Es waren einmal zwei Brüder, der eine hieß Treu, und der andere hieß Untreu. Treu war immer gut und aufrichtig gegen jedermann, aber Untreu war böse und voller Lügen, und niemand konnte auf sein Wort bauen. Die Mutter war Witwe und hatte nur wenig zum Leben; darum mussten die Söhne, als sie herangewachsen waren, hinaus in die Welt wandern, um sich ihr Brot zu verdienen, und jedem von ihnen gab sie einen Schnappsack mit Essen auf den Weg.
Als die beiden nun so lange gewandert waren, dass es Abend wurde, setzten sie sich auf einen vom Sturm gefällten Baum im Walde nieder, und jeder nahm seinen Schnappsack hervor. „Wenn du einverstanden bist“, sagte Untreu, „dann wollen wir erst aus deinem Sack essen, solange was drin ist, nachher essen wir aus meinem.“ Ja, Treu war’s recht, er öffnete seinen Schnappsack, und sie fingen an zu essen; aber das Schönste und Beste stopfte Untreu sich hinein, und Treu bekam nur die Schwarten und die verbrannte Rinde.
Am Morgen war Treu wieder der Wirt und am Mittag auch; aber dann war sein Schnappsack ganz leer. Als sie nun wieder einen ganzen Tag gegangen waren und der Hunger sich einstellte, wollte Treu mit aus seines Bruders Schnappsack essen; aber Untreu sagte, das Essen gehöre ihm und er habe nicht mehr, als er selber brauche. „Ich hab dich doch aber aus meinem Schnappsack essen lassen, solange was drin war“, sagte Treu. „Ja, warum bist du ein solcher Narr gewesen und hast das getan?“ entgegnete Untreu. „Nun kannst du dir den Mund lecken, wenn du nichts anderes hast.“ – „Untreu heißt du, und untreu bist du, und das bist du all dein Lebtag gewesen“, sagte Treu. Als Untreu das hörte, geriet er so in Wut, dass er auf den Bruder zu rannte und ihm die Augen aus dem Kopf stach. „Nun kannst du sehen, welche Leute treu und welche untreu sind, du Blindekuh!“ sagte er, und damit ging er fort.
Der arme Treu tappte nun blind und allein im dicken Wald umher und wusste nicht, was er anfangen sollte. Endlich kam er zu einem großen Lindenbaum, und da kletterte er hinauf, um die Nacht über Schutz vor den wilden Tieren zu haben. Wenn morgen die Vögel singen, dann ist es Tag, dachte er, und dann muss ich zusehen, dass ich weiterkomme. Als er aber eine Weile da oben gesessen hatte, hörte er, dass unter dem Baum jemand anfing zu kochen und zu braten; und es dauerte nicht lange, da kamen noch mehr dazu, und als sie sich begrüßten, hörte er, dass es der Bär, der Wolf, der Fuchs und der Hase waren, die das Mittsommerfest feiern wollten. Sie fingen nun an zu essen und zu trinken und taten sich gütlich; und als sie damit fertig waren, ließen sie sich nieder und schwatzten miteinander.
Da sagte der Fuchs: „Wir wollen uns Geschichten erzählen.“ Der Vorschlag gefiel, und der Bär machte den Anfang, denn der war der Vornehmste. „Der König von England“, sagte er, „hat schlechte Augen, er kann kaum eine Elle weit sehen; aber wenn er am Morgen auf diese Linde stiege, wenn der Tau auf den Blättern sitzt, und sich damit die Augen bestriche, so würde er wieder ebenso gut sehen können wie zuvor.“ – „Ja“, sagte der Wolf, „der König von England hat auch eine taubstumme Tochter, aber wüsste er, was ich weiß, so wäre ihr bald geholfen. Als sie nämlich voriges Jahr zum Abendmahl ging, spuckte sie das Altarbrot wieder aus, und da kam eine große Kröte und verschlang es. Wenn sie jetzt in der Kirche unter dem Fußboden nach grüben, so würden sie die Kröte finden; denn sie sitzt unter dem Altar, und das Brot steckt ihr noch im Halse. Und wenn sie dann die Kröte aufschnitten und das Brot der Prinzessin zu essen gäben, so würde sie wieder ebenso gut hören und sprechen können wie andere Leute.“
„Ja, ja“, sagte der Fuchs, „wenn der König von England wüsste, was ich weiß, dann hätte er nicht so schlechtes Wasser in seinem Schlosshof; denn unter dem großen Stein mitten im Hof ist das klarste Brunnenwasser, das man sich nur wünschen kann, wenn er bloß so klug wäre und da nach grübe.“ – „Ja“, sagte der Hase, „der König von England hat den schönsten Obstgarten im ganzen Land, aber er trägt ihm keinen Apfel, denn es liegt eine schwere goldene Kette dreimal rund um den Garten vergraben. Wenn er die aber ausgrübe, so würde es der schönste Garten im ganzen Reich werden.“ – „Nun ist es schon spät in der Nacht, und wir gehn am besten wieder nach Hause“, sagte der Fuchs, und damit gingen sie alle ihres Weges.
Als sie fort waren, schlief Treu, der oben in der Linde saß, sogleich ein; aber als am Morgen die Vögel zu singen begannen, erwachte er wieder. Nun nahm er von dem Tau, der auf den Blättern saß, und bestrich sich damit die Augen, und als er das getan hatte, konnte er wieder ebenso gut damit sehen wie zuvor, ehe Untreu sie ihm ausgestochen hatte. Nun ging er geradewegs aufs Schloss zu dem König von England und bat um Arbeit, und die bekam er denn auch.
Eines Tages kam der König auf den Hof, und als er da eine Weile auf und ab gegangen war, wollte er aus seinem Brunnen etwas zu trinken haben, denn es war sehr heiß den Tag. Als sie aber das Wasser schöpften, war es ganz schlammig und trübe. Darüber ärgerte sich der König und sprach: „Ich bin der einzige in meinem Reich, der schlechtes Wasser in seinem Hof hat, und doch muss ich es weit unter Berg und Tal herleiten.“ Treu aber sprach zu ihm: „Wenn du mir nur etliche Leute zu Hilfe geben würdest, damit ich den großen Stein aufbrechen könnte, der mitten in deinem Hof liegt, dann sollst du schon reines und gutes Wasser bekommen, so viel, wie du nur wünschen magst.“ Dazu war der König sogleich bereit, und kaum hatten die Leute den Stein aufgebrochen und eine Weile gegraben, so sprang das Wasser in hellen Strahlen in die Höhe, und klareres Wasser fand man nicht in ganz England.
Einige Zeit danach war der König eines Tages wieder auf dem Hof; da schoss plötzlich ein großer Habicht auf seine Hühner herab, und alle klatschten in die Hände und riefen: „Da ist er! Da ist er!“ Der König griff nach seiner Büchse und wollte den Habicht schießen; aber er konnte nicht so weit sehen. Darüber war er sehr betrübt und sprach: „Wollte Gott, dass mir nur jemand einen guten Rat für meine Augen geben könnte! Ich glaube, ich werde am Ende noch ganz blind.“ – „Ich will dir wohl sagen, wie dir zu helfen ist“, sagte Treu und erzählte ihm von dem wundertätigen Tau auf der Linde, durch den er selbst einmal sein Gesicht wieder erlangt hatte. Und der König begab sich noch denselben Abend in den Wald und schlief die Nacht über auf der Linde; und als er sich darauf am Morgen mit dem Tau, der auf den Blättern saß, die Augen bestrich, da konnte er wieder ebenso gut sehen wie zuvor. Und von der Zeit an war Treu der Liebling des Königs, und er musste immer um ihn sein, wo er nur ging und stand.
Eines Tages gingen sie zusammen im Garten spazieren. „Ich weiß nicht, woher es kommt“, sagte der König, „aber keiner in meinem ganzen Lande hat so viel Mühe auf seinen Garten verwendet wie ich, und doch kann ich keinen einzigen Baum so weit bringen, dass er auch nur einen Apfel trägt.“ Da sagte Treu zu dem König: „Willst du mir das geben, was dreimal rund um deinen Garten liegt, und auch viele Leute, um es aufzugraben, dann sollen die Bäume in deinem Garten bald Früchte genug tragen.“ Ja, das wollte der König gern. Treu bekam Leute zum Graben, soviel er nur wollte, und als sie eine Weile gegraben hatten, stießen sie auf die goldene Kette, die dreimal rund um den ganzen Garten ging; und als sie die ausgegraben hatten, fingen auch die Bäume im Garten an Früchte zu tragen und trugen bald so viel, dass die Zweige bis an die Erde herunterhingen. Treu war nun ein reicher Mann, viel reicher als der König selbst; aber der freute sich bloß, dass nun die Bäume in seinem Garten so schöne Früchte trugen.
Eines Tages gingen Treu und der König zusammen und schwatzten von diesem und jenem; da kam gerade die Prinzessin an ihnen vorüber, und der König wurde ganz betrübt, als er sie sah, und sprach: „Ist es nicht jammerschade, dass eine so schöne Prinzessin wie meine Tochter ohne Gehör und ohne Sprache sein muss?“ – „Dafür wäre wohl Rat“, meinte Treu. Als der König das hörte, wurde er so froh, dass er dem Burschen die Prinzessin und das halbe Reich versprach, wenn er ihr bloß das Gehör und die Sprache wieder verschaffen könnte. Treu aber ging mit ein paar Leuten in die Kirche und grub die Kröte aus, die dort unter dem Altar saß, schnitt ihr den Rachen auf, nahm das Brot heraus und gab es der Königstochter zu essen – und sowie sie das gegessen hatte, konnte sie wieder ebenso gut hören und sprechen wie andere Leute.
Nun war es soweit, dass Treu die Prinzessin heiraten sollte, und es wurde zur Hochzeit angerichtet; aber das sollte eine Hochzeit werden, von der man sich im ganzen Lande erzählen würde. Während sie nun alle lustig waren und sangen und tanzten, kam ein armer Bettler an die Tür und bat um ein wenig zu essen; aber er hatte so lumpige Kleider an und sah so entsetzlich elend aus, dass alle vor ihm erschraken. Treu aber erkannte ihn sogleich und sah, dass es sein Bruder Untreu war. „Kennst du mich nicht?“ fragte Treu ihn. „Ach, wo sollte ich wohl einen so großen Herrn gesehen haben, wie Ihr es seid?“ entgegnete Untreu. „Gesehen hast du mich allerdings“, sagte Treu, „denn ich war es, dem du vor einem Jahr die Augen ausstachst. Untreu heißt du und untreu bist du, das sagte ich dir damals, und das sag ich dir auch jetzt noch. Du bist aber dessen ungeachtet mein Bruder, und darum sollst du nicht hungrig von dannen gehen, sondern zu essen und zu trinken bekommen, und danach kannst du dich zu der Linde begeben, auf der ich voriges Jahr in der Nacht saß – und wenn du dort etwas erfährst, das dir nützlich sein kann, so ist es gut für dich.“
Untreu merkte sich die Worte gut. Hat Treu, nur weil er eine Nacht auf der Linde saß, ein solches Glück gehabt, dass er binnen einem Jahr König von halb England geworden ist, so – wer weiß -, dachte er und begab sich in den Wald und stieg auf die Linde. Er hatte noch nicht lange dort gesessen, da kamen die Tiere unter dem Baum zusammen, aßen und tranken und feierten die Mittsommernacht.
Als sie nun genug gegessen und getrunken hatten, machte der Fuchs wieder den Vorschlag, dass sie einander Geschichten erzählen sollten, und da kannst du dir wohl denken, wie Untreu die Ohren spitzte. Aber der Bär war diesmal verdrießlich, brummte und sprach: „Es hat jemand ausgeschwatzt, was wir uns voriges Jahr erzählten, und darum wollen wir jetzt schweigen von dem, was wir wissen!“ Und darauf sagten sich die Tiere gute Nacht und gingen ihres Weges, und Untreu war nicht klüger geworden als zuvor – weil er Untreu hieß und weil er untreu war.
Quelle:
(Unbekannt-Norwegen)