Tief im Innern des Märchenwaldes gab es einen Ort, den bisher noch kein menschlicher Fuß betreten hatte. Auch Elfen und Kobolden, Zwergen und einigen Tierarten war dieser Ort unbekannt. Es war das Reich der Schmetterlinge.
Von hohen Bäumen umgeben, bildete die riesige Blumenwiese den Mittelpunkt einer Lichtung. Und hier lebte das Volk der Tagpfauenaugen in nachbarschaftlicher Freundschaft mit den Zitronenfaltern. Bei schönem Wetter und herrlichem Sonnenschein flogen die Falter den lieben langen Tag zwischen all den bunten Wiesenblumen umher. Nahrung fanden sie in Hülle und Fülle. Und am Abend, wenn sie müde waren, wartete ein geschützter und vor Regen sicherer Platz im dichten Blätterwerk der Bäume auf sie.
Es war an einem warmen Sommertag, als sich Lela, ein hübsches Tagpfauenauge-Mädchen, in Begleitung einiger Freundinnen auf den Weg zu den Gänseblümchen machte, die üppig am Rande der Wiese standen. Die Falter lachten und scherzten ausgelassen und hatten sehr viel Spaß miteinander. Zum Ausruhen ließen sie sich auf den Blüten der Blumen nieder.
„Wo steckt denn dein Liebster?“, fragte das Faltermädchen Susa.
„Tore ist noch mit dem Bau unserer Wohnung beschäftigt“, antwortete Lela mit fröhlicher Stimme. Sie erhob sich von ihrer Blüte und vollführte einen lustigen Tanz in der Luft, weil sie so glücklich war. Morgen sollte die Hochzeit sein und alle Schmetterlinge im Umkreis waren eingeladen.
Schon seit Tagen sorgten Lelas Eltern für reichlich Speis und Trank. Auf dem Teil der Wiese, wo die Mohnblumen standen, wurde alles schon festlich für die Feier geschmückt. Sogar Musik sollte es geben und dafür hatte der Brautvater die Zikaden bestellt.
So spielten die Schmetterlinge am Tag vor der Hochzeit ausgelassen miteinander und die Sonne am Himmel schaute mit heller Freude zu ihnen hinunter. Etwa um die Mittagszeit hatte Lela genug vom Spiel und sie verabschiedete sich von den anderen.
„Ich will jetzt nach Hause“, rief sie den Freundinnen zu, „vor dem Fest gibt’s sicher noch allerhand zu tun. Aber zuvor flieg ich noch rasch zu den Zikaden, damit sie morgen auch wirklich kommen.“
Lela schwirrte in den Wald hinein und in ihren Gedanken weilte sie bereits bei der Hochzeit. Plötzlich sah sie in der Ferne ein Glitzern und ihre Neugier wurde geweckt. „Was mag das wohl sein?“, fragte sich die Schmetterlingsbraut und flog darauf zu. Nicht einmal im Entferntesten dachte sie an eine drohende Gefahr und dann war es auch schon zu spät. Lela war geradewegs in ein Spinnennetz hineingeflogen.
Als der erste Schreck vorüber war, begann Lela heftig zu zappeln, aber sie konnte sich nicht befreien. Ihre zarten Flügel klebten viel zu fest.
„Hi! Hi! Hi! – Was habe ich da für einen tollen Fang gemacht!“, rief eine krächzende, bösartige Stimme und Lelas Herz klopfte vor Angst immer heftiger. An einem dünnen Faden ließ sich die Spinne zu dem Schmetterling hinab und schaute ihn aus gelben Augen listig an.
„Hättest halt besser aufgepasst, Kleine. Aber des einen Leid, des andern Freud. Nun brauche ich mir um mein Abendmahl keine Gedanken mehr zu machen.“
„Bi … bitte, Frau Spinne, verschont mich“, bettelte Lela mit zitternder Stimme. „Ich bin noch so jung und an mir ist doch gar nicht viel dran. Außerdem will ich morgen heiraten.“
„Was geht mich das an, dummes Ding?“, fragte die Spinne verächtlich. „Ich muss ja schließlich auch leben. Wenn ich jeden, der sich in meinem Netz verfängt, freilassen würde, wäre ich längst verhungert.“
„Wenn du mich fliegen lässt, Frau Spinne, dann bekommst du von mir so viel zu essen, wie du willst, und brauchst nie wieder Tiere zu fangen“, versprach Lela in ihrer großen Not, aber die Spinne antwortete nur mit einem hässlichen Lachen und sagte: „Vergiss es, Kleine. Zappel ruhig noch ein wenig, noch ist nicht Abendbrotzeit, obwohl mir das Wasser schon im Munde zusammenläuft bei deinem Anblick. Ein so hübsches Schmetterlingsmädchen hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr in meinem Netz.“
Dann war Lela wieder allein und sie wünschte sich, dass es nie Abend werden würde. War denn gar niemand in der Nähe, der ihr helfen konnte? Sie rief so laut sie konnte nach den Eltern, den Freundinnen und dem Liebsten. Immer wieder versuchte sie, sich selbst aus dieser Lage zu befreien, aber vergebens. Ihre Kräfte wurden immer schwächer und sie fiel vor lauter Angst und Erschöpfung in Ohnmacht.
Susa und die anderen Falter vergnügten sich nach Lelas Fortflug noch lange Zeit auf der Wiese, bis die Sonne allmählich hinter den Baumkronen verschwand. Nun war es auch für sie Zeit, den Heimweg anzutreten. Plötzlich näherte sich ihnen ein Zitronenfalter.
„Wartet!“, rief er den Tagpfauenaugen zu. „Ich komme geradewegs aus dem Wald und was glaubt ihr, habe ich dort gesehen?“
„Was denn?“, fragte Susa.
„Ein Spinnennetz und Lela ist darin gefangen. Ich habe euch heute Mittag auf der Wiese spielen sehen und hoffte, dass ich euch hier noch antreffe.“
„Lela im Spinnennetz!“, riefen alle Schmetterlinge im Chor. „Da müssen wir sofort hin und sie befreien, bevor die Spinne sie frisst.“
Gemeinsam flogen sie dem Zitronenfalter nach, bis sie Lela fanden.
Lela war noch immer ohnmächtig und die Spinne bereits auf dem Weg zu ihrer Beute.
„Seht doch nur, sie seilt sich gerade ab. Wir sind noch im richtigen Moment gekommen“, rief Susa ihren Freundinnen zu. „Lenkt die Spinne ab und wir beide“, Susa schaute zu dem Zitronenfalter hin, „versuchen, Lela zu befreien.“
Nun musste alles flink gehen. Die Tagpfauenaugen flatterten in wildem Flug um die Spinne herum, die gar nicht mehr wusste, wie ihr geschah. Sie fluchte und kreischte: „Ihr werdet mir mein Abendbrot nicht nehmen. Verrrrrrrrschwinnnndet!“ Sie griff mit ihren dünnen Armen um sich, erwischte aber zum Glück keinen der Schmetterlinge.
Susa und der Zitronenfalter mussten schnell handeln. Wie konnten sie Lela aus dem Netz befreien, ohne sich selbst darin zu verfangen?
„Ich habe es!“, rief der Zitronenfalter. „Zwei Bäume weiter wohnt Herr Eichhorn. Er ist schon recht alt und hört auch nicht mehr gut. Er lebt sehr zurückgezogen, aber er wird uns ganz bestimmt helfen.“ Flink flatterte der Falter davon und erschien kurz darauf mit dem Eichhörnchen wieder. Dieses wusste sofort, was zu tun war. So schnell er konnte, eilte Herr Eichhorn auf den Baum und begann, das Netz zu zerstören, das die Spinne zwischen die Zweige gewebt hatte. Langsam schwebte es mit Lela zu Boden, die in diesem Augenblick wieder erwachte.
Vorsichtig befreite Herr Eichhorn das zitternde Schmetterlingsmädchen aus seinem klebrigen Gefängnis. Gottseidank war Lela unverletzt und sie bedankte sich herzlich bei dem Eichhörnchen und natürlich bei den Freundinnen und dem Zitronenfalter für die Hilfe.
Unter dem zornigen Gebrüll der Spinne flogen die Schmetterlinge nach Hause.
Dann war der Tag des großen Festes und Lelas Erlebnis mit dem Spinnennetz in den Hintergrund geraten.
Die Schmetterlingsbraut sah wunderschön aus mit einem Schleier aus Blumenblättchen und einem Kranz auf dem zierlichen Kopf. Tore stand neben seiner Lela, als der oberste Schmetterling, der Admiral, das Hochzeitspaar miteinander vermählte.
Später wurde getanzt, gegessen, gesungen und gelacht. Die ganze Blumenwiese war in ein Meer von Schmetterlingen getaucht und nie klangen die Melodien der Zikaden lieblicher als an diesem herrlichen Tag. Bis spät in den Abend hinein ging die Feier, die nie ein menschliches Auge gesehen hat.
Quelle: Brigitte