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Ein Gramm Zunge

2.3
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Der junge Omar war ein Bruder Leichtfuß, der sich lieber auf den Straßen Sarajevos herumtrieb und auf der Gitarre klimperte, anstatt zu arbeiten und Geld zu verdienen. „Alt bin ich geworden. Söhnchen, habe keine Kraft mehr“, seufzte sein Vater oft. „Du aber bist jung und stark. Wer sollte uns ernähren, wenn nicht du?“ Doch Omar ließ diese Ermahnungen zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder herausgehen. Er fühlte sein liederliches Leben so lange weiter, bis seinen unglücklichen Eltern eines Tages vor Kummer das Herz brach und sie starben. Nun war Omar mit drei unmündigen kleinen Geschwistern allein in seinem verödeten Vaterhaus. Früher hatte er sich oft gewünschte seine Eltern und ihre dauernden Ermahnungen loszuwerden, doch nun merkte er sehr schnell, was es heißt, ohne Eltern leben zu müssen, und ihm rauchte vor Sorge und Arbeit der Kopf. Wer spinnt und webt? Wer fegt das Haus und kocht das Essen? fragte er sich. Ja, mir bleibt keine andere Wahl — ich muß heiraten! Noch am selben Abend nahm er die Gitarre und schlich zum Fenster der schönen Maira. Dort brannte noch Licht, doch als er die Saiten stimmte und zu singen begann, erlosch es. Drei Nächte hintereinander ging Omar zu ihrem Fenster, aber immer vergebens. Maira zeigte sich ihm kein einziges Mal.
In der vierten Nacht beschloß Omar, einen letzten Versuch zu machen, und dachte: Wenn sie diesmal das Fenster nicht öffnet, gebe ich’s auf ! Er stimmte die Gitarre und sang:
„Oh, Gitarre, laß erklingen
deine zauberischen Saiten!
Sing ein Lied von Seligkeiten
hilf mir, Maira zu erringen!“
Plötzlich sprang über ihm das Fenster auf. „Bist du von Sinnen, Omar?“ rief Maira. „Was hast du unter meinem Fenster zu suchen?“ — „Ich liebe dichl“ rief Omar beschwörend zu ihr hinauf. „Und ich will dich heiraten!“ — „Schlag dir das aus dem Kopf !“ sagte Maira, „So ein armer Schlucker wie du kann doch nicht ans Heiraten denken! Freilich, wir sind Beeren vom selben Zweig — auch meine Eltem sind arme Leute. Da es aber in ganz Sarajevo kein Mädchen gibt, das schöner ist alt ich, will mein Vater mich mit einem reichen Mann vermählen, der meinen Eltern einen sorglosen Lebensabend sichert. Trotzdem, Omar, will ich dir gestehen, daß ich dich schon seit langem liebe und wohl ein Mittel wüßte, das uns zusammenführt.“ — „Sage es mir!“ rief Omar stürmisch. „Ich werde alles tan, was du wünschst!“ — „Nun, dann leih dir etwas Geld und mach einen Handel auf“, erwiderte Maira. „Mit ihm könntest du uns, meine Eltern und auch deine Geschwister wohl ernähren.“ — „Das will ich versuchen! Schlafe wohl, Maira, und wenn es mir gelingt, das Geld zu leihen, komme ich morgen wieder zu dir.“
Früh am nächsten Morgen begab sich Omar zu Issakar, einem reichen Kaufmann, mit dem er befreundet war, und bat ihn, daß er ihm dreißig Säckel Geld leihen möge. „Ich will dir gern gefällig sein“, antwortete Issakar. „Aber wann wirst du mir diesen hohen Betrag zurückerstatten können?“ — „In sieben Jahren“, gab Omar zur Antwort. „Und welche Sicherheit bietest du mir?“ — „Ich besitze nichts, das ich dir verpfänden könnte“, erwiderte Omar niedergeschlagen, „höchstens meine redegewandte Zunge.“ — „Das weiß ich“, gab Issakar zurück. „Und wenn du dich in sieben Jahren außerstande siehst, mir die dreißig Säckel Geld zurückzugeben, dann mußt du es zulassen, daß ich dir ein Gramm deiner Zunge abschneide.“ — „Topp!“ sagte Omar leichtsinnig, und sie bekräftigten ihren Vertrag durch Handschlag. Einen Teil des Geldes verbrauchte Omar für ein üppiges Hochzeitsfest, und mit dem Rest machte er einen Handel auf. Aber er betrieb ihn so gleichgültig und nachlässig, daß er nur selten einen Gewinn erzielte, und das geliehene Geld schmolz so schnell dahin wie Märzenschnee. Omar kümmerte sich nicht darum, als aber das siebente Jahr anbrach, merkte Maira, daß ihr Mann immer trübseliger wurde. Und da sie nicht nur schön, sondern auch klug war, hatte sie den Grund für seine Niedergeschlagenheit bald herausgefunden.
Sie faßte den Entschluß, ihm aus der Patsche zu helfen, und ging drei Tage hintereinander zum Gericht. Vor dem Kadi sank sie in die Knie, küßte den Saum seines Gewandes und überreichte ihm wortlos ein kostbares Geschenk. Am dritten Tage sandte der Kadi ihr einen Diener nach und ließ sie zurückholen. „Weib“, rief er, als sie wieder vor ihm stand. „Nun wolltest du zum drittenmal scheu davongehen. Welche Gnade erwartest du von mir? Sprich!“ Darauf hatte Maira nur gewartet. Sie legte eine Hand an die Stirn, die andere ans Herz. „Oh, Kadi“, erwiderte sie, „deine Güte löst mir die Zunge. Ja, ich habe eine Bitte an dich: Erlaube mir, am Morgen des kommenden Freitags eine Stunde lang statt deiner Gericht zu halten.“ — „Nun“, lachte der Kadi, „du tust mir höchstens einen Gefallen, wenn du mich ein Weilchen in meinem Amte ablöst. Meinetwegen kannst du den ganzen Tag auf dem Richterstuhl sitzen!“ Dankbar küßte Maira ihm den Pantoffel und ging erleichtert heim, denn nun konnte sie den nächsten Freitag gelassenen Herzens erwarten. An diesem Tage sollte Omar nämlich seine Schuld zurückerstatten oder seine Zungenspitze verlieren.
Maira ging im Morgengrauen zum Gericht, wo sie schon ungeduldig vom Kadi erwartet wurde. Er reichte ihr sein Richtergewand und stülpte ihr vergnügt den weißen Richterturban auf den Kopf, gespannt darauf, wie sie zu Gericht sitzen würde. Dann versteckte er sich in einem Nebenzimmer, von wo er die Gerichtsverhandlung ungesehen beobachten konnte. Der bartlose Kadi ließ sich inzwischen würdevoll im Richterstuhl nieder und entzündete die Wasserpfeife.
Wenig später stellten sich Omar und Issakar im Gerichtssaal ein und verneigten sich vor dem Kadi bis zur Erde, wie es die Sitte vorschrieb. „Was führt euch her?“ fragte dieser. „Wir möchten dich bitten, unseren Streitfall zu entscheiden“, erwiderte Issakar und erklärte den Sachverhalt. Als er geendet hatte, wandte sich der Kadi an Omar. „Schuldner, hat dein Gläubiger die Wahrheit gesprochen?“ forschte er. „Die reine Wahrheit, oh, Kadi“, bestätigte Omar unter Tränen. „Das ist gut!“ erwiderte der Kadi sachlich, schlug den Koran auf und blätterte darin umher. „Ja, hier steht es“, sagte er nach einer Weile und legte den Finger auf eine Textstelle. „Hast du ein scharfes Messer mitgebracht. Gläubiger?“ — „Selbstverständlich!“ Issakar nickte. „Dann geh ans Werk, Gläubiger!“ befahl der Kadi mit ernster Stimme. „Aber gib acht, du darfst deinem Schuldner nur ein Gramm aus der Zunge schneiden, nicht mehr und nicht weniger. Gelingt dir das nicht, wirst du es büßen müssen.“ — „Aber werter Kadi!“ stotterte Issakar erschrocken, „warum nimmst du das so genau? Was ich meinem Schuldner zuviel abschneide, werde ich ihm mit Gold aufwiegen, und wenn es zu wenig ist, schenke ich ihm den Rest!“ — „Schweige, du Frechling! Wer ist hier der Kadi, ich oder du?“ rief der Kadi zornig. „Wie kannst du es wagen, den heiligen Koran zu deinen Gunsten auszulegen?“ — „Verzeih mir Unwissendem!“ entschuldigte sich Issakar erschrocken. „Es lag mir fern, in deine Belange einzugreifen. Wenn es sich so verhält, dann schenke ich Omar die dreißig Säckel Geld! Ich brauche seine Zunge nicht!“
Aber diese Worte fachten den Zorn des Kadi nur noch stärker an. „He, Diener!“ rief er, „Hole den Henker her! Ich werde diesem elenden Händler Respekt vor dem Gericht beibringen l Entweder du schneidest deinem Schuldner rasch ein Gramm Zunge ab, oder du wirst ebenso rasch geköpft!“ Schon kam der Henker mit gezücktem Säbel gelaufen. Issakar begriff, daß der Kadi ernst machen würde, fiel ihm zu Füßen und flehte: „Herr, nimm zur Sühne dreißig Säckel Geld von mir entgegen und erlaube mir, daß ich meinem Schuldner die Schuld erlasse! Erbarme dich meiner!“ — „Nein“, versetzte der Kadi hart. „Schneide oder stirb!“ Da stürzte Omar herbei und warf sich dem Kadi ebenfalls zu Füßen. „Oh, Kadi! Erbarme dich meines alten Freundes!“ rief er. „Gut, weil dein Schuldner für dich bittet, werde ich dir verzeihen!“ sprach der Kadi würdevoll. „Aber merke dir, Kaufmann, die Gesetze des Korans sind hart wie Stein, an ihnen kann keiner rütteln, nicht einmal ein Kaufmann! Und nun gebt euch den Versöhnungskuß!“ Da küßten sich Omar und Issakar vor den Augen des gestrengen Kadis, dankten ihm für seine Güte und sein gerechtes, väterliches Urteil, und Issakar überreichte ihm die dreißig Säckel Geld. Anschließend entfernten sie sich. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, da stürzte der echte Kadi in den Gerichtssaal. „Oh, Weib!“ rief er und schüttelte sich vor Lachen. „Dein Kopf enthält mehr Weisheit als der Koran! Wahrlich, wärest du ein Mann, dann gäbe es in ganz Sarajevo keinen besseren Kadi als dich!“ Maira dankte ihm für sein Entgegenkommen und bot ihm die Hälfte des Geldes an, das sie Issakar abgenommen hatte.
Doch davon wollte der Kadi nichts wissen, im Gegenteil, er schenkte ihr noch einen Säckel dazu als Lohn für ihre richterliche Tätigkeit und entließ sie. Sie verhüllte ihr Gesicht mit einem weißen Schleier, eilte auf dem schnellsten Wege nach Hause und traf dort auch früher ein als Omar. „Aha, da kommt Omar mit der abgeschnittenen Zunge!“ rief sie neckend, als er schließlich ins Zimmer trat. „Oh, nein!“ antwortete Omar fröhlich. „Denke dir, ein schöner und kluger Kadi hat mir aus der Not geholfen.“ — „War der Kadi etwa schöner als ich?“ lachte Maira und zeigt ihm die einunddreißig Säckel Geld. Da gingen Omar die Augen auf, und er warf sich seiner schönen und klugen Frau dankbar zu Füßen. Von jenem Tage an arbeitete er mit größtem Eifer, und bald ward er ein wohlhabender Mann.

Quelle:
(Märchen aus Jugoslawien)

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