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Der rote Schäfer und sein blaues Schaf

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Josef war immer ein armer Mensch gewesen. Das Licht der Welt erblickte er in einer alten Lehmhütte, die an einem Stall anlag. Von klein auf war er es gewohnt, mit den Schafen zu essen, die seine Eltern züchteten. Denn die Tür zum Stall war immer offen: Im Winter, damit es in dem kleinen Raum, indem die Familie lebte, warm war, und im Sommer, weil man sich an die offene Tür vom Winter gewöhnt hatte. Josef roch den Gestank nicht. Er kannte nichts anderes. Auch, weil er fast den ganzen Tag seinem Vater beim Füttern, Scheren und Hüten der Schafe helfen musste. Die Schafe und ihr Geruch waren Josef vertrauter als sein eigener.

Der Junge trug immer dieselben zerlumpten Kleider auf dem Leib, denn seine Familie war wegen der hohen Abgaben, die sie an den gefräßigen König entrichten mussten, zu arm, um neue zu kaufen. Die anderen Kinder hänselten Josef in der Dorfschule aber nicht nur wegen seiner Lumpen, sondern mehr waren seine leuchtend roten Haare Zielscheibe ihres Spotts. ‚Feuerkopf‘ nannten sie ihn und fuhren ihm durch seine langen Haare, wobei sie so taten, als hätten sie sich verbrannt. Einmal hat ein Junge ein rohes Ei über seinem Kopf zerschlagen, sodass das Innere über Josefs Haar lief. Der Junge, der das getan hatte, meinte nur achselzuckend, er wollte sich ein Spiegelei braten.

Als Erwachsenem erging es Josef nicht besser wie in seiner Kindheit. Seit sein Vater gestorben war, musste er mit seiner kränkelnden Mutter alleine die Schafzucht betreiben. Und er musste härter arbeiten, weil der gefräßige König mit der Zeit noch gefräßiger geworden war und von Monat zu Monat höhere Abgaben verlangte. Menschen schworen, sie hätten gesehen, wie eine ganze Kuh in sein Schloss geführt wurde, und dass nach dem Abendessen die Hausdiener nur noch die sauber abgenagten Knochen heraustrugen. Ein weiteres Gerücht, an das die Leute felsenfest glaubten, lautete, der König habe im Schloss alle Türrahmen vergrößern lassen, weil er in ihnen stecken blieb, sodass Mägde und Diener sich von hinten gegen ihn stemmen und von vorne an seinen Armen ziehen mussten, um ihn zu befreien.

Josef war im mittleren Alter noch immer arm, trug noch immer zerlumpte Sachen auf dem Leib und wegen seiner kräftigen roten Haare wurde er noch immer ‚Feuerkopf‘ gerufen. Aber diesmal waren es nicht nur seine früheren Klassenkameraden, die ihn so schimpften, sondern auch noch deren Kinder.

Einmal hatten ihm zwei Nachbarsjungen, während er mit dem Rücken an einen Baum gelehnt vor Erschöpfung eingeschlafen war, eine Lunte in den offenen Mund gelegt und das andere Ende angezündet. Josef war von dem Zischen noch rechtzeitig aufgewacht, um das brennende Seil fortzuwerfen. Aus dem Gebüsch hörte er das laute Lachen der Lausbuben, die nach dem Streich eilig davonliefen. Josef konnte über diese Art von Scherzen nur den Kopf schütteln.

So hielt der rote Schäfer, wie alle im Dorf ihn wegen seiner roten Haare nannten, es auch für einen Streich, als er in den Stall zu den neugeborenen Lämmern kam und entdeckte, dass eines ein blaues Fell hatte. „Komm her, mein Liebes, wir waschen dir die Farbe aus“, sprach er sanftmütig zu dem Lamm, nahm es unter den Arm und ging mit ihm zur Wassertränke. Er griff nach einem zerfetzten Lappen, machte ihn nass und rubbelte damit dem Tier kräftig durch das blaue Fell – aber die Farbe wollte sich nicht lösen. Josef tat dies mit einem Achselzucken ab. Er dachte bei sich, sie werde schon herauswachsen. Aber als nach Tagen die blaue Farbe nicht verschwunden war sondern immer kräftiger wurde, erkannte er, dass dies kein böser Scherz von Lausbuben war. Er hatte ein Schaf, auf dessen Körper blaue Wolle wuchs.

Josef erzählte niemandem von seinem blauen Schaf. Immer, wenn er die Herde auf die Weide trieb, zog er ihm die Kleider seiner Mutter an, die vor einem Jahr gestorben war. Da seine Mutter sehr mager und klein war, musste er schon bald mehrere Kleider aneinandernähen, damit das Fell des Schafes bedeckt war. Als einmal ein Wanderer des Weges kam und ihn fragte, warum eines der Schafe Kleider trug, antwortete dieser, das Schaf sei sehr schamhaft und ginge nackt nicht aus dem Stall.

Schnell verbreitete sich im Dorf die Neuigkeit von dem roten Schäfer, der ein Schaf hatte, das in Frauenkleidern auf der Weide graste. Aber keiner stellte die Geschichte des Schäfers in Frage. Zu einem verrückten Schäfer gehöre eben auch ein verrücktes Schaf, sagten sie.

Schließlich war im Frühling die Zeit gekommen, die Schafe zu scheren. Das blaue Schaf nahm sich Josef als erstes vor. Dazu setzte er sich auf einen Stuhl und klemmte sich das Tier geschickt zwischen die Beine. Es zappelte nicht wie die anderen Schafe, die diese Prozedur das erste Mal über sich ergehen lassen mussten, sondern hielt ganz still. Mit einer scharfen Schafschere befreite der Schäfer das Schaf von seiner wolligen Last. Als er fertig war, ließ er das Tier los. Es schüttelte sich und lief davon.

Josef warf die blaue Wolle, die um ihn herumlag, in einen Korb. Sie war weich wie Luft, warm wie Sonnenstrahlen und schmiegsam wie Wasser. Es war die beste Wolle, die er jemals in Händen gehalten hatte.

Am nächsten Morgen fuhr Josef mit seiner Wolle auf den Markt, um sie in Säcken an Weber zu verkaufen, die sie zu feinen Tuchen weiterverarbeiteten. Das größte Interesse rief dabei die blaue Wolle hervor.

„Sag, Schäfer, hast du diese Wolle etwa schon gefärbt?“, fragte einer der Kunden, die ins Innere des Sackes lugten.

Josef antwortete: „Nein, ich hab ein Schaf, auf dessen Körper blaue Wolle sprießt.“

Die Menschen, die um ihn herumstanden, schnappten nach Luft und wichen vor der Wolle zurück. Sie hielten sie für Teufelszeug und bekamen Angst.

Der Kunde, der gefragt hatte, nickte aber und beschloss, die blaue Wolle zu kaufen. Er gab dem roten Schäfer das Doppelte, was er für die normale weiße Wolle verlangte.

Von nun an mieden die anderen Dorfbewohner Josef. Sie beschimpften ihn nicht mehr als ‚Feuerkopf‘, warfen keine Sachen mehr nach ihm und auch kein Lausbub kam mehr auf seinen Hof gelaufen, um ihm einen Streich zu spielen; sie fürchteten sich vor dem blauen Schaf, das sie auch Teufelsschaf nannten. Menschen schworen, sie hätten gesehen, wie der Schäfer das Schaf mit Asche fütterte und ihm Blut zu trinken gab. Ein weiteres Gerücht, an das die Leute felsenfest glaubten, lautete, das Schaf würde Feuer speien und hätte messerscharfe Zähne, die so lang wie die Unterarme eines erwachsenen Mannes seien.

Josef spürte, dass ihm das Schaf Glück brachte. Er genoss die Zeit, die er mit ihm verbrachte: So redete er mit dem Tier und vertraute ihm seine Geheimnisse und Wünsche an, die ihm auf der Seele lagen. Auch tröstete das Schaf seinen Schäfer, wenn er traurig war, indem es ihm den Kopf auf die Schulter legte und mit seiner Wolle die Tränen von dessen Gesicht wischte.

Im nächsten Jahr fuhr der rote Schäfer wieder mit seinen Waren zum Wollmarkt. Mehrere Säcke waren mit weißer Wolle und ein Sack war erneut mit blauer Wolle gefüllt.

Kaum hatte der Mann, der letztes Jahr die Wolle von dem Schäfer gekauft hatte, diesen erblickt, rannte er schon auf ihn zu: „Schäfer, Schäfer! Ich möchte dir deine blaue Wolle abkaufen! Und ich gebe dir das Hundertfache dafür, was ich dir letztes Jahr gezahlt habe! Die Wolle ist ausgezeichnet! Die Kleider, die aus ihr gefertigt wurden, liegen wie eine zweite Haut auf demjenigen, der sie trägt und die Farbe wird nicht blasser, egal wie häufig man die Kleider wäscht.“

Josef staunte nicht schlecht über dieses Angebot. Das Hundertfache! Damit konnte er die anstrengende Schafzucht aufgeben, sich endlich ein schönes Haus bauen und ein geruhsames Leben führen. Also verkaufte er dem Kunden die Wolle.

Und auch im dritten Jahr fuhr Josef zum Wollmarkt, diesmal nur mit einem Sack blauer Wolle im Gepäck. Aber der Schäfer war überrascht, als dort nicht der alte Kunde, sondern zwei Ritter auf ihn warteten. Sie sagten ihm, der König wolle mit ihm sprechen und ihm ein Angebot machen. Sprachlos stimmte Josef zu, und in Begleitung der Ritter fuhr er hinauf zum Schloss. Dort angekommen, erwartete der König ihn schon im Thronsaal. Er war wirklich unglaublich dick, der dickste Mensch, den Josef jemals gesehen hatte. Er glaubte nun auch, dass dieser Mann mühelos eine ganze Kuh verschlingen konnte.

„Sei gegrüßt“, sprach der Monarch. Josef senkte das Haupt, wie es vor dem König üblich war, zumindest hatte er das gehört.

„Sieh dir meine Kleidung an, Schäfer!“, sagte der König, breitete die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst.

Josef sah, dass der König ein blaues Gewand trug, das mit Diamanten besetzt war. Der Stoff schimmerte wie das Meer auf seinen Schultern und die Diamanten wie Sterne, die in das Wasser gefallen waren.

„Dieses Gewand wurde aus deiner Wolle gefertigt, Schäfer. Ist es nicht das schönste Kleidungsstück, das du jemals gesehen hast?“, fragte der König.

Josef nickte. „Ja, mein Herr. Es steht Euch vorzüglich.“

„Und mir ist zu Ohren gekommen, du hättest ein Schaf, das für die wunderbare Wolle, aus der mein Gewand gefertigt wurde, verantwortlich ist. Entspricht dies der Wahrheit?“, fragte der Monarch weiter.

Josef nickte. „Ich verkaufe Euch die Wolle, wenn Ihr möchtet.“ Josef wagte nicht zu sagen, was er letztes Mal für die Wolle bekommen hatte. Das erschien ihm zu vermessen.

„Ich möchte nicht die Wolle“, winkte der König kurzerhand ab. „Ich möchte dein Schaf.“

Josef musste schlucken. „Nun, werter Herr, ich kann Euch jedes Jahr die Wolle liefern, dann braucht ihr Euch nicht um die Pflege des Tieres zu kümmern und …“

„Ich will doch nicht die Wolle. Kleider sind zwar schön, aber aus ihnen habe ich mir nie sonderlich viel gemacht“, unterbrach der Monarch ihn und eröffnete dem roten Schäfer ohne Umschweife: „Für mich zählt, was meinen Gaumen erfreut. Ich will, dass meine Köche mir aus dem Schaf ein Gericht bereiten. Wenn das Tier die beste Wolle der Welt hergibt, wie köstlich und zart muss dann erst sein Fleisch sein!“ Die Augen des Königs funkelten. Er stöhnte, als könnte er das saftige Fleisch schon auf seiner Zunge schmecken.

„Ich kann das Schaf nicht schlachten“, widersprach Josef. „Mit dem Ertrag durch den Verkauf seiner Wolle konnte ich mir ein schönes Haus bauen und ein gutes Leben führen.“

„Ich gebe dir eine Truhe voll mit Gold und Edelsteinen für das Schaf. Was sagst du?“, bot der fette König dem roten Schäfer an. Als Josef zögerte, erhöhte der König sofort das Angebot: „Zwei Truhen voll mit Gold und Edelsteinen will ich dir geben! Du wirst bis ans Ende deines Lebens unendlich reich sein. Reicher als das ganze Volk zusammen!“

„Unendlich reich sein. Reicher als das ganze Volk zusammen“, wiederholte Josef leise vor sich hin. Sein Schicksal schien sich zu wenden. Zwar war er durch die blaue Wolle schon zu einem stattlichen Vermögen gekommen, das in den kommenden Jahren noch wachsen würde, wenn sich in der Welt herumsprach, was für wundervolle Wolle er feilbot. Aber nie würde er zwei Truhen voll mit Gold und Edelsteinen mit ihr verdienen.

„So soll es sein. Ich verkaufe dir das Schaf“, sagte er schließlich.

In Vorfreude auf das Mahl leckte sich der König über die Lippen. Er würde das köstlichste Gericht essen, das jemals ein Mensch gegessen hatte, davon war er überzeugt. Es wäre ein Gericht, das sein Leben verändern würde. „Heute zu Mittag schicke ich zwei Ritter zu deinem Haus, die dir die Truhen bringen und mein Schaf abholen werden.“

Josef antwortete nicht mehr sondern nickte nur.

Schließlich, zu Mittag, kamen die Ritter auf zwei Pferden in den Garten des Schäfers geritten. Hinter einem der Pferde war ein Karren gespannt, der die zwei Truhen mit Gold und Edelsteinen enthielt. Auf dem Rückweg zum Schloss würde dann das Schaf darauf Platz finden.

Die Ritter stiegen ab und stellten Josef die beiden Truhen vor die Türschwelle. Anschließend zeigte der Schäfer, der in diesem Moment keiner mehr war, den Rittern den Stall. Josef konnte nicht hinsehen, als sie das blaue Schaf am Zügel herausholten und es auf den Karren luden. Als er einmal aufblickte, sah ihn das Schaf, das sein Leben so bereichert hatte, direkt in die Augen. Und Josef meinte, er sähe in diesem Blick einen Vorwurf. Er fühlte sich elend, als er die Türe seines schönen Hauses schloss. Er würde das Schaf nie wieder sehen; nie wieder würde er ihm seine Geheimnisse und Wünsche ins Ohr flüstern und nie wieder würde es ihn trösten, wenn er traurig war. Aber er wollte sich mit dem Gold und den Edelsteinen alle seine Wünsche erfüllen und bei so viel Reichtum schien ihm Trauer undenkbar zu sein.

Noch am Abend, als der Schäfer mit einem Krug Wein in der Hand, den er schon mehrmals an diesem Tag gefüllt hatte, in seinem Haus am Tisch eingenickt war, hörte er es an seine Haustür pochen. Als er die Tür öffnete, standen zwei Ritter vor ihm, die sagten, der König sei nach dem Verzehr des Schaffleisches gestorben. Sie warfen dem Schäfer vor, das Schaf vergiftet zu haben, um den König zu töten.

Bevor Josef ein Wort sagen konnte, ergriffen ihn die zwei Ritter auch schon, ketteten ihn auf dem Karren an und fuhren mit ihm hinauf zum Schloss, wo er in den Kerker geworfen wurde. Aber als die Ärzte versicherten, das Fleisch des Schafes sei nicht vergiftet worden, es sei von Natur aus nicht genießbar, ließ man Josef laufen. Man vertrieb ihn jedoch aus dem Königreich. Er verlor sein schönes Haus, seine edle Kleidung und seine beiden Truhen, die bis an den Rand mit Gold und Edelsteinen gefüllt waren. Von nun an zog er als Bettler verirrt durchs Land, ohne jemals wieder einen Freund zu finden.

Josef starb nach einigen Jahren als armer Mensch auf einem Waldweg. Er musste aus der Welt scheiden, ohne einen Taler in der Tasche zu haben. Aber was ihn noch ärmer machte, war, dass er jahrelang niemanden hatte, dem er seine Geheimnisse und Wünsche erzählen konnte und der ihm Trost spendete in seiner schweren Zeit.

Quelle: Martin Lindner

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