Der Itarare ist ein Nebenfluß des Paranapanema. Sein Name bedeutet: „Der Felsen, in dessen Innern das Wasser rauscht“, denn seine Wassermassen stürzen in einen zwanzig Meter tiefen Abgrund und schäumen in eine unterirdische Galerie, aus der sie erst nach einer Tagesreise wieder ans Licht fließen. Vor sehr, sehr langer Zeit hieß dieser Fluß Mande, war breit und fischreich, und seine Ufer waren von dichten Urwaldwäldern gesäumt. Damals hatten sich die Indianer bis zum Flußtal zurückgezogen, nachdem sie Stück für Stück vor den nachdrängenden Weißen fliehen mußten, die ihre Wälder rodeten und ihr Land in Besitz nahmen. Trotz der Wachsamkeit wurden die Indianer eines Nachts auch hier überrascht. Sie setzten sich zur Wehr, aber ihre curarevergifteten Pfeile konnten gegen den gepanzerten Feind nichts ausrichten. Viele Krieger blieben tot auf dem Schachtfeld liegen, andere wurden zu Gefangenen gemacht, und der Rest floh. Zu allem Unglück fiel die Häuptlingstochter in die Hände des Siegers. Nun wurden alle Stämme zu einem großen Rat eingeladen. Sie beschlossen, Jandira, die Perle ihrer Dörfer, um jeden Preis zu befreien. Die Männer schnitzten Pfeile, und eine Hexe wurde beauftragt, ein besonders kräftiges Gift zu bereiten. Mit Federn geschmückt, ging die Alte in den Wald, lauschte den Papageien ihr Geheimnis ab und kam mit vielen verschiedenen Pflanzen beladen zurück. Abseits vom Lager kochte sie das Gift. Blaue Dünste stiegen auf, und plötzlich fiel die Alte tot um. Niemand wagte sich ihr zu nähern. Erst als das Gebräu vergoren war, wurde die Zauberin begraben. Da tauchte jeder seine Pfeile in das Gift.
Da aber erhob sich der greise Medizinmann des besiegten Stammes und rief: „Halt, Toren! Wollt ihr ins Verderben? Die Bleichgesichter kämpfen mit Feuerwaffen, gegen sie ist euch der Tod gewiß!“ „Was sollen wir tun?“ fragten ihn die Alten. Der weise Mann antwortete: „Sende einen Krieger, der die Rolle des Überläufers spielen soll, ins Lager der Feinde. Man wird ihm glauben, und er wird eine Gelegenheit finden, Jandira zu sprechen. Der Hauptmann der Bleichgesichter ist über die Maßen verliebt in den Stolz unsers Stammes. Es wird ihr also nicht schwer fallen, ihm und seinen Kumpanen beim nächsten Fest den Schlaftrunk zu reichen. Wenn dann eines Nachts der Macucu das Gelingen unseres Plan verkünden wird, dann hat die Stunde der Vergeltung geschlagen! Keiner der Feinde soll uns entkommen, ihre Köpfe werden die Pfosten unserer Tapuis schmücken.“ Mit Jubel nahmen alle den Rat des Medizinmannes an. Sogleich wurde ein Krieger ins feindliche Lager gesandt. Doch dann verging Nacht um Nacht, in denen sie vergeblich auf den Ruf des Macucu warteten. Schließlich kehrte der Bote aus dem feindlichen Lager zurück und berichtete, daß die Liebe des weißen Hauptmanns zu der schönen Jandira erwidert würde. Nun war an Rache nicht mehr zu denken. Der Indianerstamm verfluchte die schönste seiner Töchter und floh weiter an die Ufer des Ivahy.
Arme Jandira. Der Verrat an ihrem Volk hat ihr kein Glück gebracht. Eines Tages kam eine weiße Frau mit vielen Dienern und großem Gefolge in das Lager, die dem Hauptmann voll Sehnsucht nachgereist war. Hart stritten die beiden Frauen um den Geliebten. Schließlich wandte sich Jandira an ihn: „Ich ziehe mich zurück ans Ufer der Mandu. Wenn du mich liebst, so wirst du mir folgen, ehe der Mond hinter den blauen Bergen verschwunden ist. Kommst du nicht, so sage ich dir jetzt Lebwohl, und dann werde ich meine Füße mit Schlingpflanzen fesseln und auf dem kühlen Grund des Stromes mein Leid vergessen.“
Leichtfüßig wie eine Gazelle ging sie davon. Ihr helles Gewand verschwand langsam in der Abenddämmerung. Verwirrt und sprachlos blickte der Hauptmann ihr nach. Da umfassten ihn schmeichelnde Hände. „Bleib bei mir“, sagte die weiße Frau, und er blieb. Die letzten Strahlen des Mondes fielen auf eine weiße Gestalt und hob sie scharf vom Hintergrund des dunklen Waldrandes ab. Sie erhob sich, und mit einem Schrei sprang Jandira in die Tiefe. Im Morgengrauen eilte der Hauptmann zum Mandu–Fluß. „Jandira! Jandira!“ rief er verzweifelt. „Jandira, Jandira!“ äffte das Echo ihn nach, aber Jandira antwortete nicht. Der Hauptmann trat dicht ans Felsenufer, und da erblickte er tief unten im Wasser ihren Leichnam. Noch einmal schrie er: „Jandira!“ und stürzte sich in den Abgrund nach. In diesem Augenblick hatte die weiße Frau mit ihrem Gefolge das Ufer erreicht. Als sie den Hauptmann hinabstürzen sah, verfluchte sie in rasendem Zorn das Wasser und das Mädchen, die ihr den Geliebten geraubt hatten. Kaum hatte sie ihren Fluch zum dritten Mal hinausgeschrien, da fuhren Blitze vom heiteren Himmel, die Erde bebte, und mit Donnergrollen verschwanden der Fluß, die Frau und ihr Gefolge tief unter den Felsmassen.
Märchen der Guarani Südamerika