Worte sind wie Bienen,
die ihr Bienenhaus verlassen,
Nektar sammeln,
Blüten befruchten.
Wir haben viele Worte gesammelt
können jetzt ein Märchen erzählen.
Es lebte einmal ein König, der wurde von einer unbekannten Augenkrankheit heimgesucht. Obwohl Ärzte aus aller Herren Länder herbeieilten, ihm seine Sehkraft zurückzugeben, wußte ihn doch keiner zu heilen. Schon konnte er nicht mehr die Mäste der Schiffe erkennen, die nahe der Küste vorbeisegelten, schon nicht mehr die Wellen sehen, die das Meer ohne Unterlaß dem Land entgegentrug, und seine Besucher konnte er bald nur noch an ihren Stimmen unterscheiden. Eines Tages sagte sich der König: „Wie soll ich denn gerecht und weise regieren, wenn ich die geringste Lüge im Gesicht derer erkennen kann, die mir raten, dieses oder jenes zu tun, dieses oder jenes zu lassen.“ Und der König sagte sich weiter, daß es gewiß besser sei, wenn einer seiner Söhne den Thron bestiege. „Welcher meiner Söhne aber soll es sein?“ überlegte der König.
Und endlich entschied er: „Regieren soll der Würdigste. Und würdig ist der meiner Söhne, welcher mir mein Augenlicht wiederbringt.“
Alsbald ließ der König seine Söhne rufen, als diese vor ihm standen, sprach er: „Meine Söhne, die Zeit flieht und unser Leben mit ihr. Das Alter klopft an seine Tür. Darum sähe ich es gern, wenn ihr mir drei Fragen beantworten könntet. Welcher von euch die richtigen Antworten weiß, soll ausziehen und nach einem Mittel suchen, das mir mein Augenlicht zurückgibt. Hat er auch diese Aufgabe gelöst, wird er fortan das Land regieren.“ Dann wandte er sich an den Ältesten: Mein Sohn, willst du mir drei Fragen beantworten?“
„Ich will es“, sagte der älteste Sohn.
„Was ist das Schönste, das Vortrefflichste und das Schnellste auf der Welt?“ Der älteste Sohn dachte nach. Er hatte seine Frau von Herzen lieb. Wenn er im Schlosse war, ließ er die Augen nicht von ihr. Nichts Schöneres als sie gab es auf der Welt. Und das Fohlen der sprechenden Stute, die Hochzeitsgabe seines königlichen Vaters, war das Vortrefflichste.
Seine Jagdhunde aber, die jeden stattlichen Hirsch zu Tode hetzten, waren das Schnellste.
So antwortete er: „Das Schönst auf der Welt ist meine Frau. Das Vortrefflichste ist das Fohlen der sprechenden Stute, und das Schnellste sind meine Jagdhunde.“ Der König hatte aufmerksam zugehört, nun lächelte er:
„Deine Frau ist schön, das ist wahr, und auch ihre Stimme hat einen schönen Klang, aber ob deine Frau das Schönste auf der Welt ist, dies vermag ich nicht zu beurteilen. Das Fohlen mit der sprechenden Stimme ist vortrefflich und deine Jagdhunde sind schnell. Das alles ist wahr. Doch ich erwarte eine andere Antwort zu hören.“ Der älteste Sohn würde also nicht regieren. Und der mittlere? „Das Schönste auf der Welt ist unsere Mutter“, sagte dieser schlecht. „Das Vortrefflichste ist Eure sprechende Stute, Vater, und wenn mein Bruder nicht die schnellsten Hunde besitzt, so besitzt Ihr sie. Euren Hunden entkommt keiner!“ Der König hatte auch dem mittleren Sohn aufmerksam zugehört. Nun sagte er :
„Gut hat mir deine Antwort gefallen, mein Sohn, denn es ist wahr, deine Mutter ist schön wie die Morgenröte. Aber sag, ist sie es auch für alle Menschen? Meine sprechende Stute ist vortrefflich. Und meine Jagdhunde sind außergewöhnlich schnell. Das alles ist wahr, doch hätte ich von dir eine bessere Antwort erwartet.“ Der mittlere Sohn würde also nicht regieren. Und Gajas, der jüngste? Dieser sagte:
„Was könnte schöner sein als der Frühling, der immer wieder die Erde neu belebt und die kahlen Zweige in Blüten und Blätter taucht?“ sagte er leise. „Und was ist vortrefflicher als der Herbst, der uns die reifen Früchte schenkt und der nach Honig duftet? Was ist vortrefflicher als der bunt gefärbte Wald, wo Jagdhörner erklingen und die Erde unter den Hufen feuriger Pferde erbebt? Und was kann schneller sein als der Blick des menschlichen Auges, dem kein Vogel, kein fliehender Pfeil entkommt, der selbst den Blitz festhalten kann!“ Als dies der König gehört hatte, nickte er zufrieden und sagte: „Du bist weise, mein Sohn. Und darum wärest du würdig, das Land zu regieren, die Krone zu tragen. Doch wirst du mir auch mein Augenlicht zurückgeben können, das mir bisher keiner der vielen Ärzte, sie aus aller Herren Länder an meinen Hof geeilt sind, zurückgeben konnte?“
„Das ist eine schwere Aufgabe, mein königlicher Vater. Doch ich will ausziehen, das Heilmittel zu suchen, das Euer Augenlicht zurückbringt. Ich bitte Euch jedoch, mir die sprechende Stute mit auf den Weg zu geben.“
„Nimm die Stute und kehre gesund zurück“, sagte der König. Als der König das Gemach verlassen hatte, gingen auch die Prinzen ihre Wege. Der eine eilte zu seiner Frau, der andere zu der Mutter, der jüngste aber in den Stall.
„Hilf mir, liebe Stute, meinem Vater das Augenlicht wiederzubringen“, bat er. Und die sprechende Stute schüttelte ihre lange Mähne, wieherte und sagte mit menschlicher Stimme:
„Wirf mir den Sattel mit den neun Bauchgurten über, nimm das silberne Schwert deines Vaters, und wenn du alles befolgst, so werde ich dir gute Dienste leisten, werde dich mit Adlerflügeln über neun Berge tragen zu der Kiefer, an deren Wurzel du das Heilmittel findest, das deinem Vater das Augenlicht zurückgibt.“ Und die Stute mit dem glänzenden Fell, die stark war wie die Wasser, die die Dämme brechen, sprach weiter:
„Das Heilmittel sind die Schneeflocken, die niemals auftauen, die aber bei der geringsten Berührung wie die weißen Sterne des Löwenzahn auseinander fliegen.“ So nahm denn der jüngste Prinz Abschied von Vater und Mutter, von seinen Brüdern, warf der Stute Zaum und Sattel über, sprang auf und ritt lange – und doch nicht allzu lange weit – und doch nicht allzu weit. Er ritt einen Monat, zwei Monate, und im dritten Monat blieb die Stute vor einer hochgewachsenen Kiefer stehen.
Der Prinz saß ab, griff nach der Schaufel, die mitzunehmen er nicht vergessen hatte, und begann sogleich zu graben. Als er bis zu den Knien in der Erde stand, wischte er sich den Schweiß von der Stirn, als er bis zum Gürtel stand, ruhte er aus, und als bis zur Schulter stand, flogen schneeweiße Flocken auf, leicht wie die weißen Sterne des Löwenzahns.
Und ehe er sich recht besann, flogen die Flocken in alle Himmelsrichtungen davon, verschmolzen mit dem Blau des Himmels.
Prinz Gaja schämte sich seiner Unachtsamkeit sehr. Wie sollte er je wieder vor seinen Vater treten? Die Stute aber sprach: „Wenn der Vollmond das dritte Mal scheint, kommen die Flocken zurück, und du kannst sie mühelos einfangen!“ Und weiter sprach die Stute:
„Als ich übers weite Land ritt, da sah ich ein gewaltiges Heer. Das Heer gehört dem Herrscher des Landes der östlichen Sonne.
Dörfer und Städte will er vernichten, die Menschen gefangen fortführen.“ Prinz Gajas sprang aus dem Sattel, griff zum silbernen Schwert und gab der Stute die Sporen. Er ritt, bis er auf ein riesiges Schlachtfeld kam.
Dort kämpfte der Herrscher des Landes der östlichen Sonne mit einem großen Heer zu Pferd und Fuß. Aus den Staubwolken ertönten Kampfrufe, klirrten Schwerter und riefen Verwundete. Prinz Gaja zögerte nicht, er stürzte sich auf das Heer des Eroberers.
Und wo er sein silbernes Schwert schwang, blieb eine Gasse, wo er zustieß, wurde eine Straße frei. Prinz Gaja schlug die Angreifer zurück, und die Stute zermalmte unter ihren Hufen die Helme und Schilde der zurückweichenden Soldaten. Die Verteidiger aus dem Lande der westlichen Sonne stärkten sich an der Tatkraft des unbekannten Ritters und schlugen mit letzten Kräften die versprengten Eroberer in die Flucht. Als Prinz Gajas sah, daß alles ein gutes Ende nahm, wendete er seine Stute und ritt davon. Aber er war noch gar nicht weit geritten, da schwangen sich Reiter des Herrschers der westlichen Sonne auf ihre Pferde und jagten übers weite Feld. Und bald holten sie den Prinzen ein und baten ihn, ihnen in ein weißes Zelt zu folgen.
Prinz Gajas folgte den Boten. Vor dem Zelt saß er von seiner Stute ab, und der Herrscher des Landes der westlichen Sonne verneigte sich vor dem unbekannten Recken, der ihm den Sieg erfochten hatte, streckte ihm die Hände entgegen und geleitete ihn in das weiße Zelt inmitten des weiten Feldes. Prinz Gajas zu Ehren gab der Herrscher des Landes der westlichen Sonne noch am selben Tag ein großes Fest, zu dem er alle Ratgeber und ehrwürdige Männer einlud. Die Stute, die unter ihren Hufen die Helme und Schilde der zurückweichenden Krieger zermalmt hatte, führten die Knechte in den Stall. Dort bürsteten und striegelten sie ihr glänzendes Fell, legten ihr eine mit Gold und Perlen bestickte Decke über und füllten ihr den Trog.
Es verging nur kurze Zeit, da begannen die falschen Ratgeber des Herrschers die Köpfe zusammenzustecken und ihr Geflüster hörte sich wie das Zischen vieler Schlangen an.
Der Neid nahm ihnen schier den Atem, war doch der junge Recke vor ihnen bevorzugt worden. Das sollte er ihnen büßen.
Und als der Tag zu Neige ging, bedrängten die Ratgeber so lange ihren Herrn, bis dieser einwilligte, einen Turm aus Elfenbein bauen zu lassen. „Einen solchen Turm würde alle Welt rühmen. Wo aber ist das Elfenbein zu finden, das wir zu seinem Bau benötigen?“, sagte der Herrscher des Landes der westlichen Sonne. „O König, schickt Gajas in die Welt hinaus, in das Land, in dem Elefantenherden die Erde zertrampeln. Wenn der junge Recke das Elfenbein für den Turm herbeischaffen würde, wäre er wirklich der tapferste Recke der Welt!“ Da ließ der Herrscher den jungen Recken rufen und trug ihm auf, das Elfenbein für den Turm herbeizuschaffen. Der Prinz erschrak. Er dachte: „Das ist eine schwere Aufgabe.“ Aber er widersprach nicht. Er ging zu seiner Stute, verneigte sich und bat, sie möge ihm helfen. Die Stute sprach: „Verlange hundert Eimer gefüllt mit Wein und hundert Körbe mit Wolle.“ Der Prinz bedankte sich für den Rat und ging in das weiße Zelt. Und der Herrscher des Landes der westlichen Sonne gewährte ihm, was er verlangte.
Bei Tagesanbruch, als alles auf ein Ochsengespann geladen war, sattelte der Prinz die treue Stute und machte sich mit den Männern, die ihm der Herrscher der westlichen Sonnen mitgegeben hatte, auf den Weg. Kaum aber war der Zug in der Ferne verschwunden, rieben sich die falschen Ratgeber zufrieden die Hände. Niemand hatte es bisher gewagt, die Elefanten anzugreifen.
Und diesem Recken würden sie schon den Garaus machen. Gajas und seine Begleiter ritten über die Grenze des Landes der östlichen Sonne, ritten durch verwüstetes Land, wo ausgehungerte Menschen in armseligen Hütten hausten, ritten noch einen Tag, ritten noch zwei Tage, bis sie schließlich zu einem hohen Granitfelsen kamen, aus dem sieben Quellen sprangen, die unten im Tal zusammenflossen.
Dort hielt die sprechende Stute, dort hielten die Männer und das Ochsengespann an.
„Hierher kommen, sobald der Abend dämmert, die Elefanten zur Tränke“, sagte die Stute.
Nun wußte Prinz Gajas, warum die Stute ihn geheißen hatte, Wein und Wolle mitzunehmen.
Er befahl den Männern, die Quellen mit der Wolle zu verstopfen, danach das Wasser, das sich in einer großen Mulde gesammelt hatte, auszuschöpfen und den Wein hineinzugießen. Als dies getan war, versteckten der Prinz und die Männer sich im Dickicht. Es dauerte nicht lange, da bebte die Erde unter dem Stampfen einer riesigen Elefantenherde, die sich unter lautem Trompeten ihrer Tränke näherte und alsbald gierig zu trinken begann. So gut hatte den Elefanten das Quellwasser nie zuvor geschmeckt. Und so tranken und tranken sie den Wein, bis es dunkel vor ihren Augen wurde. Da legten sie sich müde auf die Erde und schliefen ein. Jetzt war es für die Männer ein leichtes, den Elefanten die Stoßzähne zu nehmen, und damit hielten sie erst ein, als der Ochsenkarren hochgetürmt mit Elfenbein beladen war. Prinz Gajas hatte mit Hilfe der Männer, die ihn begleitet hatten, seine Aufgabe erfüllt. Der Herrscher des Landes der westlichen Sonne zeigte sich darüber hocherfreut. Seine Ratgeber jedoch steckten erneut die Köpfe zusammen und sannen darüber nach, wie sie dem jungen Recken schaden konnten. Denn im Lande wußte man nicht genug von dem Prinzen zu erzählen. Jeder, der ihm begegnete, verneigte sich vor ihm so tief, wie man sich sonst nur vor einem König zu verneigen pflegt. Nachdem die Ratgeber lange genug ihre Köpfe zusammengesteckt, nachdem ihr Geflüster, das sich wie das Zischen vieler Schlangen anhörte, verstummt war, begaben sie sich zum König. „Es ist nicht gut, wenn sich das Volk vor einem Fremden wie vor einem König verneigt“, sagte der älteste Ratgeber. „Denn die Eitelkeit könnte dem Fremden zu Kopfe steigen, und es könnte ihm einfallen, sich des Thrones zu bemächtigen.“ Der König belächelte die Warnung der Ratgeber. Doch als er am Abend Prinz Gajas von seiner Stute absitzen sah, dachte er, daß es in der Tat nicht gut sei, wenn das Volk sich vor einem Fremden wie vor einem König verneige. Und er dachte auch, daß einem, dem das Volk solche Ehre erweise, in der Tat leicht die Eitelkeit zu Kopfe steigen könne.
Also ließ er seine Ratgeber rufen, und fragte sie, welchen Rat sie ihm hatte geben wollen.
„Schickt Prinz Gajas aus, erneut eine Probe seines Mutes und seiner Tapferkeit zu bestehen, laßt ihn den Feuervogel einfangen“, sagte der älteste Ratgeber. „Der Prinz hat mir zum Sieg über das Heer des Herrschers der östlichen Sonne verholfen, er hat eine große Menge Elfenbein herbeigeschafft, warum sollte es ihm nicht auch gelingen, den Feuervogel einzufangen?“ fragte der Herrscher der westlichen Sonne. „Wie man weiß, lebt der Feuervogel viele Tagesreisen entfernt in einem großen Garten, indem er von unzähligen kleinen Vögeln bewacht wird. Wer in diesen Garten eindringt und sich dem Feuervogel nähert, der wird von den kleinen Vögeln zu Tode gehackt“, sagte der älteste Ratgeber.
Da entließ der König seine Ratgeber, ließ den jungen Recken rufen und trug ihm auf, den Feuervogel zu fangen. Der Prinz dachte, daß ihm der König seine Taten schlecht danke, wenn er ihn vor eine solche Aufgabe stelle. Aber er widersprach nicht. Er ging zu seiner Stute, verneigte sich und bat, sie möge ihm helfen. Die Stute sprach: „Verlange einen Sack Weizen und einen Sack Hirse. Binde beide Säcke auf meinen Rücken und steige selbst auf. Ich werde dich in das Reich des Feuervogels bringen.“ Der Prinz ging in das weiße Zelt. Und der Herrscher des Landes der westlichen Sonne ließ ihm einen Sack Weizen und einen Sack Hirse bringen. Der junge Recke band beide Säcke auf den Rücken der Stute, saß auf und ließ sich viele Tagesreisen weit tragen. Als sie eine feine Melodie vernahmen, hielt die Stute an und sprach: „Das letzte Stück Weges mußt du zu Fuß zurücklegen. Gehe, bis du an eine hohe Hecke gelangst. Hinter der Hecke ist das Reich des Feuervogels. Er wird dein Kommen nicht bemerken. Lege dich im Garten ins Gras schütte Hirse und Weizen über dich, so daß du nicht zu sehen sein wirst, wenn der Feuervogel ausfliegt, sein Futter zu suchen.
Mit ihm werden auch die kleinen Vögel, die ihn bewachen, kommen und die Körner aufpicken. Merke gut….wo dein Herz schlägt, wird sich der Feuervogel niederlassen.
Wenn er das erste und das zweite Korn aufpickt, verhalte dich ruhig, wenn er aber das dritte Korn in seinem Schnabel hat, ergreife ihn.“ Prinz Gajas tat alles genauso, wie die Stute es ihm gesagt hatte. Er schulterte die beiden Säcke und ging damit, von keinem der Vögel bemerkt, in den Garten. Dort legte er sich ins Gras und schüttete sich Hirse und Weizen über. Und nicht lange, da ging ein Raunen durch den Garten, dem bald aufgeregtes Vogelgeschrei folgte.
Die kleinen Vögel hatten die Körner entdeckt und teilten ihre Entdeckung nun dem Feuervogel mit. Ein heller Schein breitete sich aus, als dieser sich auf dem Körnerhaufen niederließ. Kaum aber hatte er das dritte Korn aufgepickt, da ergriff Prinz Gajas ihn. Und er ließ ihn auch nicht los, als die kleinen Vögel mit ihren spitzen Schnäbeln auf ihn einhackten und ihm tiefe Wunden zufügten. Der Prinz lief mit dem Feuervogel den Weg zurück, schwang sich auf die treue Stute und ritt davon. Als der junge Recke dem Herrscher des Landes der westlichen Sonne den Feuervogel überreichte, vergaß dieser, was seine Ratgeber ihm eingeflüstert hatten, vergaß er die böse Absicht, mit der er den Prinzen ausgeschickt hatte, den Feuervogel zu fangen. Die Schönheit des Vogels und die Freude über seinen Besitz waren so groß, daß er zu Ehren des Prinzen ein großes Fest gab, zu dem nicht nur die Edlen des Landes, sondern auch das Volk geladen war. Wie aber erstaunte der König, als er sah, daß sich nicht nur das Volk, sondern auch die Edlen des Landes tiefer vor Prinz Gajas verneigten, als vor ihm.
Oh, seine Ratgeber, wie recht sie hatten! Gewiß würde es diesem jungen Recken auch einfallen, ihn über kurz oder lang von seinem Throne zu verdrängen, wenn er ihm nicht zuvorkäme. Noch ehe das Fest zu Ende ging, zog der König sich mit seinen Ratgebern zurück, und diese ließen mit ihrem Rat nicht lange warten. „Schickt den jungen Recken aus, Euch Prinzessin Arpa, das schönste Mädchen unter der Sonne, zu bringen. Die Prinzessin lebt, viele Tagesreisen entfernt, in einem Schloß, dessen Osttor von einem Bock mit stählernen Hörnern und dessen Westtor von einem Wolf, einem Ausbund an Kraft und List, bewacht wird. Den Bock mit den stählernen Hörnern und den Wolf bezwingt auch der Tapferste nicht“, sagte der älteste Ratgeber. Als der Prinz vernahm, daß er eine neue Aufgabe erfüllen sollte, als er erfuhr, was das für eine Aufgabe war, senkte er den Kopf und ging in den Stall zu seiner treuen Stute. „Der König hat bekommen, was er wollte, doch es ist ihm nicht genug“, sagte er traurig. „Was will der König dieses Mal?“ fragte die Stute. „Er will, daß ich ihm Prinzessin Arpa, das schönste Mädchen unter der Sonne, bringe.
Die Prinzessin lebt viele Tagesreisen entfernt in einem Schloß, daß von einem Wolfshund bewacht wird, den auch der Tapferste nicht bezwingt“, sagte der Prinz. „Nimm Pfeil und Bogen und einen Sack Heu und steig auf“, sprach die Stute, „reiten wir in das weite Land.“ Und der Prinz stieg auf und ritt viele Tagesreisen weit durchs Land und über die Grenze des Landes. Als sie ein heiseres Bellen vernahmen, sagte die Stute: „Das letzte Stück des Weges mußt du zu Fuß zurücklegen. Merke nun … die weiße Stute, der du zuerst begegnen wirst, beachte sie nicht weiter. Die Hindin jedoch, die dir über den Weg laufen wird, sollst du mit einem Pfeil erlegen und dem Wolf vorwerfen. Wenn du dem Wolf die Hindin vorgeworfen hast, laufe zum Westtor und wirft dem Bock mit den stählernen Hörnern den Sack mit dem Heu vor.
Vergiß jedoch nicht, den Sack aufzubinden. Wenn du das alles getan hast, eile in das Schloß. Dort wirst du die Prinzessin über eine Stickerei gebeugt finden. Aber gib acht, die Prinzessin darf dich nicht erblicken, bevor du ihre Flechten um deine Hände geschlungen hast.“ Prinz Gajas tat alles genauso, wie die Stute es ihm gesagt hatte. Er schulterte den Sack mit dem Heu und legte das letzte Stück Weges zu Fuß zurück. Die weiße Stute, der er begegnete, beachtete er nicht weiter. Die Hindin jedoch, die ihm über den Weg lief, erlegte er mit seinem Pfeil und warf sie dem Wolf, der das Westtor bewachte vor. Dann band er den Sack mit dem Heu auf, lief zum Osttor und warf den Sack vor den Bock mit den stählernen Hörnern. Als er das alles getan hatte, eilte er in das Schloß. Dort fand er die Prinzessin über eine Stickerei gebeugt. Der Prinz ergriff schnell ihre langen schwarzen Flechten und schlang sie um seine Hände. Die Prinzessin ließ die Stickerei fallen und rief mit trauriger Stimme: „Osttor, warum schütztest du mich nicht?“ „Nicht mich, den Wächter mußt du fragen“, antwortete das Osttor. „Westtor, warum schütztest du mich nicht?“ rief die Prinzessin.
„Nicht mich, den Wächter mußt du fragen“, antwortete das Westtor. Da rief die Prinzessin:
„Bock, Böckchen, befreie mich!“ „Ich bekam duftendes Heu, aß noch nicht die Hälfte davon“, antwortete der Bock mit den stählernen Hörnern. Da rief die Prinzessin:
„Wolf, Wölfchen, befreie mich!“ „Ich bekam das Fleisch einer eben erlegten Hindin, aß noch nicht ein Viertel davon“, antwortete der Wolf. Da rief die Prinzessin so laut sie rufen konnte: „Stute, weiße Stute, trage mich fort!“ Die weiße Stute aber hörte nicht, denn mit hellem Wiehern hatte die sprechende Stute des Prinzen die Rufe der Prinzessin übertönt.
Da seufzte die Prinzessin, steckte ihre Flechten auf, schlang sich ein Tuch über den Kopf, band es fest zusammen und folgte wortlos dem Prinzen. Der Prinzessin aber war vor sieben Jahren von einer Alten prophezeit worden, daß sie den zum Mann nehmen würde, der imstande wäre, die Tore des Schlosses zu öffnen. Und das war doch Prinz Gajas gewesen, und nicht der Herrscher des Landes der westlichen Sonne, den die Prinzessin noch nie zu Gesicht bekommen, dessen Namen sie bisher nicht einmal gekannt hatte.
„Lasse die Zeiten walten, und du wirst alles sehen und alles hören“, hatte die Alte der Prinzessin auf alle Fragen, die sie hier gestellt, geantwortet. So stieg die Prinzessin auf ihre weiße Stute und der Prinz stieg auf seine sprechende Stute, und zusammen ritten sie viele Tagesreisen weit in das Land der westlichen Sonne. Da riß der König aber die Augen auf, als er von seinem Fenster aus Prinzessin Arpa auf ihrer Stute erblickte.
Wahrlich, ein Mädchen, das so schön war wie dieses, konnte es auf der ganzen Welt nicht ein zweites Mal geben. In seinem kostbaren Gewand wollte er ihm entgegentreten.
Indessen waren Prinz Gajas und die Prinzessin von ihren Pferden gesprungen und von den Dienern und Mägden ins Schloß geleitet worden. Dort sagte die Prinzessin zu einer der Mägde: „Bereite mir ein Bad aus kochendheißer Eselsmilch, damit ich mich erfrische, damit meine Haut vom Staube der Reise rein wird.“ Die Magd tat, wie ihr geheißen. Sie brachte einen riesigen Kessel voll Eselsmilch über das Feuer, und als die Milch über den Rand des Kessels zu schäumen drohte, war sie kochendheiß. Da rief die Magd, zwei Diener, zwei kräftige Kerle, herbei, die den Kessel in das Gemach trugen, in dem der Zuber für das Bad stand. Den Ratgebern, die mit den Zähnen knirschten, sich die Haare rauften, als man ihnen die Nachricht von der Rückkehr des Prinzen, der von einem wunderschönen Mädchen begleitet wurde, erhielten, entging nichts, was im Schloß geschah. Eher als der König erfuhren sie, was die Prinzessin der Magd aufgetragen hatte.
Und sie zögerten nicht, es gleich dem König zu melden. „O König“, sagte der älteste Ratgeber, denn die anderen Ratgeber sagten gewöhnlich nur „Ja, mein König!“ und sonst nichts. „O König“, also sagte der älteste Ratgeber, „wir haben soeben das Geheimnis für die ungewöhnliche Schönheit der Prinzessin entdeckt.“ Der König, der gerade sein kostbares Gewand anlegen wollte, der gerade seinem Kammerdiener befohlen hatte, ihm die breiteste Damastschärpe und alle Orden bereitzulegen, wandte sich um, sah seine Ratgeber an, sah in alle Spiegel, die alle vom Boden hin bis zur Decke reichten, sah, daß auch sein kostbarstes Gewand keinen Jüngling aus ihm machen würde, dem die Prinzessin ohne Zaudern ihre Hand reichen könnte. Und der König fragte seine Ratgeber, welches denn das Geheimnis der Prinzen sei.
„Die Prinzessin nimmt täglich ein Bad mit kochendheißer Eselsmilch“, sagte der älteste Ratgeber. Der König sah noch einmal in alle Spiegel, sah, daß auch sein kostbarstes Gewand keinen Jüngling aus ihm machen würde und beschloß, auf der Stelle selbst ein Bad in der kochendheißen Eselsmilch zu nehmen. Aber als der König in den Zuber stieg, verwandelte er sich nicht in einen Jüngling, als er in den Zuber stieg, verbrannte er sich so, daß es für ihn keine Rettung mehr gab. Als die Ratgeber sahen, was sie angerichtet hatten, verließen sie, als Diener verkleidet, durch den Gesindeausgang das Schloß, und niemand weiß, wohin sie gegangen sind, wer sie in seinen Dienst nahm, wem sie fortan ihre Ratschläge erteilten. Die Nachricht vom Tode des Königs verbreitete sich in Windeseile im ganzen Land. Und wer ein Pferd besaß, schwang sich in den Sattel, und wer keines besaß, eilte zu Fuß in die Hauptstadt, dem neuen König Glück und ein langes Leben zu wünschen. Wer aber war der neue König?
Wen hatten die Edlen des Landes zum neuen König ausrufen lassen? Freilich, da braucht man nicht lange den Kopf zu zerbrechen, da weiß man nach allem, was geschehen ist, daß es kein anderer als Prinz Gajas war.
„Und wenn wir hier von der Hochzeit des Prinzen mit der Prinzessin Arpa erzählen würden, wäre dieses Märchen gleich zu Ende.
Aber wir müssen noch an den Anfang denken.
Erinnert Ihr Euch? Wißt ihr es noch?
Der Vater des Prinzen war von einer unbekannten Augenkrankheit heimgesucht worden, die keiner der vielen Ärzte, die aus aller Welt herbeigeeilt waren, hatte heilen können. Als der König die Maste der Schiffe nicht mehr erkennen konnte, als er nicht mehr die Wellen sah, die das Meer ohne Unterlaß dem Land entgegentrug, als er seine Besucher nur an ihren Stimmen unterscheiden konnte, da beschloß er, daß der würdigste seiner Söhne den Thron besteigen solle. Um aber herauszufinden, welcher der Würdigste sei, stellte er seinen Söhnen drei Fragen.
Derjenige, der die richtigen Antworten fand, sollte ausziehen, nach einem Mittel suchen, daß dem König das Augenlicht zurückgebe.
Wer diese letzte Aufgabe löse, soll fortan auch das Land regieren, hatte der König gesagt.
So war Prinz Gajas ausgezogen, das Heilmittel zu suchen, denn er hatte auf alle drei Fragen seines königlichen Vaters die richtige Antwort gewußt. Als er aber das Heilmittel gefunden hatte, verlor er es durch eine Unachtsamkeit gleich wieder. Jetzt war die Zeit gekommen, erneut danach zu suchen, denn zum dritten Mal stand der Mond groß und rund am Himmel. Wir wissen, was die Stute gesagt hatte, daß nämlich die Flocken, die wie die weißen Sterne des Löwenzahns davongeflogen waren, beim dritten Vollmond zurückkehren würden. Und wirklich, gerade als der Prinz bei der hohen Kiefer von seiner sprechenden Stute sprang, kamen aus dem Blau des Himmels die Flocken zurück. Prinzessin Arpa, die den Prinzen auf ihrer weißen Stute begleitete, fing die Flocken in ihrem Tuch, das sie sich schnell vom Kopf genommen hatte, auf. Dann eilten der Prinz und die Prinzessin zu ihren Pferden.
Und diese trugen sie wie mit Adlerflügeln über neun Berge, zu dem Schloß, von dessen Fenstern aus der Vater des Prinzen schon bald wieder die Maste der Schiffe erkennen, die Wellen sehen konnte, die das Meer ohne Unterlaß dem Land entgegentrug. Doch als der König sein Versprechen einlösen und Prinz Gajas zum neuen König des Landes ausrufen lassen wollte, schüttelte dieser den Kopf.
Dann ging er hinaus und kehrte nach einer Weile mit Prinzessin Arpa zurück.
„Diese, Vater“, sagt er, „ist meine Braut. Ihre Stimme habt Ihr am Tag unserer Ankunft vernommen, doch ihr Antlitz konntet Ihr bisher nicht schauen. Sobald die Hochzeit gefeiert ist, will ich in das Land der westlichen Sonne zurückkehren, dessen König ich bin. Ihr aber regiert das Land weiter.“
Da ließ der König für Prinz Gajas und Prinzessin Arpa die Hochzeit ausrichten, die sieben Tage dauerte. Und wenn sie nicht gerade aßen und tranken und lachten und scherzten, erzählte Prinz Gajas, was er gesehen und gehört, was er erlebt hatte. Dann spitzten die Hochzeitsgäste ihre Ohren, aber vernommen haben nur die alles, die am unteren Ende der Tafel saßen.
Wir erinnern uns,
wissen es genau,
weil alles so war,
wie es das Märchen erzählt
*
Märchen aus Grusinien