Sie führten Ilija, den Muromer, in den Pallast, bereiteten einen großen Schmaus, und entließen ihn alsdann. Da ritt Ilija, der Muromer, nach Kiew, die gerade Straße, welche der Räuber Nachtigall seit dreißig Jahren inne hatte, und wo er weder Reiter noch Fußgänger vorüberziehen ließ, indem er sie tödtete, nicht mit Waffen, sondern mit seinem räuberischen Pfeifen. Ilija, der Muromer, kam in das freie Feld und ritt in den Brianskischen Wald, den er in der Ferne erblickte, auf morastigen Strecken, über Brücken von Wasser-Hollunder zu dem Flusse Smarodienka. Aber der Räuber Nachtigall ahnete sein nahes Unglück, und als Ilija, der Muromer, noch zwanzig Werst weit von ihm entfernt war, ließ er sein starkes räuberisches Pfeifen erschallen. Allein das Heldenherz erschrak nicht, und als er noch zehn Werst weit von ihm war, da pfiff er so stark, daß das Roß unter Ilija, dem Muromer, auf die Knie stürzte. Da gelangte Ilija, der Muromer, an sein Nest, das auf zwölf Eichen gebaut war, und der Räuber Nachtigall erblickte den russischen Helden, pfiff aus aller Kraft und wollte ihn tödten. Ilija, der Muromer, aber nahm seinen straffen Bogen ab, legte auf ihn einen trockenen Pfeil, ließ ihn fliegen in das Räubernest und traf den Räuber in das rechte Auge. Der Räuber Nachtigall fiel aus seinem Neste herab wie eine Hafergarbe.
Ilija, der Muromer, nahm den Räuber Nachtigall, band ihn fest an seinen Steigbügel, und ritt zur berühmten Stadt Kiew. Auf dem Wege stand der Pallast des Räubers Nachtigall, und als er bei diesem vorüber ritt, sahen aus den offenen Fenstern die Töchter des Räubers. Da schrie die jüngste: »Dort kommt unser Vater geritten und bringt einen Bauer, an seinen Steigbügel gebunden.« Aber die älteste betrachtete ihn genau und fing an bitterlich zu weinen. »Das ist nicht unser Vater, der dort reitet, sondern ein unbekannter Mensch führt unsern Vater.« Und sie schrieen ihren Männern zu: »Unsere lieben Männer, reitet diesem Bauer entgegen, und entreißt ihm unsern Vater! Laßt keine Schande über unsern Stamm kommen!« – Ihre Männer waren mächtige Ritter. Sie ritten aus gegen den russischen Ritter und hatten gute Rosse und scharfe Lanzen und wollten Ilija aufspießen. Der Räuber Nachtigall erblickte sie und sprach zu ihnen: »Meine lieben Schwiegersöhne, ladet keine Schande auf euch und erzürnet nicht einen so starken Ritter, damit er nicht auch euch tödte. Bittet ihn lieber, daß er zu euch ins Haus komme und ein Glas Branntwein trinke.« Auf ihre Bitten kehrte Ilija im Pallaste ein, ohne ihre Bosheit zu ahnen, denn die älteste Tochter hatte einen Ballen an Ketten über der Thüre aufgezogen, um ihn zu erschlagen, wenn er durch das Thor ritte. Ilija aber erblickte sie über der Pforte, schlug sie mit seiner Lanze und tödtete sie. Darauf ritt er nach Kiew und gerade auf den Fürstenhof, ging in den Pallast, betete zu Gott und begrüßte den Fürsten. Der Fürst von Kiew fragte ihn: »Sage mir, guter Jüngling, wie du heißest, und aus welchem Reiche du bist?« – »Ich werde Iljuschka genannt, mein Herr, und nach dem Vater Iwanow, und bin gebürtig aus dem Kirchdorfe Karatscharowa der Stadt Murom.« Der Fürst fragte ihn darauf, welchen Weg er geritten sei. »Aus Murom bin ich nach Tschernigof geritten und habe bei Tschernigof ein zahlloses Heer von Ungläubigen geschlagen und die Stadt befreit; von da bin ich auf dem geraden Wege weiter gezogen und habe den gewaltigen Helden, den Räuber Nachtigall, gefangen, und ihn auch mit mir, am Steigbügel gebunden, hieher gebracht.« Aber der Fürst wurde zornig und sagte: »Warum betrügst du mich?« – Als dies die Helden Alescha Popowitsch und Dobrinja Nikititsch hörten, eilten sie hinaus, um sich zu überzeugen, und sie versicherten sich, daß er die Wahrheit geredet. Da befahl der Fürst, dem guten Jüngling ein Glas Branntwein zu geben, und der Fürst hatte Lust, das Pfeifen des Räubers zu hören. Da nahm Ilija, der Muromer, den Fürsten und die Fürstin mit in seinen Zobelpelz unter seine Arme, und befahl dem Räuber Nachtigall halblaut zu pfeifen; aber er pfiff ganz laut und betäubte alle Ritter, daß sie zu Boden stürzten. Darüber wurde Ilija, der Muromer, so aufgebracht, daß er ihn auf der Stelle tödtete.
Dann machte er mit Dobrinja Nikititsch brüderliche Freundschaft. Sie sattelten ihre guten Rosse, ritten hinweg, und zogen drei Monate umher, ohne einen Gegner zu finden. Da trafen sie einen Krüppel; sein Bettlermantel war 50 Pud schwer, sein Hut wog 9 Pud, und sein Krückenstock war eine Klafter lang. Da begann Ilija, der Muromer, auf ihn loszusprengen, um an ihm seine Heldenkraft zu versuchen, aber der Krüppel sprach zu ihm: »Ach Ilija Muromer, erinnerst du dich nicht mehr, wie wir in einer Schule zusammen lesen lernten, und jezt willst du mich, einen Krüppel, anfallen, wie einen Feind? Und weißt du denn nicht, daß in der berühmten Stadt Kiew großes Elend herrscht? Ein ungläubiger gewaltiger Ritter, ein gottloser Götzendiener, ist dahin gekommen; sein Kopf ist so groß, wie ein Bierkessel, seine Augenbraunen sind eine Spanne von einander, und in den Schultern mißt er eine Klafter. Er frißt einen Ochsen auf ein Mal und trinkt einen Kessel voll Bier dazu aus. Der Fürst ist sehr betrübt über deine Abwesenheit.« – Und Ilija, der Muromer, zog die Kleider des Krüppels an, ritt nach Kiew, ging gerade auf den Fürstenhof und schrie mit seiner Ritterstimme: »He da, Fürst von Kiew, schicke dem Krüppel ein Almosen!« Als ihn der Fürst erblickte, sprach er: »Komme in meinen Pallast, ich will dir zu essen und zu trinken geben und dich mit Gold beschenken auf den Weg.« Da trat der Krüppel in das Zimmer und setzte sich an den Ofen. Hier saß auch der Götzendiener und verlangte zu essen. Da brachte man ihm einen ganzen gebratenen Ochsen, und er fraß ihn sammt den Knochen auf. Dann verlangte er zu trinken, und 27 Menschen brachten einen Kessel voll Bier. Da nahm er ihn am Henkel und leerte ihn bis auf den Grund. Darauf sprach Ilija, der Muromer: »Mein Vater hatte eine gefräßige Stute, die verzehrte so viel, daß sie verreckte.« Da ergrimmte der Götzendiener und sprach: »Was bindest du mit mir an, du armer Krüppel? Du bist für mich nichts: ich setze dich auf die flache Hand und drücke mit der andern, so wird es nur feucht sein. Ihr habt einen großen Helden gehabt, Ilija, den Muromer, mit dem möchte ich einen Kampf bestehen.« – »Hier ist er!« sprach dieser, nahm seinen Hut ab, und schlug ihn damit an den Kopf, nicht zu sehr, aber doch so, daß der Kopf die Mauer des Schlosses durchstieß. Ilija nahm dann auch den Rumpf und warf ihn auf den Hof. Dafür belohnte ihn der Fürst reichlich und behielt ihn an seinem Hof als den ersten und gewaltigsten Ritter.
Anton Gotthelf Dietrich (Russische Volksmärchen 1831)