Im Tal der Blumen, umgeben von hohen Bergen, lebte das Volk der Friedmärs. In den bunten Häusern wohnten Alt und Jung im friedlichen Miteinander.
Tagsüber schien herrlich warm die Sonne, nur des Nachts regnete es öfters. Unzählige duftende Blumen blühten auf den Wiesen. Die Wälder waren saftig grün und reich bevölkert mit allerlei Getier.
Das Volk der Friedmärs war ein sehr freundliches. Die Wesen, die hier hausten, glichen uns Menschen in Aussehen und Lebensart. Doch die Türen ihrer Häuser waren nicht fest verschlossen, sondern standen stets weit offen. Manches war ganz anders als bei uns Menschen. Die Hexen, die in den Baumkronen wohnten, ob groß oder klein, konnten wahrhaftig zaubern. Doch eine Bedingung mussten sie erfüllen: Ihre Zauberkunst sollte dem anderen auch Freude bereiten.
Balduin war ein lieber und freundlicher Bub. Sein frohes Lachen bezauberte Jung und Alt.
Der Knabe war immer nett zu den anderen, doch meistens saß oder lag er müde im hohen Gras. Das musste sich ändern! Aber wie?
Es geschah an einem Sommernachmittag. Die Kinder spielten fröhlich mit dem roten Ball. Sie warfen diesen in die Luft. Er flog hoch und höher. Jauchzend versuchten die Mädchen und Burschen, den Ball wieder zu erhaschen.
Doch je höher der Ball in den Himmel stieg, umso mehr veränderte sich seine Farbe. Mal war er rosarot, dann wieder grün und leuchtend orange. Er flimmerte und glänzte im Sonnenlicht. Fiel er endlich zur Erde, dann war seine Farbe wieder rot.
„Balduin, komm lauf mit uns!“, riefen die Kinder. Doch der Junge saß im Gras und schüttelte den Kopf.
„Ach komm mit? Sei doch bloß nicht so faul!“ Lustig umtanzten die Kinder den müden Buben im Gras.
Eigentlich wusste Balduin auch nicht, warum ihn Ballspielen nicht interessierte. Hatte er Angst? Die Kinder wandten sich von ihm ab und luden ihn nicht mehr ein. Doch gerade dies wollte der Knabe ganz und gar nicht. Er wurde sehr traurig und sein Lachen verstummte.
Plötzlich wirbelte ein rundliches Etwas durch die Luft und landete geradewegs im hohen Gras dicht vor seiner Nase. Was war das? Die Hexe Labelino umklammerte ihren Besen und schaute neugierig. Leise kichernd fragte sie: „Na mein Kleiner, warum blickst du gar so traurig? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen? Oder hat dir jemand den Zauberstab stibitzt?“
Balduin schüttelte heftig den Kopf und klagte der lustigen Hexe sein Leid. Endlich hörte ihm jemand zu und verstand seinen Kummer.
Labelino kratzte sich am Kinn, fuhr mit ihren langen Fingern durch die rote Stoppelfrisur und dachte nach.
Plötzlich hüpfte sie aufgeregt mit ihrem Besen im Kreis und kreischte vor Freude. Dabei riss die Hexe den Mund weit auf und der einzige Zahn, den sie besaß, wackelte bedenklich.
Ungeduldig packte sie nun die Hand des Jungen und zog ihn mit. Vor ihrem Baumhaus machte sie Halt: „Fliegst du mit mir hoch? Oder hast du etwa schon wieder die Hosen voll und traust dich nicht?“, fragte Labelino listig.
„Da hinauf, in schwindelnde Höhe? Was ist, wenn ich runterfalle? Lieber nicht! Sage ich nun nein, dann redet keiner mehr mit mir“, jammerte Balduin vor Angst.
„Ja, ich will es wagen“, antwortete schließlich der Bub tapfer.
Gemeinsam mit der lustigen Hexe schwang er sich auf den Besen und dieser raste hoch in die Zweige des Baumes.
Inmitten der Krone befand sich ein winziges, rundes Haus mit spitzem Dach. Die Tür stand weit offen und unsanft landeten Labelino und Balduin. Der Junge sprang vom Besen und eilte ins Innere des Häuschens. Viele Decken und Polster waren auf dem grünen, kühlen Moos ausgebreitet und luden zum Verweilen ein. Am Fenster spiegelte sich in Glasperlen das Sonnenlicht. Überrascht betrachtete Balduin das gemütliche Zuhause.
Labelino ließ sich in die Kissen fallen und lud Balduin ein, ebenfalls Platz zu nehmen. Dann sah sie den Buben streng an. Doch ihre funkelnden, blaugrünen Augen lächelten verschmitzt: „Du bist zwar ein ganz lieber und netter Bub, aber schrecklich langweilig!“, sagte sie mit singender Stimme. Dann stand sie auf und verschwand in der winzigen Küche. Mit einem Leinensäckchen kam sie wieder und öffnete dieses.
Drei rostbraune, längliche Kerne legte die Hexe auf den Boden. „Das sind Kirschkerne“, erklärte sie dem verdutzten Balduin. „Ich bin mir sicher, du hast Talent und bist ein ausgezeichneter Gärtner.
Durch gute Pflege wächst aus den Kirschkernen ein stattlicher Baum. Nun pass gut auf, ich erkläre dir, wie du sie behandeln musst. Zuerst wird die Erde gelockert, dann gräbst du eine kleine Mulde und legst einen Kern hinein. Deckst diesen mit Erde ab und jeden Tag begießt du schön brav dieses Plätzchen. Mit Holzstückchen sollst du die Stelle markieren. Immer das Unkraut jäten. Du wirst staunen, welch Wunder dann erwacht!“ Die Hexe lächelte geheimnisvoll bei ihren Worten.
Ein wenig später stand Balduin allein auf der Blumenwiese und grübelte: Sollte er wirklich die Kirschkerne pflanzen. Das bedeutete zuviel Arbeit. Nein, viel lieber faul in der Sonne liegen! „Balduin, du schaffst es. Deine Freunde werden Augen machen!“ Laut sprach sich der Bub Mut zu.
In der Nähe des munteren Baches, an einer besonders sonnigen Stelle, grub Balduin jeweils ein Loch in die Erde. Zuvor hatte der Junge das Gras entfernt. Immer ein Kirschkern wurde in die Mulde gebettet und mit Erde bedeckt. Rundherum jätete er das Unkraut, markierte die Stellen mit Kieselsteinen. „Jeden Tag gießen und viel Geduld haben“, murmelte der Bub.
Tagtäglich lief der kleine Gärtner zu seinen versteckten Kirschkernen.
Den anderen Kindern blieb dieses ungewöhnliche Tun nicht verborgen. Sie bedrängten Balduin, von seinem Geheimnis zu erzählen.
Da berichtete der kleine Gärtner von den schlafenden Kirschkernen, die durch seine liebevolle Pflege zu einem riesengroßen Baum heranwachsen würden.
Schon spielten alle Kinder Kirschbaum. Sie knieten sich auf die Wiese und rollten sich zusammen. Allmählich und langsam begannen sie sich zu regen. Endlich fing das winzige Bäumchen zu wachsen an, bis ein großer, schöner Baum auf der Wiese stand. Die Kinder streckten die Arme der Sonne entgegen und zeigten, welch herrliche Äste dieser hatte.
Tage und Wochen zogen ins Land. Und eines Morgens entdeckte der Bub das Wunder. Aus der Erde lugte ein Keimling hervor. Vorsichtig lockerte der Junge das Erdreich, entfernte die Grashalme und goss den Winzling. Es dauerte nicht lange, da wuchs er zu einem kleinen Bäumchen heran.
Labelino, die lustige Hexe, hatte die Zeit und Balduin beinahe vergessen. Jetzt fiel ihr die Begegnung mit dem Bub wieder ein. Was war wohl aus den Kirschkernen geworden?
Aufgeregt flog sie zur Blumenwiese und was sah sie dort? Labelino staunte nicht schlecht; Balduin trällerte und umtanzte das junge Bäumchen:
Du mein lieber Kirschbaum
bist mein allerschönster Traum
wachse hoch
und höher
werde groß
und größer
bist mein liebster Baum
und der schönste Traum.
Monate später hingen duftende, rosarote Blüten an den Ästen des jungen Baumes. Bienen und Schmetterlinge umschwirrten diese Pracht. Die Kinder konnten es kaum fassen: Ihr Kirschbaum blühte!
Nachdem einigen Wochen vergangen waren, hingen die ersten, süßen Früchte an den Zweigen. Hei! War das eine Freude!
Balduin teilte die begehrten Kirschen mit seinen Freunden. Doch es hätte nie und nimmer gereicht. Labelino, gut versteckt, schwang den Zauberstab und hexte unendlich viele Früchte herbei.
Balduin blickte nachdenklich und fragend. Das gab es eigentlich nicht! Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Da musste jemand …!
Eilig rannte er zu den Sträuchern und zog die Hexe hervor. Verlegen blickte Labelino die Kinder an. Balduin legte beide Arme um sie und drückte sie liebevoll. Alle Kinder bedankten sich herzlich bei der lustigen Hexe für die süßen Früchte. Später tanzten sie gemeinsam um den kleinen Kirschbaum. Fröhliche Lieder sangen alle und Balduin war überglücklich. Er hatte seine Lebensfreude wieder gefunden, obendrein noch viele Freunde und faul war er nur noch ganz selten. Balduin wurde ein wunderbarer Gärtner.
Quelle: nicht angegeben