Wenn aus dem Landstrich der Ahornbäume der Winter weggezogen ist, kommen die Kinder aus den warmen Wigwams heraus, waten durch den Schnee und halten eifrig Nachschau, ob nicht etwa schon aus dem einen oder anderen Baum der süße Saft gequollen kommt. Das sind freudige und aufregende Stunden, auf die sich die kleine Kato und ihr Bruder Wabi schon immer lange vorher freuten. In jenem Frühling aber waren die beiden von einer seltsamen Traurigkeit befallen, dass die anderen Kinder sie fragten: „Was habt ihr denn? Warum spielt ihr nicht?“
Kato brach, anstatt zu antworten, in herzzerreißendes Weinen aus, und Wabi sagte: „ Unsere Stiefmutter hat uns fortgejagt. Wir seien schon groß, sagte sie, und sie habe uns noch immer auf dem Hals…und da mussten wir gehen….“ – „Aber wo wollt ihr denn hin? Im Wald gibt es wilde Tiere und böse Geister.“
„Ich fürchte mich nicht, ich habe einen guten Bogen und genügend Pfeile.“
Wabi wandte sich an die Schwester: „Komm Kato, wir müssen uns beeilen, wenn wir unseren Wigwam noch im Hellen aufstellen wollen.“
Der Knabe reichte dem Mädchen die Hand, und sie schlugen einen Pfad ein, der in den tiefen Wald führte. Sie gingen und gingen.
Auf dem Wege, der sich stellenweise fast ganz im Gestrüpp verlor, hörten sie von Zeit zu Zeit das stöhnende Knarren eines Baumes oder den Schrei eines fremden Vogels. Im Walde wurde es immer dunkler. Alle Augenblicke glaubten sie in dem grauen Dämmern wilde, verzerrte Gesichter zu sehen, und immer wieder glitt der Schatten eines schwarzen Vogels durch die Baumstämme. Kato fürchtete sich. Sie hielt die Hand ihres Bruders umklammert, und Wabi fühlte, dass sie am ganzen Leib zitterte. „Der Wald ist bald zu Ende, sei nur ruhig“, versuchte er sie zu trösten. „U- i, u – i…” gab das Echo die letzte Silbe zurück.
„Schau dich nicht um, schau lieber auf die Erde“ ,flüsterte Wabi, und Kato senkte den Kopf. Wabi aber beobachtete mit scheuen Blicken, was in ihrer Nähe vorging. Violette, gelbe und grüne Gesichter sprangen von Baum zu Baum, von Gebüsch zu Gebüsch und streckten ihm ihre langen Arme entgegen. „Keine Spur!“ flüsterte die Kleine plötzlich und zeigte auf die Erde. Wahrhaftig! Der Abdruck der scharfen Hufe verriet Wabi, dass auf diesem Weg ein Hirsch gegangen sein musste.
„Die Spur wird uns aus dem Wald herausführen“, sagte er, neuen Mut schöpfend. Kaum waren sie den Spuren des Hirsches ein Stück gefolgt, da waren die schrecklichen Spukbilder wie mit einem Schlage verschwunden. Der Wald wurde immer heller, und die Kinder kamen auf eine große Lichtung. Das Gras war hier schon grün, und nirgends lag mehr Schnee. Die Spuren führten sie zu einer mächtigen Eiche, die inmitten der herrlichen Waldwiese stand. „Ach, ich habe Durst“, klagte Wabi, als sie im Schatten des riesigen Baumes standen. Kaum hatte er ausgeredet, da füllte sich die letzte Hirschspur mit kristallklarem Wasser wie ein Brunnen. Der Knabe kinete nieder. „Trinke lieber nicht, Brüderchen, das ist gewiss kein gewöhnliches Wasser!“
Aber Wabi achtete nicht auf die warnenden Worte, sondern neigte sich zu dem Wasser hinunter, um zu trinken. Kaum hatte er den ersten tiefen Zug getan, da überfiel ihn eine seltsame Müdigkeit, sein Kopf wurde sonderbar schwer, während er in Armen und Beinen eine Leichtigkeit fühlte, dass er hätte tanzen und springen mögen.
„Ach, Brüderchen, was geht mit dir vor?“ jammerte Kato. „Du hast ja plötzlich ein weißes Fell, und auf deinem Kopf wächst ein Geweih!“
Wabi wollte aufstehen, aber seine eigenen Hände, wollten ihm nicht mehr gehorchen. Anstatt der Finger waren ihm Hufe gewachsen, mit denen er sich vergeblich an dem Baum anzuhalten versuchte. Er wollte sprechen, aber er konnte nur noch röhren – er war zu einem Hirsch geworden. Kato wollte ihm helfen, sie sprach ihm Trost zu, sie bemühte sich, ihm das Geweih abzunehmen, aber alles war vergeblich. Schließlich legte sie, von der langen Wanderung todmüde, den Kopf auf das warme Fell des Hirschen und schlummerte ein. Um die Mitternachtsstunde erwachte sie. Sie hörte wie der Wind im Laube der Baumkrone rauschte, und auf einmal klangen auch noch andere Töne dazwischen. Es war, als ob jemand spräche, „jetzt bin ich sie endlich los…“ Starr vor Schreck erkannte Kato die Stimme der Stiefmutter! „Wabi kann keiner mehr helfen, denn keinem wird es gelingen, den Baum umzulegen…“ Die Worte der Stiefmutter wurden von einem schneidenden Lachen unterbrochen: „Haha – ha, den möchte ich sehen…!“ Kato blickte in die Krone der Eiche hinauf, aber Laub und Äste nahmen ihr die Sicht. Die Stimmen waren verstummt, und auch der Wind hatte sich gelegt. Nur der bleiche Mond wanderte über den Nachthimmel. Kato schlummerte wieder ein. Erst in der Frühe fiel ihr wieder ein, was sich während der Nacht zugetragen hatte. Sie erzählte dem weißen Hirsch kein Sterbenswörtlein davon, sondern fertigte sich eine Steinaxt. Sie wollte versuchen, den riesigen Baum selbst umzuschlagen. Aber kaum hatte sie den ersten Hieb getan, ging der Tomahawk in tausend Stücke. Tief betrübt setzte sich ins Gras. Der Hirsch schmiegte sich liebevoll an sie. Kato fuhr ihm zärtlich über den Kopf und flüsterte verzweifelt: Ach, Wabi, wenn du wüsstest…
Aber ich werde wohl niemals die Kraft haben, den Baum umzulegen, und du kannst mir nicht helfen dabei….“ Lange, lange zerbrach sich die Kleine den Kopf, wie sie die mächtige Eiche fällen könnte, aber schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Wigwam aufzustellen und zu warten. Der Hirsch verließ sie jeden Morgen, um sich Äsung zu suchen, und kehrte erst am Abend wieder zurück. Einmal, es war gerade um die Mittagszeit, hörte Kato laute Stimmen, und gleich darauf kam der weiße Hirsch, von Jägern verfolgt, aus dem Walde gelaufen. Ein Pfeilregen schwirrte durch die Luft, und der Hirsch blieb, am ganzen Leibe bebend, unter dem Eichenbaum stehen. Ohne zu zögern, sprang sie zu ihm, um ihn mit ihrem Leibe zu decken. Die Indianer stellten das Schießen ein und kamen näher. Da erkannte Kato in einem der Jäger ihren Vater
„Kato, wie kommst du hierher?“ rief der Mann voller Freude. „Und wo ist Wabi?“ Sie wies auf den weißen Hirsch und erzählte dem Vater, was geschehen war. Alle lauschten gespannt. Als Kato verstummt war, griffen sie nach ihren Tomahawks und hieben auf den Baum ein, dass die Späne flogen. Aber nicht einmal ihnen gelang es, den Baum zu fällen.
„Wir machen Feuer und brennen den Stamm durch!“ schlug einer der Indianer vor. Sie häuften Holz um die Eiche, und es dauerte nicht lange, da leckten an der riesigen Rinde gierige Flammenzungen. Der Hirsch sah ihrem Beginnen aufgeregt zu. Immer tiefer fraß sich das Feuer in den Stamm. Dann gab es einen Krach, die Krone schwankte, und die Eiche sank langsam zur Erde. Kato ließ kein Auge von ihrem Bruder. Das weiße Fell schwand wie Schnee in der Sonne, und in dem Augenblick, da der Baum niederkrachte, stand wieder Wabi, der Indianerknabe, vor ihr.
Aus dem Feuer wälzte sich eine schwarze Rauchwolke, und die Jäger sahen eine schwarze Eule, die heulen dem Urwald zuflog…“
„Eine Hexe“, riefen die Indianer, „eine böse Hexe.“
„Unsere Stiefmutter!“ flüsterte Wabi. „Sie war eine Hexe und muss nun als Eule unter den bösen Geistern im Urwald leben.“
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Quelle: Märchen des Stammes Algonki