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Vom Vöglein, das die Wahrheit erzählt

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Erwacht an einem schönen Morgen ein reicher Müller ob dem Stillstehen des großen Mühlrades. Der brave Mann eilt hinab in den Mühlraum, um nach der Ursache der Störung zu sehen. Da findet er auf dem großen Rade eine schön gezimmerte Kiste und in derselben drei wunderhübsche Kindlein, zwei Knaben und ein Mädchen. Dieselben trugen goldenes Haar und ein gülden Sternlein auf der heitern Stirne. Der Müller rief seine Frau herbei, die bei dem seltenen Anblicke die Hände vor Verwunderung über den Kopf zusammenschlug, und da die beiden Leutchen ohne Kinder waren, beschlossen sie, die fremden als ihre eigenen zu pflegen und zu erziehen. So vergieng manches Jahr des Friedens, und die Kleinen wuchsen fröhlich und kräftig heran zur großen Freude der guten Pflegeeltern.
Als aber die Knaben ins zwanzigste Jahr kamen, da glaubte der Müller ihnen die volle Wahrheit sagen zu müssen, und er erzählte ihnen, wie er sie gefunden und daß sie nicht ihre, der Müllersleute, eigene Kinder seien. Die Geschwister verlangten aber zu wissen, von wannen sie kämen und wer ihnen Vater und Mutter sei, und sie bedrängten mit ihren Fragen den gutmüthigen Alten gar sehr, der ihnen endlich sagte, sie sollten die Burg aufsuchen, wo das Vöglein sei, das die Wahrheit erzähle; dort würden sie die gewünschte Auskunft erlangen. Und als der frühe Morgen kam, ritt der jüngere der beiden Knaben, ungeachtet aller Bitten und Thränen der Pflegeeltern, auf des Müllers stattlichem Rappen von dannen. Als aber Wochen und Monate vergingen, ohne daß eine Nachricht kam, da weinten die Mühlenbewohner gar heiße Thränen, und es zog an einem frühen Herbstmorgen, von den besten Segenswünschen begleitet, auf einem stolzen Braunen reitend, der ältere Bruder aus, um den Verlornen und das wunderbare Vöglein aufzusuchen. Es vergieng der Herbst, es kam der Winter, und wieder wurde es Frühling, aber von den Fernen kam keine Nachricht in die stille Bergmühle. Nun hielt sich das zur Jungfrau emporgeblühte Schwesterlein, welches sich die schönen Augen um die verschollenen Brüder schier ausgeweint hatte, nicht länger, und sie bat um das schneeweiße Pferd des Müllers, um das Brüderpaar aufzusuchen. Vergebens flehte der alternde Müller, vergebens rang die gute Müllerin die Hände, um den Liebling zurückzuhalten; eines Morgens war die treue Schwester in die Ferne geritten.
Der Weg führte sie über Wiesen und Felder, und als sie durch einen langen, finstern Wald trabte, kam ihr von ungefähr ein altes Weib entgegen und sagte zur Jungfrau, es wisse wohl, wen sie suche; auch ihre Brüder seien des gleichen Weges gegangen, um das Vöglein zu suchen, das die Wahrheit spreche und welches zu finden sei in einem funkelnden Schlosse auf dem steilen Hügel neben dem Bergsee. Allein die Brüder und mit ihnen Tausende und abermals Tausende von Rittern und Edelfräulein seien niemals zurückgekehrt, weil sie der Warnungen nicht geachtet. »Schöne Jungfrau,« schloß die Alte, »wollt Ihr glücklich das Werk vollbringen und die Retterin der Verzauberten im Bergschloß werden, so geht Euren Weg und schaut Euch nicht um, was auch hinter Euch gerufen werden mag, denn wendet Ihr nach rückwärts Euer Antlitz, so werdet Ihr in einen Stein verwandelt.« Die Jungfrau dankte und ritt weiter. Es gieng nicht gar lange, so kam sie an den Fuß eines steilen Berges, wo sie ihr Pferd zurücklassen mußte. Muthig stieg sie den stotzigen Pfad hinan, vor ihr auf stolzer Höhe das prächtige Zauberschloß. Da erhob sich hinter ihr ein Donner wie die Brandung des Meeres, und es wurde ihr Name gerufen von unzähligen schmeichelnden und drohenden Stimmen. Aber die Muthige schaute nicht zurück und stieg fürbaß weiter, bis sie an das Schloßthor gelangte, wo ein entsetzlicher Riese mit mächtiger Tanne in der Hand ihr den Weg versperren wollte. Aber die Jungfrau schlüpfte behende durch und entkam glücklich in das Innere des Schlosses. Durch die leeren Prunkgemächer irrend, führte sie ihr gutes Geschick in einen großen Saal, wo unzählige, reichbefiederte Vögel in goldenen und silbernen Käfigen im wunderlichsten und doch verständlichen Kauderwelsch ihr zuschrien, sie allein könnten die Wahrheit offenbaren. Nur in einer Ecke lag ein graues unscheinbares Vöglein in einfachem Zwinger und schwieg, die fremde Jungfrau mit seinen klugen Aeuglein anschauend. An dieses wandte sich die fast Zagende, und sie erfuhr von ihm, daß es selbst allerdings der Vogel sei, der die Wahrheit offenbare und sie ihm nun zu folgen habe. Dann giengen die beiden in den Garten; auf das Geheiß des Vogels hob die Jungfrau hart am Rand eines Springbrunnens eine Ruthe empor, mit der sie die Steinblöcke im Garten und auf dem Berge berührte. Und siehe, kaum war das Geheißene gethan, daß der Zauber wich und lebenswarme Menschen in glänzendster Hoftracht, Ritter und Damen, fröhlich die Jungfrau umstanden, in unmittelbarer Nähe aber die beiden heißgeliebten Brüder, welche die treue Schwester schluchzend umhalsten. Und vom nächsten Baum herab sang in wunderbaren Tönen das graue Vögelein die Geschichte der Geschwister: sie seien Königskinder, aber während der Abwesenheit des Vaters habe ein böser Ohm, der nach der Herrschaft trachtete, sie ausgesetzt und dem vom Kriege zurückkehrenden König die Mähre vorgelogen, es habe die Königin selbst drei Katzen geboren, weßhalb sie im Gefängniß schmachte.
Empört ob der grauenhaften That des schlimmen Oheims schworen die Brüder Rache und Sühnung für die arme Mutter, und sie brachen auf, von einem glänzenden Gefolge umringt, der Königsstadt entgegen, die Schwester voran, von den edelsten Jungfrauen geleitet. Und als sie vor das Königsschloß traten, da fanden sie, auf marmornem Stuhle sitzend, den noch stattlichen, aber kummervollen Vater und neben ihm, wie eine zischende Schlange, den aalglatten Ohm. Das Erkennen war das freudigste, und am andern Tage saß der König und sein befreites Gemahl auf dem Throne, neben ihnen die wiedergefundenen Kinder und das herbeigeholte schlichte Müllerpaar, weinend vor Lust und Freude und jubelnd begrüßt vom ganzen Hofe. Die kühne Tochter aber ist eine große Königin geworden, und die beiden Brüder, gewaltige Helden, theilten sich nach dem Tode der Eltern in das Reich und herrschten lange und glücklich. – Den Ohm erreichte das verdiente Schicksal: er starb am Tage nach dem Wiederfinden durch Henkershand.

(In Camplium bei Trons erzählt)
[Rätoromanien: Dietrich Jecklin: Volksthümliches aus Graubünden]

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