Ein Häuptling hatte drei Söhne. Kurz vor seinem Tode rief er sie zu sich, um ihnen seine Hinterlassenschaft zu übergeben. Als sie zu ihm taten, setzt er sich das letzte Mal auf seinem Lager auf und sprach, das Antlitz der am Horizont untertauchenden Sonne zukehrend, mit immer schwächer werdender Stimme: „ Meine Augen sind müde, und ich weiß, daß die Zeit gekommen ist, da ich mich in das Reich der Schatten begeben muß. Aber ehe ich aufbreche, will ich euch als mein einziges Vermächtnis dieses Geschenk hier geben, denn mehr besitze ich nicht.“ Nach diesen Worten griff er unter die Felle, zog einen mit Stachelschweinstacheln durchnähten Köcher hervor, überreichte ihn dem ältesten der Brüder und sprach: „Es sind Zauberfeile darin, die sollt ihr hüten wie euren Augapfel. Ich habe sie von meinem Vater, einem vielgerühmten Krieger, dem sie wieder sein Großvater, ein ausgezeichneter Pfeilmacher, geschenkt hat……………..Und jetzt geht, ich möchte allein sein.“ Er hob müde die Hand und wies nach dem Ausgang des Wigwams.
Am folgenden Tag machte sich der alte Häuptling auf den Weg zu seinen Ahnen. Das ganze Dorf beweinte ihn und gedachte seiner großen Taten und weiser Beschlüsse. Aber wie es nun schon einmal unter den Menschen so zugeht, gerieten seine Verdienste bald in Vergessenheit. Nur den Brüdern rief der Anblick der Pfeile immer wieder die Züge ihres Vaters ins Gedächtnis zurück.
Einmal, als es schon gegen Abend ging, begab sich Odschibwa, der jüngste der Brüder, auf die Jagd. Kaum hatte er die Siedlung verlassen, bemerkte er die frische Spur eines Bären und folgte ihr. Odschibwa war ein guter Läufer, und noch ehe die Sonne hinter den Tannenspitzen versunken war, hatte er das Zotteltier eingeholt und streckte es durch einen wohlgezielten Pfeilschuß nieder. Während er ihm das Fell abzog, tauchte sich der Himmel in einen purpurroten Schimmer, und von der Stelle her, wo die Farbe am sattesten war, klangen seltsame Töne, als spiele der Wind auf einer Zauberharfe.
Odschibwa ließ seine Arbeit ruhen und blickte nach der Stelle, von der die betörenden Klänge ausgingen. Ein Weilchen lauschte er und rannte dann, wie behext von den Zauberklängen und nur von dem purpurroten Schein geführt, durch den Urwald. Er lief und lief, bis er an das Ufer eines großen Sees kam. Und dort, gerade an der Stelle, wo der blaue Wasserspiegel mit dem purpurroten Himmel zusammenstieß, erblickte er, einen purpurfarbenen, schlankhalsigen Schwan. Und der Schwan sang ein Lied, das ihm tief ins Herz drang.
„Er muß mein werden!“ dachte Odschibwa und spannte den Bogen. Aber der erste, der zweite und auch alle anderen Schüsse gingen fehl, als wäre ein böser Zauber im Spiele. Was nun? Odschibwa dachte angestrengt nach. Plötzlich kam es wie eine Erleuchtung über ihn: Das Vermächtnis seines Vaters! Er lief in das Lager zurück, stürzte in den Wigwam, ergriff die Zauberpfeile und eilte so schnell an den See zurück, daß seine Füße kaum den Boden berührten.
Der Purpurschwan schien ihn bereits zu erwarten. Odschibwa schoß den ersten der Pfeile ab, aber der fiel zu nahe nieder. Auch mit dem zweiten traf er es nicht viel besser, denn der flog durch das Gefieder hindurch und blieb dann auf dem Wasser liegen. Erst der dritte Pfeil traf dein Ziel. Aber der Schwan war nicht tot.
Odschibwa sah, wie er sich mit einem gewaltigen Schlag seiner Flügel in die Lüfte hob und in dem sich immer tiefer, färbenden Abendrot verschwand, während sein Zaubergesang immer leiser und leiser wurde, bis er endlich ganz verstummte. Erst nach langer Zeit war Odschibwa wieder eines klaren Gedankens fähig, und jetzt fiel ihm ein, daß ihm nicht nur die Beute, sondern auch der kostbare Pfeil davongeflogen war.
Ich muß den Schwan wiederfinden und mir wenigstens einen Pfeil zurückholen, denn meine Brüder würden mich verfluchen, weil ich das Vermächtnis meines Vaters nicht besser gehütet habe, dachte der Jüngling, während er die zwei auf dem Wasser schwimmenden anderen Pfeile herausfischte. Auf dem einen fand er eine purpurrote Feder aus dem Flügel des Schwanes.
Er ging und lief und lief und ging Tag und Nacht, Nacht und Tag, bis er in ein Indianerdorf kam. Der Häuptling hieß ihn freundlich willkommen, und seine Tochter, mit einem Gesicht, so schön und strahlend wie der Morgen, wachte über seinen Schlaf bis zum Tagesgrauen.
Früh am Morgen zog sie ihm statt seiner alten und zerfetzten Mokassins ein Paar neue an und geleitete ihn weit über das Dorf hinaus, um ihm den Weg zu weisen.
Odschibwa war schon den ganzen Tag gegangen, als die Umrisse eines Indianerdorfes aus der Abenddämmerung tauchten. Auch hier hieß ihn der Häuptling wieder willkommen, seine Tochter bewachte während der ganzen Nacht den Schlaf des todmüden Wanderers und zog ihm, als der Morgen dämmerte, ein Paar neue Mokassins an. Sie gab ihm ein großes Stück Geleit und nahm nur ungern von ihm Abschied, denn sie wünschte sich heimlich, er möchte Zeit seines Lebens bei ihnen im Lager bleiben.
Und wieder lief Odschibwa über Stock und Stein, bis die Nacht kam. Da sah er zwischen den Bäumen ein Licht blinken, das aus einem einsam gelegenen Wigwam kam. Er trat ein. In dem Zelt saß ein alter Indianer, der ihn überaus freundlich empfing.
„Ich erwarte dich schon voll Ungeduld, denn ich weiß, wer du bist und wohin du gehst: Du suchst den Purpurschwan. Er wohnt einen Schlaf weit von hier bei seinem Vater, einem großen Zauberer. Der kam einst im Kampf mit dem Feind um seinen Skalp und muß nun unter schrecklichen Qualen leben, bis sich ein junger Jäger findet, der sich durch Kraft, Klugheit und Mut auszeichnet und ihm seinen Skalp zurückerobert.
Der Purpurschwan will seinem Vater helfen, aber alle, die er vor dir mit seinem Lied betört hat, haben ihr Leben lassen müssen.“
„Ich fürchte mich nicht“, sagte Odschibwa, „Ich will dem Zauberer seinen Skalp zurück bringen, denn ich glaube fest, daß mich meine guten Geister nicht verlassen werden.“ Der Alte nickte. „Ich wünsche dir von Herzen Erfolg. Aber vergiß nicht, was ich dir jetzt sage: Schon morgen früh wirst du die Schmerzensschreie des Zauberers hören. Aber nimm dich in acht, ein einziger Blick auf seinen skalpierten Kopf am hellen Tage, und du bist verloren! Nur im Schein des Feuers darfst du den Zauberer ansehen.
Bei Tageslicht würdest du vor Grauen den Verstand verlieren……..Und wenn du dann soweit bist und dich des Skalps bemächtigen willst, denk an die Schwanenfeder!“ raunte er ihm noch zu. Odschibwa dankte dem Häuptling, nahm ein wenig Speise zu sich und fiel in tiefen Schlaf. In der Frühe weckte ihn der Alte, und sie blieben so lange beisammen, bis sie ein herzzerreißndes Wehklagen hörten.
„Jetzt mußt du allein weitergehen. Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe und mäßige deine Schritte!“ warnte der
Häuptling nochmals und verschwand dann im Dunkel des Waldes.
Odschibwa folgte seinem Rat und suchte den Wigwam des Zauberers erst am Abend auf. Er sah einen Mann, der am Feuer saß und laut jammerte. Beim Anblick des skalpierten Kopfes wurde Odschibwa von Entsetzen gepackt, und er wich einen Schritt zurück, aber der Gedanke an den Purpurschwan gab ihm seine Besonnenheit wieder, und er fragte mit fester Stimme:
„Sag, wo ist dein Skalp? Ich bin gekommen, um dir zu helfen.“……“Wer bist du, daß du den Anblick meines Gesichtes erträgst?“ fragte der Mann am Feuer und richtete seine Augen voller Verwunderung auf den Jüngling. „Es ist schon so lange niemand mehr gekommen, mir Hilfe anzubieten. Meinen Skalp haben die Feinde mit in ihr Lager, das drei Schlaf weit in nördlicher Richtung von hier gelegen ist. Wenn du mir ihn zurückbringst, gebe ich dir deinen Zauberpfeil wieder, und außerdem erhälst du eine Belohnung, wie du sie nicht einmal im Träume erwarten würdest.“
„Ich will alles tun, um dich nicht zu enttäuschen“, erwiderte Odschibwa. „Es wird wohl das Beste sein, wenn ich mich sofort auf den Weg mache.“
Es dauerte volle drei Schlaf lang, ehe er über den Rindendächern der fremden Wigwams Rauch aufsteigen sah und wieder Menschenstimmen hörte. Er hielt den Schritt an und spähte um sich. Als er die um das Lager aufgestellten Wachposten bemerkte, sagte er sich, daß er, so wie er war, nicht die geringste Hoffnung hatte, durchzukommen. Da fiel ihm die purpurrote Feder ein.
Er fuhr sanft streichelnd darüber, und verwandelte sich in einen Eisvogel. Er flog in die Luft. Jetzt sah er das Lager zum Greifen nahe vor sich liegen. Die Wigwams bildeten einen Kreis, in dessen Mitte Pfähle staken.
Auf dem höchsten konnte Odschibwa den Skalp des Zauberers erkennen. er flog darauf zu, aber die Indianer hatten den fürwitzigen buntfarbigen Vogel schon bemerkt und begannen auf ihn zu schießen. Da ließ der Eisvogel die purpurne Feder fliegen, die er im Schnabel hielt. Sie schwebte zu dem Pfahl, bohrte sich in den Skalp und flog, vom Wind getragen mit großer Schnelligkeit an den Waldrand, wo sie schon von Odschibwa, der wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte, erwartet wurde. Und noch ehe den verdutzten Indianern richtig zu Bewußtsein gekommen war, was sich abgespielt hatte, war Odschibwa bereits tief im Walde. Er eilte zu dem Zauberer zurück und überreichte ihm den Skalp.
„Setz mir den Skalp auf den Kopf, dann sollst du die versprochene Belohnung erhalten“, sprach der Zauberer. Odschibwa gehorchte. Da stand auf einmal ein großer, stattlicher Mann vor ihm, der ihn freundlich anlächelte.
„Du hast eine heldenmütige Tat vollbracht. Durch dich habe ich mein Gesicht wieder bekommen, und das werde ich dir nie vergessen. Hier……nimm den Zauberpfeil. Und jetzt geh in den Wigwam, dort erwartet dich dein Lohn. Es ist die einzige Kostbarkeit, die ich besitze, aber dir schenke ich sie von Herzen gern.“
Odschibwa trat in den Wigwam. Aber er hatte noch nicht die Schwelle überschritten, da blieb er wie angewurzelt stehen: Vor ihm stand das liebreizendste Mädchen, dessen Füße je den Boden des Indianerlandes berührt hatten. Ob dieser strahlenden Augen müssten selbst die Sterne vor Eifersucht vergehen, auf diesen korallenroten Lippen könnte selbst die Rose stolz sein, und um ihrer leichten Füße würden selbst die Rehe sie beneiden. „Ich bin der Purpurschwan“, sprach sie zu dem Jüngling, „und will dir, weil du meinen Vater von den Qualen befreit hast, mein ganzes Herz schenken.
Wenn du mich willst, bin ich dein.“
Und ob Odschiba wollte! Das glückliche Paar nahm noch vor Einbruch der Nacht von dem Zauberer Abschied, denn der Jüngling wollte seine Braut so rasch wie möglich in ihre neue Heimat führen.
Quelle: Märchen der Zuni u. OdschibwaD