In der nächsten Neumondnacht erhob er sich ächzend und schlich davon. Schwerfällig stapfte er südwärts, immer weiter, bis zum Kap der Guten Hoffnung. Dort hauste sein Vetter, der Sturmriese. Der schlief in einer Diamanthöhle und träumte seinen nächsten Untaten entgegen. „Wach auf“, rief der Erdgeist, „Du musst mich zum Nordmeer bringen!“ „So weit?“ gähnte der Sturmriese, was willst Du denn am Rand der Arktis?“ „Ich will zur Göttin der Eisberge.“ „Ohoo, das ist ein weiter Weg! Den ganzen Atlantik hoch – aber das macht Spaß, so eine lange Reise! – – Vielleicht ruhe ich mich in Alaska aus und kehre erst zu Vollmond wieder zurück. Da werden die Leute staunen, wenn ich plötzlich den Atlantik peitsche, und am Kap der Guten Hoffnung nur ein leichtes Frühlingslüfterl weht!“ Und damit erhob sich der Sturmriese von seinem grau funkelnden Lager, kroch aus seinem Felsloch, reckte sich und streckte sich bis zur dreifachen Größe, band seine Straußenfederflügel von dem tausendjährigen Mammutbaum vor seiner Höhle los und schnallte sie auf seinen Rücken. Dann beugte sich der großmächtige Herr der Lüfte zu seinem gebrochenen Erdvetter hinab, hüllte ihn sorgfältig in ein Gewand aus Spinnweben, nahm ihn vorsichtig in seine starken Arme und schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Höhe. Dreimal umkreiste er zum Abschied sein Kap, dann flog der Sturmriese gen Westen übers weite Meer.
In der Mitte des Ozeans drehte er gen Norden, schaltete seine Propellersporen ein und raste als Wirbelsturm der Arktis entgegen. Schützend legte er seine Arme um die vertrockneten Runzeln des Erdgeistes und drückte ihn sanft an seine Brust. Als der junge Morgen nahte, ragten die ersten Eisberge aus der schwarzgrauen See. Der Sturmriese schaltete die Propeller ab und segelte in die Tiefe. Stumm und kalt trieben die Eisberge im Nordmeer umher. Mit weit ausholenden Flügelschlägen setzte der Sturmriese über sie hinweg. Immer weiter nördlich flogen sie. Und als die Morgenröte ihre rosigen Schleier über den Horizont breitete, lag unter ihnen eine weiße Insel. Langsam schwebte der Herr der Lüfte hinab und landete auf einem weichen Teppich aus tausenden von rosa schimmernden Schneekristallen.
Inmitten der Insel lag die Göttin der Eisberge. Ihr Körper war aus blauem Eis und strahlte eine unnahbare Kälte aus, die jedes Wassertröpfchen in der Luft sofort gefrieren ließ. Unzählige klitzekleine Eiskristalle umrieselten die goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne, glitten auf dem spiegelblanken Körper der Eisgöttin ab und bildeten ein Bett aus Pulverschnee über dem schwarzen Vulkangestein des Inselgrundes.
„Wir sind da“, flüsterte der Sturmriese seinem Vetter zu. „Schön“, raunte der runzlige Freier, „dann bringe mich zu ihr.“ Feierlich schritt der Herr der Lüfte über den knirschenden Schneeteppich und legte den heißen afrikanischen Erdgeist in die eisigen Arme seiner arktischen Braut. Da begann ihr Eis im Innern zu bersten und an der Oberfläche weichte sie auf.
Die ersten Erdkrümel mischten sich mit dem halbweichen Matsch zu einem sämigen Brei. Noch wollten die dürren Erdfasern die Feuchtigkeit nicht annehmen, jeden Moment schien der eisige Schlamm wieder gefrieren zu wollen: Da entströmte dem Erdgeist all die Glut der afrikanischen Sonne und seine Braut schmolz dahin.
Langsam begannen die trockenen Fasern seines Erdkörpers die kühle Feuchtigkeit zu trinken. Je länger er aber in ihren Fluten badete, umso geschmeidiger wurde seine Gestalt. Die tiefen Furchen glätteten sich und er wurde saftig und stark, wie keimende Erde sein soll. Die Göttin der Eisberge aber schmolz weiter und der Erdgeist verlor seine Fasson. „Hohee“, rief er, „soll ich als Schlammbank enden?“ „Oh nein“, hauchte sie in den letzten Zügen, „aber wir müssen vollständig verschmelzen, wenn die Insel grünen soll.“ „Meine Hitze ist verbraucht“, stöhnte er, und zerfloss mit ihr zu Morast. Auch das Eis war weg geschmolzen und nun lagen sie auf fruchtbarer Lava.
Unter dem porösen Vulkangestein tobte eine heiße Feuersbrunst. Das überschüssige Wasser drang in die Tiefe und verdampfte. Nebel stiegen auf, gefroren in der arktischen Luft und bildeten niedliche Eiswölkchen. Zurück blieb warme, feuchte Erde. Tausende unscheinbarer Samen quollen in diesem Bett, bis sie vor Wohlbefinden platzten. Dann bohrten sie ihre Wurzeln tief in die Erde und trieben ihre Köpfchen dem Licht entgegen. Neugierig schoben sie ihre Keimblätter ins Freie, wo sie der arktische Wind empfing. Aus der unerschöpflichen Wärme ihres Saatbeetes aber schöpften sie soviel Kraft, dass sie abhärteten und prächtig gediehen.
Als der Sturmriese von seinem Ausflug nach Alaska zurückkehrte, staunte er Eisklötze: Wo einst die Göttin der Eisberge blau und kalt auf ihrem erloschenen Vulkanberg gethront hatte, breitete sich grünes Grasland aus. Der rote Mohn öffnete gerade seine Blüten und über dieser Inselidylle schwebten liebliche Schneewolken. „Ohoo“, brüllte der Sturmriese seinem afrikanischen Gevatter zu, „Du hast Dich hier ja prächtig verjüngt! – Kommst Du nun wieder mit in die Heimat?“
„Was soll ich da?“ erwiderte der Erdgeist, „meine Brüder würden mir sofort allen Lebenssaft absaugen und die Äquatorsonne würde mir alsbald den schönen grünen Pelz vergilben. Nein, nein, ich habe hier einen guten Platz gefunden, hier will ich verweilen.
Aber sieh’ Dir die lieblichen Eistöchter an. Sie warten schon ungeduldig darauf, ihre Hochzeitsreise zu beginnen! Nimm sie statt meiner mit zurück ins heiße Afrika und bringe sie meinen verdurstenden Brüdern als Bräute, damit auch die Heimat wieder grün und lebend werde.“ – „Hohaaa, hohooo, das nenn’ ich klug!“ rief der Herr der Lüfte. „Dann lebe wohl, Erdenvetter, das soll wahrlich meine schönste Reise werden: Als Brautführer über den Atlantik, hohaaa, hohooo…“ Dann blies er aus vollen Backen und die kristallgeschmückten Bräute glitzerten in der Arktissonne.
Lange währte die Reise gen Süden. Aus dem fröhlich dahintanzenden Schneepuder wurden träge, nassgraue Wolkenbäuche, die gar bitter über den Verlust ihrer kalten Schönheit jammerten. Als sie schließlich auch noch kostbare Regentropfen in den Ozean weinten, rief der Sturmriese ganz aufgebracht: „Hollaaa, meine Damen, nicht so eilig, der Ozean hat genug Wasser!“ Dann plusterte er ihre schweren Röcke auf und jagte sie mit solcher Geschwindigkeit durch die Atmosphäre, dass am Horizont nur noch Wolkenfetzen dahinflogen. Gegen Abend gelangten sie an die Elfenbeinküste. Da drehte der Sturmriese seine Wirbelwinde an, wickelte die Wolkenschleier um seine ausgestreckten Finger – und schon harrten wieder drei dicke, schwere Regenwolken ihrer Bestimmung.
Als die Nacht hereinbrach, flog der Herr der Lüfte mit seinen feuchtbauchigen Begleiterinnen über die dürre afrikanische Erde in Richtung Osten. Die Sterne am Himmel zwinkerten Beifall, als er die erste Braut einem Berg vermählte, in dessen Inneren ein ausgetrocknetes Quellbecken nach Wasser lechzte, um ein verödetes Flussbett zu speisen. Die zweite Braut hängte er in die Dornenzweige eines dürren Teborak, der neben einem versiegten Brunnen einsame Wache hielt. Die dickste Wolke nahm der Sturmriese mit zu dem gewaltigen Erdloch, das der ausgewanderte Erdgeist hinterlassen hatte.
Der Mond zog über den Horizont. Staunend besah er sich das gute Werk des Luftgewaltigen, segnete seine heilsamen Taten und verschwand schmunzelnd um die zweite Morgenstunde. Die Welt schlief ein. Die Nachtkälte zog übers Land und drückte die weinenden Wolkenbräute in die verkrusteten Arme ihrer scheintoten Gemahle.
Des Morgens spitzte die Sonne über dem Orient hervor und traute ihren Augen nicht: Aus dem Adrar In Uzzal schlängelte sich ein neuer Fluss. Am Tin Azeraf blühten die Bäume und im Tschad funkelte wieder ein tiefer dunkler See.
Am Kap der Guten Hoffnung aber tanzte ein kleiner Wirbelsturm und Diamanten glitzerten wie Freudenfeuer durch die Sonnenfluten.
(aus Afrika)