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Märchenbasar

Die Teichnixe

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Irgendwo, in den tiefen Wäldern verborgen, lag vor langer Zeit ein weiter, dunkler Teich. Die Bäume standen so dicht um ihn, dass sie seinen glatten Spiegel vor fremden Blicken verbargen und sich selten ein Wanderer an diesen Ort verirrte. In dem tiefen Wasser aber lebten die Teichnixen. Zur Zeit der Dämmerung tauchten sie oft ans Ufer, streckten die Köpfe heraus und unterhielten sich mit den wilden Tieren, die zum Trinken kamen. Am liebsten spielten sie jedoch am Grund des Teiches zwischen den verschlungenen Wasserpflanzen Verstecken oder sie lagen im seichten Wasser und flochten einander Sumpfdotterblumen in das wirre, grüne Haar.
Unter ihnen lebte auch ein Nixe, deren Augen von demselben dunklen Grün waren wie die Moospolster auf den Ufersteinen. So kam es, das sie von ihren Schwestern und den Tieren nur Moosauge gerufen wurde. Während die anderen ihre Spiele spielten, schwamm sie oft alleine ihre Runden und träumte von fernen Ländern und Reichen, denn sie war des Teiches überdrüssig.
Als Moosauge sich eines Abends wieder alleine an der Oberfläche treiben ließ, geschah es jedoch, dass sie vom Ufer her etwas Weißes durch das Dickicht schimmern sah. Neugierig näherte sie sich und erkannte einen großen, weißen Vogel, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, der mit verrenkten Flügeln auf dem Boden lag.
Vorsichtig zog sie sich so weit wie möglich aus dem Wasser heraus und nahm das Tier behutsam in die Hände. Als er die Berührung des Mädchens spürte, hob der Vogel schwach den Kopf und sah es aus seinen schwarzen Augen an.
“Bitte, hilf mir”, krächzte er müde. “Ein schwerer Sturm hat mich weit von meiner Heimat fortgetragen und nun bin ich zu erschöpft, um zurückzufliegen. Meine Flügel sind gebrochen und wenn ich keinen sicheren Unterschlupf finde, werden mich die Füchse töten.”
“Ich glaube dir gerne, dass du von weit her kommst”, sagte Moosauge, während sie mit ihm in den Armen vorsichtig auf den See hinausschwamm. “Die Vögel hier sind kleiner und von unauffälliger Farbe. Du jedoch bist so weiß, wie ich es noch nie gesehen habe.”
“Ich komme auch vom Meer”, berichtete der Vogel, “und bin eine Möwe.”
Moosauge nahm sich des Tieres an und bereitete ihm auf einer winzigen Insel inmitten des Teiches ein Nest aus Schilfgras, wohin kein Fuchs gelangen konnte. Sie brachte der Möwe zu essen, schiente ihren Flügel mit kundigen Händen und pflegte mit heilenden Wasserpflanzen seine Wunden. Dabei erzählte der Vogel von seiner Heimat, dem weiten, blauen Ozean und auch Moosauges Herz wurde von Sehnsucht erfüllt.
Schließlich kam der Tag, an dem die Flügel der Möwe geheilt waren und sie fühlte, dass es Zeit wurde, zurückzukehren. Als Moosauge am Morgen zu ihr kam, sagte sie der Nixe: “Hab Dank für alles, meine Liebe. Nun bin ich gesund und muss zurück zum Meer fliegen. Der Abschied ist schmerzlich nach allem, aber ich sehne mich bereits danach, mit meinen Artgenossen über die Wellen zu streichen.”
“Vielleicht aber kommt der Abschied noch nicht so bald”, erwiderte da die Nixe, denn sie hatte in vielen schlaflosen Nächten an den Ozean gedacht und einen Entschluss gefasst. “Als du hierher kamst, habe ich dir geholfen. Nun ist es an mir, dich um einen Gefallen zu bitten. Ich bin dieses Ortes längst überdrüssig und möchte das Meer sehen. Kannst du mich nicht mit dir nehmen?”
Da krächzte die Möwe laut und breitete ihre Schwingen aus.
“Wenn das dein Wunsch ist, dann werde ich ihn dir gerne erfüllen, denn ich bin es dir schuldig und freue mich, dass du als meine Freundin mit mir kommst.”
Der Vogel führte die Nixe daraufhin zu der Stelle, wo ein Bächlein aus dem Teich entsprang und dieses schwamm Moosauge entlang.
Bald wuchs das Gewässer zu einem breiten Strom, der weit durchs Land führte, vorbei an Dörfern und Höfen, an Wiesen und Weiden. All das hatte die Nixe noch nie gesehen und sie staunte über die Welt.
Nach vielen Tagen erreichten die beiden das Meer. Der breite Fluss ergoss sich in eine stille Bucht und Moosauge schwamm neugierig näher. Sie war erstaunt über das salzige Wasser und die Weite des Ozeans.
“Nun ist es Zeit, dass ich zu meinen Freunden fliege”, sagte die Möwe und das Nixenmädchen erkannte, dass hoch oben am Himmel viele ihrer Art kreisten. “Sieh dich um und heute Abend will ich hierher zurückkehren und dir helfen, wenn du nicht weiterweißt, meine Liebe”, krächzte der Vogel noch, ehe er sich in die Lüfte schwang und im Schwarm der Möwen verschwand. Moosauge aber schwamm vorsichtig weiter ins Meer hinein.

Bald geschah es, dass sie ferne Musik vernahm und rasch versteckte sie sich hinter einer baumgroßen Koralle, denn sie wollte erst sehen, welche Wesen hier lebten, ehe sie sich zeigte.
Rasch kamen die Klänge näher und sie erkannte Gestalten, die ihr nicht unähnlich waren. Aber, ach! Wie sie sich näherten, da konnte sie den Blick nicht von ihnen wenden und wollte doch gleichzeitig vor Scham vergehen, denn die fremden Wesen waren, obgleich sie selbst einen Fischschwanz trugen, wunderschön von Angesicht. Ihre Haut schimmerte wie helles Perlmutt und ihre langen Haare schwebten im Wasser um sie her wie goldene, feuerrote oder pechschwarze, seidige Wolken. Mit ihren zierlichen Händen spielten sie auf gedrehten Muschelflöten und die herrliche Musik berührte Moosauge zutiefst. Gebannt beobachtete sie, wie die Männer und Frauen vorüberschwebten. In ihrer Mitte aber schwamm einer, der trug eine schimmernde Krone im Haar und lachte und scherzte mit den übrigen. Als die Nixe ihn erblickte, glaubte sie, ihr Herz zerspränge und sie liebte ihn auf den ersten Blick.
Bald waren die Wesen in der blauen Ferne verschwunden, aber Moosauge wagte es lange nicht, ihr Versteck zu verlassen. Endlich kehrte sie zu der kleinen Bucht zurück, wo die Möwe schon auf sie wartete.
“Wie ist es dir ergangen?”, fragte sie sofort, als sie das Mädchen erblickte.
“Ach!”, rief Moosauge da. “Ich sah seltsame Wesen, wie Nixen und doch so viel schöner. Einer von ihnen trug eine Krone im Haar und er war der Schönste von allen.”
“Dann hast du den Prinzen der Meermenschen erblickt”, erklärte der Vogel augenblicklich. “Aber ich muss nun fort, meine Liebe. Vielleicht treffen wir uns bald wieder.” Er breitete seine weiten Schwingen aus und flog davon, Moosauge aber fühlte sich einsamer denn je.
Sie schwamm an den Strand und betrachtete sich unglücklich in einer der Flutlachen. Traurig strich sie über ihre sandfarbene Haut, musterte ihr krauses, grünes Haar und ihre großen Kulleraugen.
“Was bin ich für ein hässliches Ding”, schluchzte sie bei dem Anblick. “Niemals kann ich mich dem nähern, den ich liebe, denn was könnte er mehr, als über mich lachen?”
Weil sie sich nichts anderes wusste, schwamm sie in eine dunkle Meeresgrotte, wo sie niemand sehen konnte, und weinte lange in der Finsternis.

Es begab sich aber, dass der Prinz vorüberschwamm und das Schluchzen hörte. Auf der Suche nach der Ursache des Geräusches zog es ihn tiefer und tiefer in Höhle hinein.
Endlich hatte er Moosauge erreicht, doch konnte er nicht mehr als einen dunklen Schatten von ihr erkennen.
“Wer bist du, die du da so schrecklich weinst?”, fragte er.
“Ach, ich bin niemand”, sagte da die unglückliche Nixe, denn sie hatte seine Stimme erkannt und war froh, dass er sie nicht sehen und sie sich nicht schämen musste.
Weil der Prinz sie aber nicht alleine lassen wollte und immer weiter nach dem Grund ihres Trauers fragte, begann sie ihm von ihrer alten Heimat und dem langen Weg bis zu Meer zu erzählen.
“Aber willst du nicht herauskommen und meinem Volk davon berichten? Jede schöne Geschichte erfreut unsere Herzen und wir würden dich mit Freuden aufnehmen”, sagte er da.
“Oh, nein!”, rief Moosauge voller Verzweiflung. “Nein, nimmer kann ich hervorkommen!”
So kam der Prinz jeden Tag in die Grotte und sprach mit ihr, ohne je ihr Gesicht zu erblicken. Anfangs tat er es, weil er Mitleid für die Fremde hegte, aber bald begann er ihre sanfte Stimme und die freundlichen Worte zu lieben.
Immer wieder versuchte er, sie zu überreden, mit ihm zu kommen, aber jedes Mal wurde die Nixe von der großen Furcht gepackt, er würde sie nicht mehr wiedersehen wollen, wenn er erst ihr Gesicht erblickt hätte.

Eines Abends entdeckte die Möwe den Prinzen, als er aus der Grotte des Mädchens schwamm und ließ sich neben ihm auf dem Wasser nieder.
“Sei gegrüßt, Möwe”, sagte er. “Ich habe dich lange nicht gesehen.”
“Das stimmt”, pflichtete der Vogel ihm bei. “Denn ein Sturm hat mich fortgetragen und erst seit einigen Tagen bin ich zurückgekehrt. Aber ich brauche nun dringend deine Hilfe, denn ich suche meine Freundin aus einem fernen Land, die mit mir gekommen ist. Schon seit Tagen ist sie verschwunden und ich kann sie nicht finden.”
Da berichtete ihm der Prinz von dem namenlosen Mädchen in der Grotte und der Vogel wusste sofort, dass es Moosauge war. Der Prinz ließ sich berichten, was die Möwe wusste und nun verstand er, warum die Nixe sich in der Dunkelheit verbarg.
Dann schwamm er hinab in den Palast des Meervolkes in der Tiefe und von dort nahm er eine Kristallleuchte fort. Um ihr helles Strahlen zu verbergen, schlug er sie in große Blätter von Seetang ein und so machte er sich auf den Weg zu Moosauge. Als er sich dem Mädchen jedoch näherte, da zog er rasch die Pflanzen fort und ein helles Leuchten erfüllte die Grotte. Zum ersten Mal erblickte er das Gesicht der Nixe, die er durch ihre Worte längst lieben gelernt hatte, und war gebannt von ihrem fremden Aussehen. Die dunkle Haut und ihre großen Augen bannten ihn, der bisher nur unter den hellhäutigen Meermenschen gelebt hatte.
Moosauge aber flüchtete vor dem Licht in den hintersten Winkel der Grotte und weinte bitterlich, denn sie erwartete, dass er nun, nachdem er ihr Gesicht kannte, nie mehr mit ihr sprechen wollte.
Aber er trat zu ihr und nahm sie wortlos an der Hand. Da folgte Moosauge ihm, als er mit ihr hinab in die Stadt seines Volkes schwamm. Die Meerfrauen und -männer drängten sich um sie und bewunderten die fremde Anmut des seltsamen Mädchens.
Nun fühlte Moosauge, wie sich ihr Herz vor Freude überschlug. Man führte sie in die hellerleuchtete Festhalle und dort berichtete sie ihnen von dem fernen Land der Seen und Flüsse, aus dem sie kam und von dem tiefen, weiten Teich im Schatten der Bäume und erweckte in manchem der Zuhörer die Sehnsucht nach der Ferne.

Quelle: Miyax

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