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Märchenbasar

Die Tanzfee

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Es war einmal ein Mädchen, das tanzte im königlichen Hofballett.
Weil es eine ausgezeichnete Tänzerin war, erhielt es vom Ballettmeister den Part der Solistin in einem Tanzmärchen .
Unglücklicherweise stürzte die junge Ballerina kurz vor der Premiere und verletzte sich den Fuß.
Er musste vom Leibarzt des Königs gesalbt und bandagiert werden. Obendrein verbot der Medikus der jungen Künstlerin vorerst das Tanzen.
Die Hofdamen der Königin übernahmen es, das Mädchen zu betreuen und durch allerlei fröhliche Geschichten aufzuheitern.
Es wollte ihnen jedoch nicht gelingen.
Täglich schlich sich die hinkende Ballerina ins königliche Schlosstheater, setzte sich in eine Loge und starrte in der Dunkelheit auf den roten Bühnenvorhang. Sie vernahm in der Stille die rauschenden Klänge des Orchesters, sah, wie sich der Vorhang hob und erblickte sich selbst im strahlenden Licht als Märchenprinzessin.
„Ach, wenn ich doch nur einen Wunsch frei hätte“, seufzte sie schwermütig. „Es verlangt mich weder nach Gold noch Edelsteinen, ich möchte nur wieder tanzen können.“
In der dunklen Loge knackte es leise, als stehe jemand hinter der traurigen Tänzerin. Aber das waren wohl nur die schon etwas altersschwachen Dielen.

Vor den Hofdamen überspielte die Ballerina tapfer ihre Traurigkeit, doch abends in ihrer Kammer, wenn es niemand bemerkte, weinte sie bittere Tränen. Das unterdrückte Schluchzen drang durchs offene Fenster hinunter in den Schlossgarten. Dort griff es der laue Nachtwind auf und trug es hinauf zu einem fernen, funkelnden Stern …

Der verletzte Fuß heilte bald. Kaum hatte der Leibarzt die Bandagen entfernt, versuchte das Mädchen ein paar Tanzschritte. Aber, oh Schreck und Graus, die Füße schienen das Tanzen verlernt zu haben. Die kleinen Trippelschritte gerieten zu albernen Hüpfern, die Pirouetten glichen eher einem Umhertaumeln und an einen Spitzenstand war gar nicht zu denken.
Die Hofdamen trösteten die junge Ballerina, so gut sie es vermochten, und überraschten sie zum Geburtstag mit einem goldenen Ring. Doch das kostbare Geschenk brachte ihr weder Freude noch Seelenfrieden.

In der Nacht nach ihrer Geburtstagsfeier erwachte sie von einer sanften Berührung.
Schlaftrunken fuhr sie auf und erblickte eine schöne junge Frau in weißem Ballettröckchen, die graziös auf Zehenspitzen balancierte.
„Wer bist du?“, fragte das Mädchen verwundert.
„Ich bin die Tanzfee“, antwortete die Unbekannte und drehte sich in einer anmutigen Pirouette.
„Wie bist du in meine Kammer gekommen?“
„Der Wind rief mich von einem fernen Stern und blies mich durchs Schlüsselloch“, lachte die Fee. „Steh auf, ich will mit dir tanzen.“
„Das geht eben nicht mehr“, schluchzte die Ballerina. „Ich bin gestürzt und habe mir den Fuß verletzt. Hampelmänner tanzen besser als ich.“ Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Die Tanzfee zeigte indess wenig Mitleid. Sie blickte streng, warf dem Mädchen die Ballettschuhe zu und sagte: „Komm jetzt, zum Weinen hast du keine Zeit. Es gilt viel nachzuholen.“
Gehorsam erhob sich die Ballerina aus den Kissen. „Was schadet es schon, ein wenig herumzuhüpfen“, dachte sie, „ich träume ja doch nur.“
Sie schlüpfte in die Ballettschuhe und streifte den rosa Ballettrock über, welcher stets griffbereit neben ihrer Schlafstatt hing.

Die Fee nahm das Mädchen bei der Hand und führte es in die Mitte des Gemachs. Plötzlich erklang eben jene Musik, zu der es während der Proben wieder und wieder über die Bühne gewirbelt war.
„Und nun denk nicht an deine Verletzung“, mahnte die nächtliche Lehrmeisterin. „Ich werde an deiner Seite sein und Schritt für Schritt mit dir gemeinsam tanzen.“
„Was für ein wunderschöner Traum“, dachte die Ballerina und drehte gehorsam die erste Pirouette.
Wie ein Schatten schritt die Tanzfee neben ihr – auch sie trippelte, hob graziös die Arme, bog und drehte sich.
Anfangs fühlte sich das Mädchen leicht wie eine Feder, dann aber kam ihm der unglückliche Sturz in den Sinn und sofort verspürte es einen stechenden Schmerz im Fuß, verlor die Balance und fiel – glücklicherweise in die weichen Kissen.
Augenblicklich verstummte die Musik.
„Ich warnte dich doch!“, schalt die Fee sanft. „Aber fürs Erste ist es ohnehin genug.“
Sie half ihrer ermatteten Schülerin, sich bequem zu lagern, bedeckte sie fürsorglich, drehte eine Pirouette und war verschwunden.
Die Ballerina dachte noch ein wenig über den sonderbaren Besuch nach und schlief darüber ein.
Als sie erwachte, erinnerte sie sich nicht an das nächtliche Geschehen, sie fühlte sich nur unausgeruht.

Sehr zur Freude der Hofdamen vermochte das Mädchen an diesem Tag – nach langer Zeit – zum ersten Mal wieder zu lachen.
Es schlich sich nicht ins dunkle Hoftheater, saß nicht traurig auf der Bank am Seerosenteich, sondern summte die eine oder andere Stelle aus der Ballettmusik.

Die leichtfüßige Fee erschien auch in der folgenden Nacht.
Und wieder tanzte das Mädchen fehlerfrei, bis es an seinen Fuß dachte. Diesmal fiel der Sturz härter aus. Die Kammer hatte nämlich einen Steinboden.
Die Fee half der unglücklich dreinschauenden Tänzerin auf und schüttelte besorgt den Kopf. „Es ist allein der Gedanke an deinen Fuß, der dich stürzen lässt. Er will deinen Tanz verhindern und erreichen, dass du dich selbst bemitleidest. Verbanne ihn aus deinem Kopf! “
Das Mädchen beschloss, diesen Ratschlag zu beherzigen und sich stattdessen vorzustellen, wie es als Märchenprinzessin über das glänzende Parkett des Schlosses schwebte.
In der nächsten Nacht gelang ihm dies tatsächlich und es tanzte über die schwierigsten Stellen fehlerlos hinweg.

Gar zu gern hätte die junge Ballerina mehr über ihre Lehrmeisterin erfahren. Doch jedesmal, wenn sie eine Frage stellen wollte, fielen ihr keine Worte dazu ein und die Tanzfee löste sich vor ihren Augen in Luft auf.
Weil das Mädchen jedoch den nächtlichen Besuch ohnehin nicht in Erinnerung behielt, war es ihm leider auch nicht möglich, sich tagsüber die richtigen Worte zurechtzulegen. Nur vor dem Zubettgehen hatte es oft das Gefühl, als versäume es etwas Wichtiges.

Mit jeder nächtlichen Übung vergaß die junge Ballerina mehr und mehr, dass sie gestürzt war.
Und dann kam die Stunde, in welcher die geheimnisvolle Lehrmeisterin verkündete: „Nun besuche ich dich zum letzten Mal. Heute wirst du allein tanzen. Ich schau dir nur zu.“
Da stellte sich das Mädchen ohne Furcht auf die Zehenspitzen, hob die Arme, tanzte und vergaß alles um sich her.
Die Tanzfee lächelte und Leuchten glitt durch das Gemach. Sie legte eine weiße, vielblättrige Blüte aufs Fensterbrett und überließ sich dem Wind, mit dem sie gekommen war. Als die Musik verklang sank die junge Ballerina mit geschlossenen Augen in die Kissen.
Am Morgen erhob sie sich ausgeruht vom Lager. Verwundert betrachtete sie sich im Spiegel. Wie war sie in das Ballettröckchen gekommen? Und was lag da am offenen Fenster? Vorsichtig ergriff sie die seltsame Blume und roch daran, aber die Blüte verströmte keinerlei Duft. In gewisser Weise glich sie einem Ballettröckchen. Welcher Wind hatte ihr dieses seltsame Gebilde zugetragen?
Die älteste Hofdame der Königin betrat die Kammer, fragte wie üblich nach Wohlbefinden und sagte dann besorgt: „Kind, das war nun schon die zehnte Nacht, in der du heimlich geübt hast. Übertreib es nicht! Spar deine Kräfte lieber.“
„Ich tanze nachts?“, fragte die junge Ballerina ungläubig.
„Ja, und wie schön! Besser als jemals zu vor. Ich habe dir unbemerkt durch den Türspalt zugesehen und heute deinem Ballettmeister davon berichtet. Er wird dich einer Prüfung unterziehen. Vielleicht darfst du dann doch noch den Hauptpart tanzen.“

Und so geschah es.
Zu den lieblichen Klängen der Musik schwebte die junge Ballerina während der Aufführung wie eine Elfe über die Bühne.
Noch niemals war ihr das Tanzen so leicht vorgekommen.
Im dunklen Haar trug sie jene sonderbare Blüte, die nicht welkte, obgleich sie kein Wasser bekam. Es schien ihr, als sei an dieses Gebilde eine wunderbare Erinnerung geknüpft.
Der König, sein Hofstaat und die zahlreich erschienen Gäste klatschten am Ende der Aufführung begeistert Beifall.
Immer und immer wieder verneigte sich die junge Ballerina vor dem Publikum.
Wie von ungefähr glitt ihr Blick zu der Loge, in welcher sie oft traurig im Dunkel gesessen hatte. Umgeben von sanftem Licht stand dort eine schöne junge Frau im weißen Ballettrock und winkte ihr lächelnd zu.
Da erinnerte sich das Mädchen auf einmal an jede Einzelheit des nächtlichen Tanzunterrichts und rief aufgeregt: „Seht doch, dort in der Loge! Das ist die Tanzfee!“
Wegen des brausenden Beifalls verstand jedoch niemand ein Wort und keiner begriff, warum die junge Künstlerin auf eine leere Loge zeigte.

Die nächtliche Lehrmeisterin erschien niemals wieder. Seit jener Zeit aber tanzte und tanzte und tanzte die Ballerina … doch niemals fehlte die weiße Blüte in ihrem Haar. Und wenn sie nicht gestorben ist, dreht sie noch immer ihre anmutigen Pirouetten.

Quelle: B. Siwik

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