrat das Ungetüm. Hans aber schnitt aus den sieben Drachenköpfen die Zungen, wickelte sie in sein Sacktuch und ging in die Kapelle. Er war vom Kampf so müde und matt geworden, daß er sich kaum aufrecht halten konnte und sehr nach Schlaf begehrte. Dann wollte er in die Stadt gehen und den Kampfpreis holen.
Kaum hatte sich aber der Schleifersohn in der Kapelle niedergesetzt, kam die Königstochter. Sie war ganz schwarz gekleidet, und ihr Gesicht war bleich wie eine Mauer, denn sie fürchtete den Tod sehr. Wie groß war da ihre Freude, als sie den Drachen in seinem Blut liegen sah. Sie kannte kein Maß und kein Ende ihres Jubels und ging in die Kapelle, um dort Gott für ihre Rettung zu danken. Darin fand sie aber Hans mit seinen drei Tieren, an dem sie gleich den Drachentöter erkannte. Sie fiel vor ihm auf die Knie nieder, dankte ihm unter Tränen und wollte ihn gleich zu ihrem Vater in die Stadt führen. Hans war aber so matt, daß er ihren Wunsch nicht erfüllen konnte, wohl aber bald nachzukommen versprach. Sie gab ihm deshalb ihr goldenes Ringlein, Halskettlein und seidenes Halstuch zum Andenken und sprach: »Du darfst diese Stücke nur in der Stadt vorzeigen, und man wird dich zum König führen, der dich für meine Rettung reich belohnen wird.« Dann dankte sie noch einmal und eilte freudig und in der Hoffnung, daß ihr Retter bald nachkommen werde, in die Stadt hinab.
Hans schlummerte vor Müdigkeit bald ein. Da beschlossen seine drei Tiere, ihn zu bewachen, und losten, wer von ihnen wach bleiben und den Herrn hüten müsse. Das Los traf den Fuchs, und Wolf und Bär legten sich nun auch nieder, denn auch sie waren müde und schläfrig und schnarchten bald mit ihrem Herrn um die Wette. Aber auch der Fuchs hatte den Kampf mitgemacht, und ihm fielen die Augen ein über das andere Mal zu, bis der Schlummer ihn vollends übermannte und er trotz allen Widerstrebens einschlief.
Unterdessen hatte der König einen Diener ausgeschickt, ob die Prinzessin gerettet worden sei oder nicht. Wie aber der Diener vor das Stadttor gekommen war, begegnete ihm die Königstochter mit freudestrahlendem Gesicht und erzählte ihm, wie sie gerettet worden sei und daß ihr Retter in der Kapelle droben schlafe.
Als der böse Diener dies hörte, faßte er einen schändlichen Plan, setzte der Prinzessin, die vor Schrecken kreideweiß wurde, einen Dolch auf die Brust und sprach: »Schwöre, daß du mich als deinen Retter überall ausgeben und meine Frau werden willst, sonst bist du ein Kind des Todes!«
Da hatte die arme Königstochter keine Wahl, sie mußte schwören, mochte sie wollen oder nicht, wenn sie nicht auf der Stelle gemordet sein wollte. Der Diener ging aber hinauf zur Drachenkapelle, wo er Hans noch schlafend fand, und hieb diesem das Haupt ab. Dann nahm er die sieben Köpfe des Drachen und nahm sie mit in die Stadt hinunter, um seine Aussage beweisen zu können.
Nach einer Weile erwachten allmählich die drei Tiere. Als sie ihren Herrn ermordet sahen, erhoben sie großen Jammer, und der Wolf wollte durchaus über den pflichtvergessenen Fuchs herfallen und ihn zerreißen. Doch der Bär hielt den Wolf von seinem Vorhaben ab und sagte, er sollte den Fuchs leben lassen. Dieser müsse aber ein Kräutlein holen, mit dem man dem Herrn seinen Kopf wieder anheilen könne.
Der Fuchs war froh, daß er mit heiler Haut davonkam, und machte sich gleich auf den Weg, um das Kräutlein des Lebens zu suchen. Er lief bergab, bergauf, über Stock und Stein, konnte aber das wunderbare Kräutlein nicht finden. Als er schon die Hoffnung aufgegeben hatte, des Kräutleins jemals habhaft zu werden, begegnete ihm eine weiße Hirschkuh, und diese fragte ihn, was er denn so eifrig suche. Der Fuchs teilte ihr ohne Umschweife sein Anliegen mit.
Da sagte die weiße Hirschkuh: »Ich will dir dieses Kräutlein bringen, wenn du dich auf diesen Stein hier setzen und hier warten willst, bis ich komme.«
Der Fuchs setzte sich nun auf den Stein und wartete lange, lange Zeit, bis die weiße Hirschkuh wiederkam und ihm das Kräutlein des Lebens brachte. Da war der Fuchs seelenfroh, dankte seiner Wohltäterin aufs beste und lief über Wiesen und Felder zur Drachenkapelle zurück, wo er fast atemlos ankam. Der Bär zerdrückte nun dies Kraut, bestrich mit dem Saft den Rumpf des Herrn und setzte den Kopf darauf, der sogleich festhielt. Das Herz des Schleifersohnes schlug wieder, und er wollte schon erwachen.
Da sah aber der Bär zu seinem großen Schrecken, daß er seinem Herrn den Kopf verkehrt aufgesetzt habe, so daß das Gesicht nach rückwärts schaute. Er riß deshalb den Kopf wieder herab und befahl dem Fuchs, noch einmal das Kräutlein des Lebens zu holen. Dieser lief und lief, bis er wieder die weiße Hirschkuh fand und von ihr das Wunderkräutlein erhielt. Dann lief er über Stock und Stein zurück, bis er zur Drachenkapelle kam. Da nahm ihm der Bär das Kräutlein ab, zerquetschte es und heilte damit dem Herrn das Haupt glücklich an. Nun erwachte Hans aus seinem schweren Schlaf, sah nach, ob er die sieben Drachenzungen und die Geschenke habe, und ging dann in die Stadt, um sich dem König vorzustellen und seine Belohnung zu verlangen. Die drei Tiere sprangen lustig und munter hinterdrein. So kam er in die Stadt, wo die größte Freude und der lauteste Jubel herrschte. Hans fragte, was das zu bedeuten habe, und man sagte ihm, daß die Königstochter mit einem Diener, der sie vom Drachen gerettet habe, die Hochzeit feiere.
Hans machte zu dieser Nachricht große Augen, faßte sich aber sogleich und ließ von seinem Verdruß nichts merken. Sobald er sich allein sah, nahm er das Ringlein von seinem Finger, gab es dem Fuchs und sprach: »Lieber Rotpelz, bring das Ringlein der Königstochter!«
Der Fuchs ließ sich das nicht zweimal sagen und schlich an den Ecken und durch die Winkel der Gassen zum Königsschloß hin. Dort ging er in ein Gemach, wo die Prinzessin war, und legte ihr das Ringlein vor. Die Königstochter hatte die größte Freude, küßte das Ringlein und gab dem Überbringer einen Honigkuchen. Der Fuchs kehrte, mit seinem Botenlohn zufrieden, zu seinem Herrn zurück.
Dann gab Hans das goldene Halskettlein dem Wolf und sprach: »Lieber Wolf, bring das Kettlein der Königstochter.«
Der Wolf ließ sich das nicht zweimal sagen und trug das Kettlein zur Königstochter, die ihm ein großes Stück Fleisch gab. Zufrieden damit kehrte der Wolf zu seinem Herrn zurück.
Hans gab nun dem Bären das seidene Halstuch und sprach: »Lieber Bär, bring das Tüchlein der Königstochter.«
Der Bär trottete sogleich in das Schloß des Königs und brachte der Prinzessin das seidene Tüchlein. Daran sah nun die Königstochter, daß ihr Retter noch lebte und in der Nähe war. Sie war deshalb ganz selig, bediente den Bären mit Zuckerbrot und gab ihm dann ein Brieflein folgenden Inhalts an seinen Herrn mit: »Komm schnell hierher, wenn ich nicht die Gemahlin eines schändlichen Betrügers werden soll!«
Als Hans das Brieflein erhalten hatte, ging er auf der Stelle mit seinen drei Begleitern in die Königsburg, wo es gar festlich und freudig zuging. Überall machte man ihm aus Furcht vor den drei Tieren Platz, und er kam bis zum Saal, wo der König, seine Tochter und ihr vermeintlicher Retter bei der Tafel saßen. Als Hans die Saaltür öffnete, stürzten die drei Tiere wütend auf den schändlichen Diener los und zerrissen ihn in kleine Fetzen.
Die Königstochter eilte aber, als sie den Hans sah, ihrem Retter entgegen, führte ihn zu ihrem Vater und erzählte nun, wie sie durch einen Eid gebunden gewesen sei, den falschen Diener für ihren Retter auszugeben. Der König hatte die größte Freude, gab dem Hans seine Hand und hieß ihn, sich zu seiner Rechten setzen. Hans setzte sich zur Tafel, und das Fest wurde zum Hochzeitsfest. Die drei Tiere saßen auch an der Tafel, bekamen Speise und Trank und erzählten jetzt, wie sie ihren Herrn gerettet hätten. Da wurde nun getrunken und gezecht, gesungen und musiziert bis spät in die Nacht.
Als sich dann Hans mit seiner königlichen Braut im Schlafzimmer befand, schaute er, weil der Mond so hell schien, in den Garten hinunter. Da sah er einen großen, schönen Rehbock, der mitten in den Beeten graste. Hans sagte zu seiner Braut: »Den muß ich haben«, griff nach seinem Gewehr und eilte mit seinen Tieren die Stiege hinab und in den Garten. Alles Rufen und Bitten der Prinzessin, er möchte doch bleiben und den Rehbock Rehbock sein lassen, war vergebens.
Hans sprengte über Stock und Stein dem flüchtigen Rehbock nach, und die Tiere folgten ihm. Als er das schöne Wild lange verfolgt hatte, verschwand es plötzlich. Hans sah sich in einer unwirtlichen Gegend, und dazu versteckte sich der Mond hinter den Wolken. Endlich erblickte Hans in der Ferne ein kleines Licht. Er ging darauf zu und kam zu einer niedrigen, halbzerfallenen Hütte. Darinnen fand er ein kleines, altes Mütterchen, das zwischen vielen Steinen saß und sich kämmte. Als sie den stattlichen Jüngling mit den drei Tieren sah, lächelte sie und fragte Hans, ob sie die Tiere streicheln dürfe.
»Oh, vom Herzen gerne«, sagte Hans, »sie sind ganz heimisch und beißen nicht.«
Da langte die Alte nach einem Stäbchen, berührte damit die Tiere – und sogleich waren sie in Stein verwandelt. Dann verhexte sie auch den Hans, denn es war eine böse Zauberin, die in Gestalt eines schönen Rehbocks viele Tiere und Menschen in ihre Hütte lockte und sie in Stein verwandelte.
Die Königstochter wartete umsonst auf ihren Gemahl und weinte und jammerte, daß es einen Stein hätte rühren mögen. Allein all ihr Klagen und Trauern war vergebens, denn niemand konnte ihren Gemahl finden. Da zog sie Trauerkleider an und lachte nie mehr.
Unterdessen war das Jahr zu Ende gegangen. Der jüngere Schleifersohn hatte sich auch in der Welt herumgetrieben und war ein leidenschaftlicher Jäger geworden. Auf seinen Jagden hatte er sich auch drei Tiere, einen Fuchs, einen Wolf und einen Bären, zu Begleitern erworben, die ihm in allen Gefahren beistanden. Er dachte oft an seinen Bruder und kehrte, als das Jahr um war, zur großen Eiche an der Gabelung des Weges zurück. Da fand er nicht den Bruder, wohl aber das Messer, das rostig im Baum stak. Er lenkte deshalb, ohne sich lange zu besinnen, auf den Weg zur Rechten ein und kam am zweiten Tag in die Stadt, wo sein Bruder die Königstochter befreit hatte.
Als die Einwohner der Stadt ihn und seine drei Tiere sahen, glaubten sie, es sei der vermißte junge König, und an allen Ecken und Enden wurde gejubelt: »Der junge König ist wieder da!«
Alsbald war die Freudenbotschaft auch ins Schloß gedrungen. Da eilten der König und seine Tochter ihm voll Freude entgegen, empfingen ihn aufs freundlichste und bestürmten ihn mit Fragen, wo er so lange gewesen sei. Der Schleifersohn gab für jetzt ausweichende Antworten und war nur darauf bedacht, auf kluge Weise Nachrichten über seinen Bruder einzuholen. Er ließ sich deshalb für seinen Bruder ansehen und behandeln und folgte der Königstochter und ihrem Vater auf das Schloß. Dort wurde ein Freudenmahl angerichtet und das Wiederfinden des jungen Königs auf festliche Weise gefeiert. Die Tafel dauerte bis spät in die Nacht. Dann ging man erst zu Bett.
Als der Schleifersohn mit der Königstochter im Schlafzimmer war, blickte er, weil der Mond so hell schien, in den Garten. Da sah er einen herrlichen Rehbock in den Beeten grasen. Sogleich erwachte in ihm die Jagdlust, und er sagte zur Königstochter, er müsse diesen Rehbock haben, sonst könnte er nicht schlafen. Da bat ihn die Prinzessin doch zu bleiben, sonst gehe es ihm wie früher und er müßte vielleicht wieder ein ganzes Jahr fortbleiben. Nun wußte der vermeintliche König genug, nahm seine Flinte und rief die drei Tiere. Dann schwang er sich aufs Roß und verfolgte durch dick und dünn, über Stock und Stein das flüchtige Tier.
Wie er endlich nach langem Jagen das Wild auf Schußweite erreicht hatte, war es auch verschwunden, und er befand sich in einer wüsten, unbekannten Gegend. Da erblickte er auch bald die Hütte, ging auf sie zu und fand darin das alte Mütterchen zwischen den sonderbaren Steinen. Sie lächelte ihm zu, aber ihm wurde ganz unheimlich zumute, als er sie näher betrachtete und sah, wie sie nach ihrem Stäbchen langte, herumtrippelte und sich den Tieren nähern wollte. Da wurde ihm die Sache klar, und er rief der Unholdin mit donnernder Stimme zu: »Wo ist mein Bruder, verfluchte Hexe? Wenn du es mir nicht sagst, hau‘ ich dir Hände und Füße ab.«
Sie tat aber, als ob sie gar nichts wüßte, stellte sich sehr unschuldig und versuchte, die Tiere zu berühren. Darob wurde der Jüngling zornig, zog seinen Hirschfänger und hieb der Alten Hände und Füße ab. Jetzt begann sie zu flehen und zu wimmern und gelobte, alles zu gestehen. Sie sagte zum Jäger, er solle aus dem Schrank eine Salbe nehmen und die Steine bestreichen, dann würde sein Wunsch erfüllt werden. Er tat, was sie geraten hatte, nahm vorsichtig die Salbe, bestrich die Steine, und bald stand Hans lebend mit den drei Tieren vor ihm. Er bestrich noch die übrigen Steine, und viele edle Herren wurden da erlöst. Diese fielen nun über die böse Hexe her und töteten sie vollends. Die zwei Brüder machten sich dann mit ihren Tieren auf den Weg in die Stadt.
Auf dem Weg aber entspann sich ein Streit, wer von ihnen die Prinzessin zur Frau haben sollte. Hans glaubte, das meiste Recht habe er, weil er sie von dem Drachen befreit habe. Der jüngere verlangte sie aber für die Erlösung des Bruders. Während sie so stritten, kamen sie zu einem Fluß, den sie in einem Nachen übersetzen mußten. Da sie aber statt des Ruderns sich zankten und einander in den Haaren lagen, verlor der Nachen das Gleichgewicht, und beide Brüder fielen in das Wasser, wo sie jämmerlich ertranken.
Die Königstochter wartete diesmal vergebens auf die Rückkehr ihres Gemahls, und wenn sie nicht gestorben ist, wartet sie noch heute.

(mündlich im Zillertal)
[Österreich: Ignaz und Joseph Zingerle: Kinder und Hausmärchen aus Süddeutschland]

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