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Vom Barbierssohn

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„Müssen eigentlich alle Märchen enden mit: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute?“ Das kleine Mädchen stützte den Kopf in die Hände und schaute die Märchenerzählerin fragend an. „Das ist doch tierisch langweilig. „Wie sollte denn deiner Meinung nach ein Märchen aufhören?“ fragte die Märchenerzählerin zurück. „Ich weiß auch nicht,“ sagte das Mädchen. „Halt irgendwie anders.“ Es runzelte die Stirn und dachte nach. „Vielleicht so, wie ein Buch endet,“ murmelte es nachdenklich. „Dann nimm doch einfach ein Buch,“ schlug die Märchenerzählerin vor, „und sag mir das Ende. Wenn du magst, will ich für dich gerne das Märchen dazu finden.“ Da stand das kleine Mädchen auf und stellte sich vor das Bücherregal, und dann kniff es die Augen fest zu und zog blind ein Buch heraus. Die Märchenerzählerin sah mit einem leichten Unbehagen, dass es sich um ein Origami-Buch handelte, und sie wusste auch, dass die letzte Seite davon handelte, wie man aus Papier einen Affen faltete. Das kleine Mädchen öffnete die Augen und schlug die letzte Seite auf. „Das hier hört auf mit: Die Ohren runden, und der Affe ist fertig,“ las es zögernd vor. „Kannst du so etwas?“ Die Märchenerzählerin seufzte leise. „Wir wollen einmal sehen,“ sagte sie. „Aber dann erlaube mir wenigstens den normalen Anfang.“ Sie besann sich eine Weile, und dann fing sie an zu erzählen:

Es war einmal ein Bartscherer, der hatte drei Söhne, die er alle drei gleichermaßen liebte. Er hatte sie alle drei auf das sorgfältigste erzogen und in seiner Kunst ausgebildet, und so waren sie die Freude seines Lebensabends. Nur ein Kummer nagte an ihm, und das war die Sorge, das kleine Geschäft könne nach seinem Ableben nicht alle drei Söhne ausreichend ernähren.
„Liebe Söhne,“ sprach er daher eines Tages, „ich bin alt geworden, und es ist bald Zeit für mich zu sterben. Ich liebe euch drei zu sehr, als dass ich dahinscheiden wollte, ohne euch alle gut versorgt zu wissen, doch kann ich leider mein Geschäft nur einem von euch hinterlassen. Ich möchte euch daher bitten, in die Welt hinauszuziehen und ein neues Handwerk zu erlernen, von dem man anständig leben kann. Im kommenden Jahr sollt ihr zurückkehren und mir davon berichten. Danach werde ich entscheiden, wem von euch ich das Geschäft vererbe.“
Die Söhne taten, wie der Vater sie geheißen, und machten sich auf in die weite Welt, wo sie vieles erlernten und erlebten, auch viel Freud‘ und Leid erfuhren und von vielen weisen Menschen gute Ratschläge bezüglich ihres künftigen Berufes erhielten. Als aber das Jahr vergangen war, trafen alle drei wieder im Hause des Vaters ein.

„Nun, mein Sohn,“ frug der alte Bartscherer den Ältesten, „was hast du gelernt in der weiten Welt, das dich ernähren könnte?“
„Vater,“ sagte der Älteste, „ich habe gelernt, dass es immer Bärte zum Scheren geben wird und somit auch immer Arbeit für Bartscherer. Ich habe gelernt, dass es nicht nötig ist, einen neuen Beruf zu lernen, denn der alte wird mich gewiss ernähren.“
„So hast du nichts dazugelernt,“ stellte der Vater traurig fest. „Ich werde dir mein Geschäft vermachen müssen, damit du nicht verhungerst.“
Damit wandte er sich an den zweiten. „Nun du, mein Sohn. Was hast du gelernt?“
„Ich bin Damenfriseur geworden,“ sagte der zweite. „Ich habe gelernt, glatte Haare lockig zu machen und lockige glatt, ich habe gelernt, turmhohe Frisuren zu verfertigen und wohlriechende Essenzen hineinzuträufeln. Wisse, Vater, dies hört sich zwar etwas ungewöhnlich an, aber ich bin davon überzeugt: Dies ist der Beruf der Zukunft.“
„Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Freude,“ sprach der Vater. „Dir werde ich meinen Segen hinterlassen, er soll auf deinem Geschäft ruhen, es soll blühen, wachsen und gedeihen und noch deine Kinder und Kindeskinder erfreuen.“
Daraufhin legte er auch dem jüngsten Sohn die Frage vor: „Und was hast du in der Welt gelernt, mein Kind?“
„Ich habe gelernt zu träumen, Vater,“ sprach dieser. „Ich habe auf Wiesen gelegen und in die Wolken geschaut, ich habe dem Murmeln der Bächlein und dem Rauschen der Wälder gelauscht und habe den Wind in meinem Gesicht gespürt. Ich habe viele bunte Geschichten geträumt, und am Ende träumte mir, ich selbst würde eines Tages die Tochter des Königs heiraten. Dies ist es, was ich in der Welt gelernt habe, Vater.“
„Nun, mein Sohn,“ sprach lächelnd der Vater, „so will ich dir mein allererstes Rasiermesser, das ich mir einst kaufte, hinterlassen. Es ist freilich nicht mehr allzu scharf, und viel Geld ist es auch nicht mehr wert, doch ist es mir eine liebe Erinnerung, und du wirst es wohl zu würdigen wissen. Für einen Bartscherer ist es gänzlich unbrauchbar, doch einen Träumer wird es, so denke ich, ernähren können.“

Wenige Tage darauf verstarb der alte Bartscherer, und seine Söhne teilten seinen Besitz unter sich auf, wie er es sie geheißen hatte. Der Älteste erbte das Geschäft und hatte sein Auskommen damit, bis eines Tages der Rasierapparat erfunden wurde. Der Zweitälteste, der den Segen geerbt hatte, eröffnete einen Damensalon und wurde nach anfänglichen Misserfolgen einer der gesuchtesten Haarkünstler des ganzen Landes. Der Jüngste aber nahm das alte stumpfe Rasiermesser des Vaters und zog damit hinaus in die Welt.
Dort tat er das, was er gelernt hatte. Er träumte, er lag auf Wiesen und schaute in die Wolken, er lauschte dem Murmeln der Bächlein und dem Rauschen der Wälder und spürte den Wind in seinem Gesicht, und nachdem er viele bunte Geschichten geträumt hatte, träumte ihm am Ende wiederum, er würde die Tochter des Königs heiraten.

Eines Tages nun gelangte der Sohn des Bartscherers in die Hauptstadt des Landes, in welcher der König gerade ein großes, mehrtägiges Fest zu Ehren seiner Tochter geben ließ, die mit einem der einflussreichsten Ratgeber des Königs, dem Kriegsminister, vermählt werden sollte. Als der Jüngling dies vernahm, da ward er sehr betrübt, denn er liebte die Prinzessin, seit er im Traum ihr Bild gesehen hatte. Auch war der Minister ein äußerst hässlicher Mann, man sagte, er habe kein menschliches Herz in der Brust, obendrein galt er im Volk für äußerst dumm, und der König war der einzige, der ihm vollkommen vertraute. So konnte der Minister die Geschicke des ganzen Landes ins Unglück lenken, ohne dass irgend jemand ihm Einhalt gebieten durfte.
Der Jüngling, als er solches hörte, beschloss, sowohl das Land als auch die Prinzessin aus den Händen des Ministers zu erretten, und so trat er am Tage vor der Hochzeit in den Saal, wo der König und der ganze Hofstaat versammelt waren, und bat, den verehrten Festteilnehmern eine Geschichte erzählen zu dürfen.
„Nun,“ meinte der Minister, „ich denke, eine Geschichte dürfte uns alle erfreuen.“ Der König nickte also gnädig, und der Sohn des Bartscherers begann seine Erzählung:

„In einem fernen Lande und vor langer Zeit lebte einst ein König, der hatte einen Ratgeber, dem er über die Maßen vertraute, so dass dieser bald alle Macht an sich gerissen hatte. Es ging jedoch im Volke das Gerücht, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern nichts weiter als ein böser alter Affe, der sich in die Gunst des Königs geschlichen hatte.“

„Ich glaube, wir wollen die Geschichte doch lieber nicht weiter hören,“ sagte der Minister rasch. „Solche Geschmacklosigkeiten gehören nicht in die Ohren des Königs.“
Doch der König hatte Gefallen an dem jungen Mann gefunden und befahl, dass dieser im Erzählen fortfahre. Der Sohn des Bartscherers gehorchte und sprach weiter:

„Eines Tages nun trat ein Barbierssohn vor den Thron des Königs und berichtete dem Herrscher von dem, was man im Volke über seinen Ratgeber sagte. Da sah sich der König den Ratgeber genau an, und wirklich und wahrhaftig: Der Ratgeber hatte in der Tat eine große Ähnlichkeit mit einem bösen alten Affen. Nun, fragte er ihn, was hast du gegen diese Beschuldigung vorzubringen? Doch dieser wies lächelnd auf seine prächtigen Segelohren und meinte: Eure Majestät haben wohl noch nie einen Affen mit solchen Ohren gesehen. Da rief der König seine Wache herbei und befahl, dass man den Barbierssohn in den Kerker werfe.“

Der Sohn des Bartscherers machte eine kleine Pause und trank einen Schluck von der Limonade, die ihm ein Bedienter reichte.
„Eine seltsame Geschichte,“ murmelte der König nachdenklich, doch der Minister wackelte vor Begeisterung mit den Ohren und lobte den Erzähler. Der aber fuhr fort:

„Der Barbierssohn jedoch besaß ein verzaubertes Rasiermesser, und als ihn die Wachen packen wollten, da glitt ihm das Messer aus der Tasche, flog auf den Berater des Königs zu und schnitt ihm – ritsch, ratsch – die großen ovalen Segelohren klein und rund. Da erkannte der König, dass die ganze Zeit über ein böser alter Affe seine Staatsgeschäfte gelenkt hatte, und er jagte ihn fort aus dem Land und gab dem Barbierssohn seine Tochter zur Frau. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.“

„Ach übrigens: Das hier ist das Messer gewesen.“

Mit diesen Worten zog der Sohn des Bartscherers das alte stumpfe Rasiermesser seines Vaters aus der Tasche. Da sprang der Minister auf, rannte kreischend aus dem Saal und flüchtete auf einen hohen Baum, wo er angstzitternd sitzen blieb und die Hände schützend vor die großen Ohren hielt. Als der König das sah, musste er laut lachen, und er machte den Sohn des Bartscherers zu seinem neuen Minister und gab ihm seine Tochter zur Frau. Der neue Minister regierte das Land mit viel Liebe und Sorgfalt. Nach des Königs Tod erbte er den Thron und kümmerte sich fortan nicht mehr um die Regierungsgeschäfte, denn dafür waren ja die Minister da. Er selbst lag lieber auf den Wiesen und schaute in die Wolken, lauschte dem Murmeln der Bächlein und dem Rauschen des Waldes, spürte den Wind in seinem Gesicht und träumte von der Tochter des alten Königs, die nun seine Frau war. Doch wurde das Land gut verwaltet, denn jedem neuen Minister, den er einstellte, pflegte er warnend zuzuraunen: „Die Ohren rundschneiden, und der Affe ist fertig.“

(Persien)

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