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Von dem Seminaristen, der die Königstochter erlöste

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Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten eine einzige Tochter, die sie über alle Maßen liebten. Nun begab es sich eines Tages, als die Königstochter sieben Jahr alt war, daß sie mit ihrer Amme und ihrer Kammerfrau auf die Terrasse ging, weil die Sonne so schön schien. Als sie oben waren, sprach die Königstochter zur Amme: »Setze dich hin, ich will dich kämmen.« »Ach, königliche Hoheit,« antwortete die Amme, »das ist ja keine Beschäftigung für euch.« Die Königstochter aber bestand darauf, wie Kinder eben sind, und um ihr den Willen zu thun, setzte sich die Amme hin und ließ sich von ihr kämmen. Mit Einemmale aber senkte sich eine schwarze Wolke herab, hüllte die Königstochter ein und entführte sie.
Denkt euch den Jammer der Kammerfrau und der Amme; sie liefen hinunter und erzählten weinend der Königin Alles, und die Königin fing auch an zu jammern, und es war ein großes Trauern im ganzen Palast. Der König ließ überall nachforschen; aber vergebens, sie war nicht wiederzufinden, und viele Jahre vergingen, ohne daß man etwas von ihr hörte.
Nun wohnte in derselben Stadt eine arme Wittwe, die hatte einen einzigen Sohn. Sie waren aber so arm, daß sie oft nichts zu essen hatten. Ein guter Freund hatte einmal dem Jüngling einen alten Seminaristenanzug geschenkt, in dem ging er hin und diente die Messen in den Kirchen, und erwarb sich so ein Stückchen Geld, um sich und seine Mutter kümmerlich zu ernähren.
Es waren ungefähr acht oder neun Jahre verflossen, seit die Königstochter geraubt worden war, als sich eines Morgens am Ufer des Meeres ein Brunnen erhob, der ganz voll Wasser war. Darüber verwunderten sich die Leute sehr, gingen zum König, und erzählten ihm: »Königliche Majestät, diesen Morgen ist auf der Marina ein Brunnen erschienen, der war früher nicht da und ist ganz voll Wasser.« Da befahl der König, es solle neben dem Brunnen den ganzen Tag ein Soldat Schildwache stehen, und ließ im ganzen Land verkünden, wer hinuntersteigen könne, und ihm Nachricht bringen, wie es da unten aussehe, der solle nach ihm König sein.
Da versuchten es Viele, und ließen sich in den Brunnen hinab, sowie aber das Wasser ihnen über dem Kopfe zusammenschlug, mußten sie elendiglich ertrinken.
Nun dachte eines Tages der Sohn der Wittwe: »So Viele haben es versucht und es ist ihnen nicht gelungen; so will ich auch einmal mein Glück versuchen, vielleicht geht es mir besser.« Also machte er sich auf den Weg, ohne seiner Mutter etwas zu sagen, und kam an den Brunnen, wo ein Soldat Schildwache hielt. »Heda, guter Freund! wollt ihr mir den Gefallen thun, und mich in den Brunnen hinablassen?« »Geht nach Haus, Landsmann!« antwortete der Soldat. »Es haben schon so Viele ihr Leben gewagt, und Keiner ist lebendig herausgekommen.« »Vielleicht bin ich glücklicher,« sprach der Seminarist, »laßt mich nur hinunter.« Da band ihn der Soldat am Strick fest, und gab ihm ein Glöckchen in die Hand, und ließ ihn hinab. Aber siehe da! als seine Füße das Wasser berührten, theilte es sich auseinander, also daß er ungefährdet hinunterkam. Ueber seinem Haupte aber schlug das Wasser wieder zusammen. Als er nun auf den Grund des Brunnens kam, schaute er sich um, und erblickte eine Thür, die war ganz von Silber. Da sprang er hinzu, schob den Riegel zurück und öffnete sie. Nun kam er in einen großen Raum, und sah gegenüber eine zweite Thür, die war von Gold, und als er den Riegel zurückschob und die Thüre aufmachte, sah er gegenüber eine dritte Thür, die war ganz diamanten. Da öffnete er auch diese und kam in einen wunderschönen Garten, in dem blühten Blumen von jeder Art, und alle Bäume die es auf Erden gibt, wuchsen darin. Nun ging er durch den Garten, und kam an eine prächtige Treppe, und als er auch da hinaufstieg, kam er in einen schönen Saal, in dem stand ein Tisch mit mancherlei guten Speisen bedeckt. »Ei,« dachte er, »hier bin ich ja herrlich daran,« und aß und trank, was sein Herz begehrte. Als er gegessen hatte, ward er auch müde; da ging er in einen andern Saal, in dem stand ein schöngedecktes Bett, in das legte er sich hinein und schlief bald ein.
Nach einer Weile hörte er sich beim Namen rufen: »Peppino!« »Wer ruft mich?« antwortete er. Da sprach die Stimme: »Ich bin die Königstochter, die vor so viel Jahren von einer Wolke entführt wurde; mich hält ein böser Zauberer gefangen, willst du mich aber erlösen, so ist es dein und mein Glück.« »Saget mir, was ich thun soll, um euch zu erlösen,« antwortete der Seminarist. »Bleibe nur ruhig hier,« sagte sie, »iß und trink, und sei frohen Muthes. Wenn der Augenblick kommt, daß du mich erlösen kannst, so will ich es dir sagen.« Also blieb der Seminarist in der Unterwelt, hatte sein gutes Essen und Trinken, und es fehlte ihm an nichts. Auch hatte er ein schnelles Pferd, auf dem er in dem Garten spazieren ritt. In der Nacht aber kam die schöne Königstochter und redete mit ihm. Es mochte nun wohl ein Monat verflossen sein, da sprach die Königstochter eines Abends zu ihm: »Höre, Peppino, morgen früh mußt du wieder an den Brunnen gehen, und dich an die Oberwelt hinaufziehen lassen. In einem Monat und einem Tag aber, genau um Mitternacht, mußt du dich wieder oben einfinden, um dich herabzulassen. Wenn du auch nur um eine Minute zu spät kommst, so ist es schlimm für dich und schlimm für mich. Damit du aber keinen Mangel leiden mögest, so nimm diesen Ring. So oft du ihn am Finger herumdrehst, wirst du die Taschen voll Geld haben. Versäumest du die Stunde, so wird der Ring seine Kraft verlieren. Gib Acht, und vergiß nicht, dich pünktlich einzufinden.« Der Seminarist versprach Alles ganz genau zu erfüllen, nahm den Ring und am Morgen ging er zum Grund des Brunnens, band sich an den Strick fest, der noch herunterhing, und läutete mit seinem Glöckchen. Oben stand wie gewöhnlich ein Soldat und hielt Wache neben dem Brunnen. Als der da unten das Läuten hörte, dachte er: »Sollte Jemand da unten sein?« und zog an dem Strick, und zog den Jüngling glücklich heraus. Der Seminarist ging sogleich nach dem Hause seiner armen, alten Mutter, die ihn für todt beweinte, klopfte an und sprach: »Liebe Mutter, machet mir auf, denn ich bin euer Sohn, und bin nun wieder da.« »Ach,« antwortete sie, »mein Sohn ist gewiß schon todt, denn er hat mich vor einem Monat verlassen, und ist nicht wiedergekommen.« Er aber rief sie wieder: »Ich bin ganz gewiß euer Sohn, und komme nun mit großen Reichthümern zu euch zurück.« Da ließ sie sich überreden, und machte die Thür auf, und als sie ihren Sohn erkannte, umarmte sie ihn voller Freude. Er aber kaufte sogleich einen schönen Palast, dem königlichen Schloß gegenüber, kaufte auch reiche Gewänder für sich und seine Mutter und brachte die alte Frau in den Palast.
Als der König hörte, daß ein vornehmer Herr das Haus gegenüber bezogen habe, schickte er ihm einen Diener und ließ ihm sagen, ob er die Ehre haben könne, ihn am Abend bei sich zu sehen. Da ging der Jüngling hin und spielte mit dem König, und wenn er verlor, so drehte er nur am Ring, und sogleich waren seine Taschen voll Geld. So trieb er es jeden Abend, bis ein Monat schon beinahe vergangen war. Als er nun merkte, daß nur noch wenige Tage blieben, drehte er so oft am Ringe, bis er Geld genug gesammelt hatte, damit seine Mutter noch zwanzig Jahr sorgenfrei leben konnte, und sorgte so auf alle Fälle für ihre Zukunft.
Endlich kam der Abend, an welchem er sich um Mitternacht am Brunnen einfinden mußte. Da nahm er Abschied von seiner Mutter, und ging zum letztenmal, um mit dem König zu spielen. In der Hitze des Spiels aber vergaß er auf die Stunde zu achten; denkt euch seinen Schrecken, als er auf einmal Mitternacht schlagen hörte. »Königliche Majestät,« sprach er, »verzeiht, aber ich kann nicht länger bleiben, ein wichtiges Geschäft zwingt mich, sogleich wegzugehen.« Als er aber an dem Ringe drehte, blieben seine Taschen leer. Da merkte er, daß der Ring seine Eigenschaft verloren hatte, und sprach: »Schicket morgen zu meiner Mutter, die wird euch Alles bezahlen, ich aber muß fort.« Schnell lief er zum Brunnen, und sprach zum Soldaten, der dort Wache stand: »Guter Freund, erweiset mir den Gefallen, und laßt mich in den Brunnen hinab.« »Seid ihr toll,« erwiderte der Soldat, »daß ihr euer Leben verlieren wollt?« Der Jüngling aber bestand darauf, und so band ihn der Soldat am Strick fest, und ließ ihn hinab. Wie er nun das Wasser mit den Füßen berührte, theilte es sich vor ihm, und schlug über ihm wieder zusammen. Als er aber unten ankam, was sah er da? Die drei Thüren waren niedergerissen, die Mauern umgefallen; als er in den Garten kam, waren alle Bäume mit den Wurzeln ausgerissen, die Blumen verwelkt; der Stall, in dem sein Pferd stand, war auch zusammengefallen, und das Pferdchen lag todt am Boden. Er eilte zur Treppe, die war aber auch zerstört, und am Fuße der Treppe lag die schöne Königstochter und war todt, und sechs todte Mädchen lagen zu ihrer Rechten, und sechs zu ihrer Linken.
Da fing der Jüngling an zu klagen und zu jammern, und verfluchte sich und sein Geschick. »Bist du wiedergekommen, du Bösewicht!« sprach auf einmal eine Stimme, und als er sich umdrehte, sah er ein ganz altes Mütterchen, das schalt ihn und sprach: »Hast du so dein Wort gehalten? Sieh, das ist nun dein Werk!« »Ach, gute Alte,« antwortete er, »ihr habt Recht, und ich habe schwer gefehlt. Aber saget mir nun, wie ich meinen Fehler wieder gut machen kann, so will ich Alles thun.« »Was hilft es, daß ich es dir sage,« sprach die Alte, »es wird dir doch niemals gelingen.« Der Jüngling aber bat sie so lange, bis sie endlich sprach: »Nun denn, so höre. Siehst du den zerstörten Stall? Da mußt du hinaufsteigen, und dieses Schwert mitnehmen. Dann mußt du mit einem Satz dem Pferd auf den Rücken springen, so wird es aufspringen und wieder lebendig werden. Ergreife schnell die Zügel und zieh dein Schwert, denn so wie das Pferd aufspringt, wird ein mächtiger Lindwurm dich anfallen, mit dem mußt du kämpfen. Fürchte dich aber nicht, denn mit diesem Zauberschwert wirst du ihn besiegen. Hast du ihn nun umgebracht, so springe diesen Weg hinauf, so wird dir ein furchtbarer Riese zu Pferd entgegentreten und wird zu dir sagen: ‚O, Kirchenfliege, was unterstehst du dich in meinem Garten spazieren zu reiten?‘ Dann mußt du antworten: ‚Ich bin gekommen, dich zu bekämpfen.‘ ‚Was, du willst mich bekämpfen, du Kirchenfliege?‘ wird er sagen, und du mußt antworten: ‚Ich bin so klein und du so groß, aber im Namen Gottes will ich dich besiegen.‘ Dann wird der Riese mit dir kämpfen, eine gute Weile lang.
Wenn er aber sieht, daß er dir nichts anhaben kann, wird er seinen Handschuh fallen lassen und zu dir sprechen: ‚Es ist mir so beschwerlich vom Pferd zu steigen; steige du herab und hole mir meinen Handschuh.‘ Hüte dich zu thun, was er dir sagt, es wäre dein Verderben, sondern sage ihm, er könne ihn selbst aufheben. Da aber der Riese ohne Handschuh nicht kämpfen kann, so wird er schließlich vom Pferde steigen, um ihn zu holen. Während er sich nun bückt, mußt du hinzutreten, und ihm mit dem Zauberschwert einen Streich in den Nacken geben, daß er stirbt. Dann untersuche ihn, so wirst du in seinem Kleide einen Bund Schlüssel und einen Bund Federn finden. Damit mußt du in das Haus eilen. In einem Saal ist ein verschlossener Schrank; probire so lange, bis du den Schlüssel dazu gefunden hast, und mache den Schrank auf. Darin stehen eine Menge Fläschchen mit Salben und Elixiren, nimm dasjenige mit der Salbe, die die Todten auferweckt, und wenn du die Königstochter damit bestreichst, so wird sie erwachen. Dieß mußt du Alles ausführen, wenn du den Muth dazu hast.«
Dem Jüngling wurde wohl ein wenig bange, aber er dachte: »Ich stehe in Gottes Hand und so will ich es denn wagen.«
Also nahm er das Schwert, und stieg vorsichtig auf den zertrümmerten Stall hinauf. Als er oben war, faßte er festen Fuß, sprang herab und dem Pferde gerade auf den Rücken. Im selben Augenblick sprang das Pferd auf, und unter ihm hervor wälzte sich ein riesiger Lindwurm, und wollte den Jüngling verschlingen. Der aber hatte schon die Zügel ergriffen, und das Zauberschwert gezogen, und begann mit dem Lindwurm zu kämpfen. Der Lindwurm war wohl stark und mächtig, dem Zauberschwert konnte er aber doch nicht widerstehen, nach einigen Streichen hieb ihm der Jüngling den Kopf ab, und der Lindwurm fiel todt hin. Nun sprengte der Jüngling den Weg hinan, den die Alte ihm gezeigt hatte. Er kam aber nicht weit, denn ein großmächtiger Riese ritt ihm entgegen, und rief mit lauter Stimme: »O, Kirchenfliege, was unterstehst du dich, in meinem Garten spazieren zu reiten.« Der Jüngling antwortete: »Ich bin gekommen, dich zu bekämpfen.« »Was! du willst mich bekämpfen?« rief der Riese mit höhnischem Lachen. »Du winzige Kirchenfliege!« »Ich bin so klein, und du so groß,« sprach der Jüngling, »aber im Namen Gottes will ich dich besiegen.« »Nun gut denn!« sagte der Riese, »so kämpfen wir.« Da fingen sie an und kämpften eine lange Zeit, aber Keiner von ihnen konnte den andern besiegen. Der Riese aber, da er merkte, daß der Jüngling das Zauberschwert hatte, erkannte er wohl, daß er ihn durch Gewalt nicht würde besiegen können, und griff zu einer List. Wie die Alte es vorhergesagt hatte, ließ er seinen eisernen Handschuh fallen, und sprach: »Ich bin so groß, daß es mir schwer wird, vom Pferde zu steigen. So steige nun du ab und hole mir den Handschuh.« »Habt ihr den Handschuh fallen lassen, so könnt ihr ihn auch selbst wieder holen,« antwortete der Jüngling. »Ach, thu mir doch den Gefallen, und steige vom Pferde,« bat der Riese. Der Jüngling aber gedachte der Worte der Alten und antwortete: »Wenn mir mein Handschuh gefallen wäre, so hätte ich ihn mir selbst geholt; nun steiget ihr auch selbst vom Pferde.« Da mußte der Riese sich bequemen und vom Pferde steigen, denn ohne seinen eisernen Handschuh verlor er alle Kraft. Als er sich aber bückte, sprang der Jüngling hinzu, und hieb ihm mit einem Streich den Kopf ab, daß er weit weg flog. Nun untersuchte er schnell den Riesen, und als er richtig einen Bund Schlüssel und einen Bund Federn auf ihm fand, eilte er ins Haus, und machte den verschlossenen Schrank auf. In dem Schranke standen eine Menge Fläschchen mit Salben und Elixiren; da nahm er dasjenige mit der Salbe, die die Todten auferweckt, und lief zur schönen, todten Königstochter. Aber als er eine Feder in die Salbe tauchte und ihr damit die Schläfen und die Nasenlöcher rieb, schlug sie auf einmal die Augen auf und war nun ganz lebendig und gesund. Da bestrich er auch ihre zwölf Mädchen mit der Salbe, und siehe da, sie wurden Alle wieder lebendig. Und als er sich umsah, hatten sich auch die Bäume aufgerichtet, und die Blumen blühten im ganzen Garten, und Alles, was zerstört gewesen, stand nun wieder ganz und herrlich da.
Da blieben sie noch einige Tage in dem schönen Garten, und dann nahm die Königstochter Abschied von ihren zwölf Mädchen, die in der Unterwelt zurückblieben. Der Jüngling und die Königstochter aber gingen zu dem Brunnen, um sich hinaufziehen zu lassen. »Höre, Peppino,« sprach die Königstochter, »lasse dich zuerst hinaufziehen, denn wenn ein fremder Soldat da oben steht, und ich komme zuerst hinauf, so wird er dich verrathen und dich hier unten lassen.« Peppino wollte anfangs nicht, da sie ihn aber so bat, so that er ihr den Willen, band sich am Strick fest, und gab das Zeichen mit dem Glöckchen. Oben stand ein Soldat und hielt Wache; da der das Läuten hörte, dachte er: »Sollte wohl Jemand unten im Brunnen sein? Ich will einmal am Stricke ziehen.« Da zog er am Strick, und der Jüngling kam glücklich oben an, band sich los, und warf den Strick wieder hinunter. »Ist denn noch Jemand unten?« frug der Soldat. »Jawohl,« antwortete der Jüngling, »hilf mir nur ziehen.« Als aber die wunderschöne Königstochter ans Licht kam, dachte der Soldat bei sich: »Wäre sie zuerst heraufgekommen, so hätte ich dich nimmer herausgezogen!«
Der Jüngling brachte die Königstochter nun nach Hause zu seiner alten Mutter, die sich sehr freute, als sie ihren lieben Sohn wiedersah. »Was thun wir nun?« frug der Jüngling. »Soll ich dich gleich zu deinem Vater führen?« »Nein,« antwortete sie, »thu was ich dir sage. Geh heute Abend zu meinem Vater, um zu spielen. Wenn ihr nun eine Weile gespielt habt, so sprich zu ihm: ‚Königliche Majestät, wir spielen hier jeden Abend, wie wäre es, wenn Jeder zur Abwechselung eine Geschichte erzählte?‘ Gewiß wird dann mein Vater die Geschichte erzählen, wie ich geraubt worden bin. Dann frage ihn: ‚Königliche Majestät, wenn euch Einer eure Tochter wiederbrächte, welchen Lohn würdet ihr ihm geben?‘ Seine Antwort aber überbringe mir.«
Am Abend ging der Jüngling zu Hofe, und spielte mit dem König. Nach einer Weile aber sprach er: »Königliche Majestät, wir spielen nun schon den ganzen Abend; wie wäre es, wenn wir zur Abwechselung einmal eine Geschichte erzählten?« »Ach,« antwortete der König, »ihr andern könnt wohl Geschichten erzählen; ich aber könnte euch nur ein trauriges Ereigniß aus meinem Leben erzählen.« »Was ist denn das, königliche Majestät? Erzählt es uns doch.« Da erzählte der König, wie vor so vielen Jahren seine einzige Tochter verschwunden sei, und wie er seitdem nichts wieder von ihr gehört habe. »Aber, saget mir, königliche Majestät,« sprach darauf der Jüngling, »wenn euch nun Einer eure Tochter wiederbrächte, welchen Lohn würdet ihr ihm wohl geben?« »Ach,« antwortete der König, »wenn mir Einer meine liebe Tochter wiederbrächte, so sollte er sie zur Gemahlin erhalten und sollte nach mir König sein.« Der Jüngling sagte nun nichts mehr, aber am andern Morgen erzählte er Alles der Königstochter; die sprach: »Gut, heute Abend erzähle dem König, du habest eine Schwester, und frage, ob du sie wohl einmal an den Hof bringen dürftest.«
Als nun der Jüngling am Abend wieder beim König war, sagte er so im Gespräch: »Königliche Majestät, ich habe zu Hause eine Schwester, die wirklich ein schönes Mädchen ist. Wenn ihr es erlaubt, so möchte ich sie wohl einmal mitbringen.« »Thu das,« antwortete der König, »ich werde mich sehr freuen, sie zu sehen.« Der Jüngling überbrachte der Jungfrau die Antwort des Königs, und sie sprach: »Heute Abend werde ich dich begleiten.«
Als sie nun am Abend zu Hofe ging und in den Saal trat, war sie so schön, daß Alle sie verwundert betrachteten. Der König aber ließ sie sich gegenüber sitzen, und während er spielte, schaute er immer zu ihr hinüber, und es war ihm, als müsse er sie kennen. »Seht dies schöne Mädchen an,« sprach er zu seinen Ministern, »gleicht sie nicht meiner verlorenen Tochter?« »Ach, was denkt ihr, königliche Majestät,« antworteten die Minister, »eure Tochter ist ja seit so vielen Jahren verschollen.« Der König aber rief die Königin herbei und sprach: »Ach, sehet doch das Mädchen an; gleicht es nicht unserer armen Tochter?« »Ja,« sprach die Königin, »es sind wohl dieselben Züge.« Als aber die Königstochter sah, daß ihre Eltern sie so anschauten, konnte sie nicht länger an sich halten, und rief aus: »Lieber Vater und liebe Mutter, ich bin ja eure verloren gegangene Tochter!«
Denkt euch nun, wie Alles in Aufruhr kam. Die Königin wurde vor Schrecken und Freude ohnmächtig, und man mußte ihr zu Hülfe eilen, und auch der König wußte sich nicht zu fassen. Endlich aber sprach er: »Wenn du unsere Tochter bist, so erzähle uns, wie es dir ergangen ist.« Da antwortete sie: »So und so ist es mir ergangen, und dieser Jüngling ist mein Retter, der mich aus der Gewalt des bösen Zauberers befreit hat.«
Als der König und die Königin das hörten, wurden sie sehr froh, und umarmten ihre Tochter und den Jüngling mit großer Freude, und der König sprach: »Du hast meine Tochter erlöst, und sollst sie nun zur Gemahlin haben, und nach mir König sein.«
Da wurde eine glänzende Hochzeit gehalten, mit vielen Festlichkeiten; und sie lebten glücklich und zufrieden, wir aber sind hier sitzen geblieben.

[Italien: Laura Gonzenbach: Sicilianische Märchen]

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