Suche

Der Weg zu den Sternen

1
(3)
In einer Höhle am Fluss wohnte einst ein Koboldmädchen ganz alleine. Vor langer Zeit hatten an jenem Ort viele von den kleinwüchsigen Wesen mit dem weichen Pelz gelebt, doch sie waren schon lange fortgezogen oder gestorben und nur das Mädchen war zurückgeblieben. Seine Mutter hatte ihm einst den Namen Mondfell gegeben, weil sein sonst dunkler Pelz an den Spitzen silbrig schimmerte, aber es gab schon lange keinen mehr, der es so hätte rufen können. Oft stellte sich Mondfell vor, wie ein anderer Kobold in das Tal kommen und bei ihr leben würde, irgendwann, aber wenn sie dann alleine in ihrer kalten Kieshöhle saß und wartete, hörte sie nur das leise Raunen des Windes. Niemand rief sie, niemand kam. Wenn die Nacht klar und dunkel war, dann ging sie oft nach draußen und legte sich auf einen großen Stein im Fluss. Sie sah zu den Sternen, die hoch oben in blauem Feuer funkelten und wünschte sich zu ihnen. Weil sie keinen hatte, mit dem sie reden konnte, begann sie eines Tages, mit den Sternen zu sprechen.
“Irgendwann komme ich zu euch hinauf”, sagte sie dann.
“Wir warten auf dich”, antworteten die Sterne.
In Wahrheit hatte Mondfell Angst davor, das Tal zu verlassen. Sie war noch nie weiter als einen halben Tagesmarsch von ihrer Höhle fortgewesen und wusste nichts von der Welt außerhalb.
Als sie jedoch eines Morgens im Fluss badete und sich von der Strömung ein Stück weit tragen ließ, entdeckte sie im Schilf verborgen ein altes Boot. Neugierig und ängstlich zugleich zog sie es an den Strand und begutachtete ihren Fund. Tatsächlich war kein Leck darin und Mondfell strich vorsichtig mit ihren kleinen Pfoten darüber.
Nachdenklich blickte sie zum Himmel hinauf, wo schon der Abendstern funkelte.
“Es könnte mich weit fort tragen”, dachte sie. “Und wenn ich weiter und weiter fahre, komme ich irgendwann bestimmt zu euch.”
“Komm”, lockte der Abendstern.
Mondfell kam. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie die Kieshöhle verlassen daliegen würde, sie wollte nicht daran denken, nie wiederzurückzukehren. Sie wollte nur zu den Sternen.
Die dunklen Wellen trugen das Koboldmädchen weit. Sie sah zu, wie die Bäume vorbeizogen, auf die sie gerne geklettert war und die Strände, an denen sie gerne gelegen hatte. Irgendwann wurde ihr die Landschaft fremd und sie konnte nicht mehr sagen, wie weit sie schon gefahren war. Aber wenn sie hoch zu den Sternen sah, dann waren es immer noch die selben und sie war beruhigt.
Allmählich wurde die Strömung langsamer. Träge glitt das Boot unter tief hängenden Zweigen hindurch. Eine helle Stimme perlte durch die Nacht, eine zweite schloss sich an. Erstaunt und entzückt spitzte Mondfell die Ohren. Weicher Gesang rieselte zwischen den Ästen hervor und ließ sie schaudern.
Auf einem weißen Sandstrand lief das Boot an Land und Mondfell kletterte hinaus. Von dem vielen Schaukeln war sie ganz wacklig auf den Beinen, aber sie ging tapfer weiter in den fremden, verzauberten Wald hinein. Wer auch immer da sang, konnte ihr bestimmt den Weg zu den Sternen zeigen.
Schließlich gelangte Mondfell auf eine Lichtung. Tautropfen glitzerten zwischen den samtenen Blütenblättern der blauen Blumen, die hier in Büscheln wuchsen. Als sie nähertrat, verstummten die lieblichen Melodien.
“Was tust du hier, Fremdling?”, fragte eine Stimme. Blattwerk raschelte und dann sprang eine junge Frau – eine Fee – mit schimmerndblondem Haar und in einem grünen Kleid zu Boden. Milchweiße Libellenflügeln wuchsen aus ihren Schultern.
“Wisst ihr … wie ich zu den Sternen komme?”, fragte Mondfell leise, denn das plötzliche Erscheinen der Fee hatte sie verängstigt.
“Zu den Sternen? Keiner kommt da hin, also vergiss, was du dir in den Kopf gesetzt hast. Aber hier kannst du nicht bleiben. Es ist unser Wald und wir dulden keine Fremden.”
Da ließ Mondfell den Kopf hängen und lief fort und die Feen begannen wieder zu singen.
Das Koboldmädchen fand die Stelle nicht mehr, wo es sein Boot gelassen hatte, aber im Grunde war es Mondfell gleich. Sie war zu weit von zu Hause fort, um noch umzukehren.
“Ich werde zu euch kommen”, sagte sie und blickte hinauf zum Himmel, aber dichte Wolken hatten die Sterne verhüllt.
Viele Tage verbrachte sie, indem sie immer weiterging.
“Irgendwann stoße ich an den Horizont”, dachte Mondfell, aber stattdessen gelangte sie zu einem Gebirge. Hoch und zerklüftet türmten sich die Felsen vor ihr auf, fast bis in den Himmel und mit einem Mal schlug ihr Herz wieder höher.
“Dort oben werde ich den Weg finden”, machte sie sich Mut und begann, die Felswände zu erklettern. Große Höhen erklomm sie und irrte lange zwischen den Schluchten und Graten entlang, aber überall schienen die Sterne gleich weit entfernt und irgendwann musste sie einsehen, dass es da oben nichts gab als Schnee und kalten Fels und das einsame Lied des Windes. So begann das Mädchen den Abstieg.
Eines Abends gelangte es zu einem kleinen Tal, in dessen Mitte ein spiegelglatter See lag. Als Mondfell sich ihm näherte, sah sie darin die Sterne so hell und klar funkeln, als wäre er ein zweiter Himmel und sie fühlte, wie ihr kleines Herz für einen Moment aussetzte und schmerzhafter denn je wieder zu schlagen begann. Weil sie in dem Augenblick wusste, dass sie ihnen nie näherkommen würde, ließ sie sich ins Wasser sinken, bis sie die Schwärze mit den kleinen Lichtern darin ganz einhüllte. Aber die Wellen vertrieben die Spiegelbilder und bald war da nur noch das eisige Wasser. Mondfell ließ sich treiben und hatte das Gefühl, Jahrhunderte würden vorüberziehen.
Plötzlich spürte sie, wie zwei Arme sie packten und an Land zogen. Mondfell keuchte und schnappte nach Luft. Alles drehte sich. Sie spürte, wie jemand eine warme Decke um sie legte.
“Ich kenne dich gar nicht”, sagte eine freundliche Stimme. “Bist du fremd hier?”
“Sie sieht erschöpft aus. Wir sollten sie zu den anderen bringen”, mischte sich ein Zweiter ein. Verschwommen erkannte Mondfell zwei pelzige Gesichter über sich.
“Zu den anderen?”, fragte sie müde. “Welchen anderen?”
“Den anderen Kobolden natürlich”, sagte derjenige, der als erster gesprochen hatte, als wäre es etwas sehr Selbstverständliches. “Komm!”
Sie spürte, wie sie hochgehoben wurde und dann begann der Himmel über ihr zu wanken, als die beiden Koboldjungen sie vorsichtig trugen. In der Ferne sah sie Lichter funkeln, aber sie wusste, dass es keine Sterne waren.
“Die Lichter unseres Dorfes”, flüsterte einer der beiden ihr ins Ohr. “Es wird dir dort gefallen.”
Mondfell lächelte und sah ein letztes Mal zu den Sternen hoch.
“Sie sind so wie ich”, dachte sie. “Sie haben ein Dorf in den Bergen.”
Die Sterne über ihr zwinkerten ihr zu. “Leb wohl, kleine Freundin”, sagte der Abendstern.
 
Quelle: Miyax

 

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content