Einst lebte ein betagter König mit seinen drei Söhnen. Als er spürte, dass seine Stunde gekommen war, ließ er die drei zu sich rufen. Mit zittriger Stimmer sprach er:
„Meine lieben Söhne, es ist an der Zeit, dass einer von euch meinen Platz einnimmt, denn ich spüre meinen Tod nahen. Von je her ist es so, dass nur derjenige König werden kann, der einen goldenen Apfel vom Baum der Weisheit erlangt. Ich habe euch zu mutigen und klugen Menschen erzogen. Einer von euch wird es bestimmt schaffen.“
Er schloss seine Augen, da ihn die Rede angestrengt hatte.
„Aber Vater“, sagte der älteste Sohn. „Wo sollen wir den Baum der Weisheit finden?“
„Das ist ein Geheimnis und ihr werdet es selbst herausfinden müssen“, antwortete der alte König, seufzte ein letztes Mal und war für immer eingeschlafen.
Drei Tage und Nächte trauerten die Söhne um ihren geliebten Vater, doch am vierten Tag trafen sie sich im Thronsaal. Der Zweitgeborene deutete auf den leeren Thron und sagte: „Wir müssen handeln. Unser Land kann nicht ohne Herrscher bleiben.“
Die beiden anderen nickten. Der jüngste Bruder zeigte auf den ältesten. „Du bist der Erste in der Thronfolge und solltest daher zuerst dein Glück versuchen.“
So kam es, dass der älteste Prinz am nächsten Tag sein Pferd sattelte und losritt, um den goldenen Apfel vom Baum der Weisheit zu holen.
Er ritt über Berge und durch Täler. Immer wieder fragte er nach dem Baum der Weisheit, doch niemand konnte ihm sagen, wo der zu finden war.
Es half nichts. Als eine Woche vergangen war und er immer noch nicht wusste, wo er nach dem goldenen Apfel suchen sollte, wendete er sein Pferd und ritt zurück.
Mit leeren Händen trat er vor seine Brüder. Die klopften ihm auf die Schulter und trösteten ihn.
„Du hast dein Bestes gegeben. Mehr hätte auch unser geliebter Vater nicht von dir verlangt“, sprachen sie.
Einige Tage verstrichen, danach zog der zweite Prinz aus, um den goldenen Apfel zu finden. Er ritt zehn Tage durch das Reich, suchte in jedem Winkel des Landes, befragte alle Leute, auf die er traf, doch keiner wusste, wo sich der Baum der Weisheit befand.
„Wenn ich jetzt umkehre, dann gibt es nur noch den Kleinen, der auf den Thron Anrecht hat. Ich gönne ihn meinem Bruder von Herzen, aber er ist noch zu jung für eine weite Reise und für solch eine Verantwortung. Ich werde noch eine Weile weiterreiten.“
Er sattelte sein Pferd ab und ließ es auf einer Wiese grasen, während er sich ein Schlaflager richtete, denn es wurde bereits dunkel und er wollte das Tageslicht abwarten, um mit seiner Suche fortzufahren.
In der Nacht hatte er einen Traum. Ein weißer Vogel sprach zu ihm: „Bald wirst du an eine Weggabelung kommen. Nimmst du den rechten Weg, gelangst du zu einem Baum, dessen Stamm zwölf Männer nicht umfassen können. Seine Krone reicht bis hoch in den Himmel und seine Äste beugen sich unter der Last der Früchte. Nimmst du den linken Weg, findest du ein Bäumchen. Seinen Stamm kannst du mit deinen Armen umschließen, er hat nur wenige, dünne Äste und er trägt nur eine einzige Frucht. Entscheide dich wohl.“ Dann flog der weiße Vogel davon.
Als es Morgen ward, sattelte der Prinz sein Pferd und saß auf. An seinen Traum erinnerte er sich erst, als er tatsächlich vor einer Weggabelung stand. Welchen Weg sollte er nehmen? Er überlegte nicht lange. Wenn es stimmte, was der weiße Vogel in seinem Traum erzählt hatte, dann war der rechte Weg der richtige. Der Baum der Weisheit konnte kein winziges Bäumchen sein. Er musste groß und mächtig sein, wie es seiner Bedeutung entsprach.
Er schlug den rechten Pfad ein. Bald kam er tatsächlich zu dem mächtigen Baum. Er sah genauso aus, wie ihn der weiße Vogel beschrieben hatte, doch so sehr der Prinz auch nach einem goldenen Apfel Ausschau hielt, er sah weit und breit nur gewöhnliche Früchte.
Enttäuscht wandte er sich ab und ritt zurück, um den anderen Pfad zu suchen. Doch der war wie vom Erdboden verschluckt. Unverrichteter Dinge musste er heimkehren.
Als er endlich angekommen war, konnte er sich weder an seinen Traum, noch an den weißen Vogel und auch nicht an die Weggabelung und die zwei Bäume erinnern, um seinem jüngsten Bruder davon zu erzählen.
„Mach dir nichts daraus. Unser lieber Vater hat ja gesagt, jeder müsse selber herausfinden, wo der Baum der Weisheit steht. Du hast dein Bestes getan“, sprach der dritte Prinz.
Weil er keine Zeit verlieren wollte, verabschiedete er sich noch am gleichen Tag von seinen Brüdern und ritt los. Auch er irrte viele Tag umher und suchte nach dem Baum der Weisheit. Niemand hatte ihn je gesehen. Kein einziges Mal aber dachte er daran, aufzugeben. Am zehnten Tag seiner Reise schlug er sein Lager für die Nacht auf, denn er war scharf geritten und rechtschaffen müde. Kaum war er eingeschlafen, als ihm in seinem Traum der weiße Vogel erschien, der ihm, wie schon seinem Bruder, von der Weggabelung und den beiden Bäumen erzählte.
Am nächsten Tag, kaum dass er die Augen aufgeschlagen hatte, machte er sich auf den Weg. Es dauerte nicht lange, als er tatsächlich zu der Weggabelung gelangte, von welcher der Vogel gesprochen hatte.
Der Jüngling dachte nach. Die Weisheit war eine große Macht. Der riesige Baum ließ ihn eher glauben, dass er den goldenen Apfel trug. Andererseits prahlte Weisheit nicht, sie hielt sich zurück, handelte im Verborgenen und brauchte sich nicht groß zu machen.
Er überlegte hin und her, doch endlich kam er zu einem Entschluss. Er schlug den linken Pfad ein, denn er war zu der Einsicht gelangt, nur dieser würde ihn zu seinem Ziel bringen.
Bald kam er an eine Wiese, auf der ein Bäumchen stand. Es war kaum größer als er selbst. Die wenigen Äste waren voller Blätter, sodass kein einziger Apfel zu sehen war. Der Prinz suchte zwischen dem Grün und siehe da, er fand einen einzigen kleinen, goldenen Apfel. Den pflückte er, steckte ihn in seinen Wams und machte sich auf den Heimweg, denn viel zu lange warteten die Untertanen schon auf einen neuen König.
Seine beiden älteren Brüder liefen ihm entgegen und freuten sich, dass die Aufgabe, welche der Vater ihnen gestellt hatte, nun gelöst war. Der goldene Apfel erhielt in der Schatzkammer einen Ehrenplatz, wo alle Äpfel aufbewahrt wurden, die vor ihm jeder König gebracht hatte. So wurde der jüngste Prinz neuer Herrscher. Er regierte mit Hilfe seiner Brüder das Land tatsächlich umsichtig und weise. Und wenn er nicht gestorben ist, mehren sich heute noch Glück und Wohlstand in seinem Reich.
Quelle: Berta Berger