Auf einer Insel inmitten des weiten Ozeans stand eine kleine baufällige Hütte, in der ein alter Mann nur mit seiner Frau wohnte. Sie waren beide schon sehr alt. Der Mann knüpfte und fuhr aufs Meer hinaus zum Fischen.
Eines Tages, als er sein Netz ausgeworfen hatte und es wieder einzog, kam es viel, viel schwerer vor als zuvor. Kaum konnte er es aus dem Wasser und in das Boot ziehen.Als er sich das Netz besah, schien es ihm zunächst leer zu sein. Aber dann fiel ein kleiner Fisch in das Boot. Es war kein gewöhnlicher Fisch: Er war aus Gold und konnte sprechen. Er bat: „Bitte, setz mich wieder ins Wasser, lieber Mann. Ich will es dir lohnen: Du kannst die wünschen, was du willst.“ Der alte Mann dachte einen Augenblick nach und sagte dann: „Ich brauche nichts. Schwimm nur fort.“ Mit diesen Worten warf er den kleinen goldenen Fisch wieder ins Wasser und ging heim. -„Hast du heute viel gefangen“, fragte die alte Frau. „Nichts außer einem godenen Fisch, und den warf ich wieder ins Meer. Er hatte mich so sehr darum gebeten.
„Laß mich frei“, sagte er „Ich will dich reich belohnen, du kannst dir wünschen, was du willst. Aber ich wußte keinen Wunsch und hatte Mitleid mit ihm, da ließ ich ihn wieder schwimmen.“
„Du Narr“, schimpfte die Frau, „du hattest Reichtum und Glück für uns beide in der Hand und hieltest es nicht fest.“ Sie konnte sich gar nicht beruhigen, und schalt ihren Mann von morgens bis abends. Sie ließ ihm keine Ruhe.
„Du hättest wenigstens um etwas Brot bitten können“, zeterte sie. „Wir haben bald nichts weiter als einen trockenen Kanten im Haus, und was willst du dann essen?“ Schließlich konnte der alte Mann es nicht mehr ertragen und ging, den kleinen goldenen Fisch um Brot zu bitten:
„Kleiner Fisch, sei so gut,
schwimm zu mir,
tauch aus der Flut.“
Der kleine Fisch kam herangeschwommen, stütze sich auf seinen Schwanz, zeigte seinen Kopf und sagte: „Was möchtest du, alter Mann?“ „Meine Alte ist böse mit mir und sagt, ich soll dich um Brot bitten.“ „Sorg dich nicht“ entgegnete der Fisch, „geh nach Haus, und alles ist in Ordnung.“ Der alte Mann ging heim. „Nun, Alte“, fragte er, „ist das Brot da?“
„Ja“, antwortete sie, „soviel wir nur essen wollen. Aber sieh dir an den Bottich, geh zu dem kleinen Fisch und bitte ihn, uns einen neuen zu geben.“ Der alte Mann ging wieder zur Küste und rief:
„Kleiner Fisch, sei so gut,
schwimm zu mir,
tauch aus der Flut.“
Der kleine Fisch kam herangeschwommen, stützte sich auf seinen Schwanz, zeigte seinen Kopf und fragte: „Was wünschst du, alter Mann?“ „Meine Frau schickt mich, um dich um einen neuen Bottich zu bitten.“ „Sorg dich nicht“, antwortete der kleine Fisch, „geh heim, und alles ist in Ordnung.“ Der alte Mann ging zurück. Aber kaum hatte er die Hütte betreten, da fiel die alte Frau wieder über ihn her. „Geh zurück zu dem kleinen Fisch und bitte ihn, uns eine neue Hütte zu geben. Diese ist so baufällig, daß sie noch vor unseren Augen zusammenfallen wird.“ Der alte Mann ging zurück zur Küste und rief:
„Kleiner Fisch, sei so gut,
schwimm zu mir,
tauch aus der Flut.“
Der kleine Fisch kam herangeschwommen, stützte sich auf seinen Schwanz, zeigte seinen Kopf und fragte: „Was wünschst du, alter Mann?“ „Gib uns eine neue Hütte. Die Frau jammert über die alte, sie sagt, sie kann da nicht länger wohnen, weil sie noch vor unseren Augen zusammenfallen wird.“
„Sorg dich nicht“, antwortete der kleine Fisch, „geh heim, und alles ist in Ordnung.“ Der alte Mann ging nach Haus. Da stand statt der alten Hütte eine neue. Sie war aus Eichenholz gebaut und mit schönen Schnitzereien verziert. Aber die alte Frau lief ihm schon entgegen, wütend und jammernd: „Da kommst du zurück, du alter Esel, und bittest bloß um eine Hütte, als wenn das alles wäre, was uns fehlt. Du weißt eben nichts mit unserem Glück anzufangen, aber ich! Geh zurück zu dem kleinen goldenen Fisch und sag ihm, daß ich nicht länger eine arme Fischersfau sein will. Ich will wie eine Baronin leben, ich will Leute haben, die mir dienen und sich tief verbeugen, wenn sie mir begegnen.“ Der alte Mann ging zurück zur Küste und rief:
„Kleiner Fisch, sei so gut,
schwimm zu mir,
tauch aus der Flut.“
Der kleine Fisch kam herangeschwommen, stützte sich auf seinen Schwanz, zeigte seinen Kopf und fragte: „Was wünschst du, alter Mann?“
„Die alte Frau gibt keine Ruhe, sie ist närrisch geworden. Jetzt will sie nicht länger eine arme Fischersfrau sein, sondern eine Baronin.“
„Sorg dich nicht“, antwortete der kleine Fisch, „geh heim, und alles ist in Ordung.“ Der alte Mann ging zurück und fand anstelle der hölzernen Hütte ein dreigeschossiges Herrenhaus vor. Im Hofe eilten die Diener hin und her, und in der Küche rumpelten die Töpfe. Drinnen saß die alte Frau in einem kostbaren Brokatkleid auf einem prächtigen Stuhl und erteilte Befehle.
„Guten Abend, Frau“, sagte der alte Mann .
„Du dummer, alter Tölpel“, schalt sie ihn, „wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen, mit einer Peron in meiner Stellung! Diener, sperrt diesen Kerl in einen Stall und gebt ihm eine Tracht Prügel.“ Die diener eilten herbei, packten den alten Mann am Kragen und schleppten ihn in einen stall. Die Stallknechte schlugen ihn so unbarmherzig, daß er sich kaum noch auf den Füßen halten konnte, als sie endlich aufhörten. Die alte Frau befahl, ihm einen Besen zu geben, und von nun an mußte er den Vorplatz fegen und sich sein Essen aus der Küche holen. Das war ein hartes Leben für ihn, wehe, wenn er ein Fleckchen übersah, dann wurde er wieder in den Stall gezerrt und geschlagen.
„Die alte Hexe“, dachte er bei sich, „sie hat alles, was sie sich wünscht. Sie wälzt sich in ihrem Glück wie die Sau im Dreck und hat darüber völlig vergessen, daß sie einen Mann hat.“ Über kurz oder lang wurde es aber der Alten über, Frau Baronin zu sein. Sie schickte nach dem alten Mann und befahl ihm, wieder zu dem kleinen goldenen Fisch zu gehen.
„Sag ihm, daß ich genug habe von dem Leben als Baronin, und daß ich Kaiserin werden will.“
Der alte Mann ging zurück zur Küste und rief:
„Kleiner Fisch, sei so gut,
schwimm zu mir,
tauch aus der Flut.“
Der kleine Fisch kam herangeschwommen, stützte sich auf seinen Schwanz, zeigte seinen Kopf und fragte: „Was wünschst du, alter Mann?“ „Meine Frau wird immer närrischer. Sie hat genug vom Leben als Baronin, nun will sie Kaiserin sein.“ „Sorg dich nicht“, antwortete der kleine Fisch, „geh heim, und alles ist in Ordnung.“ Der alte Mann ging nach Haus. Wo das Herrenhaus gestanden hatte, erhob sich nun ein großes Schloß hinter dem Portal. Es lag inmitten eines großen Parkes, und auf einer Wiese exerzierten die Soldaten. Die alte Frau, wie eine Kaiserin gekleidet, trat mit ihren Generälen auf den Balkon, um die Truppen zu besichtigen. Trommeln dröhnten, Trompeten erschallten, und die Soldaten riefen Hurra!
Über kurz oder lang wurde es der Alten aber über, Kaiserin zu sein, und sie gab Befehl, den alten Mann zu holen. Das gab ein großes Durcheinander, die Generäle liefen hierhin, die Edelleute dorthin. „Welchen alten Mann meint sie nur?“ fragten sie untereinander. Schließlich fanden sie ihn in einem Winkel hinter dem Schloß und brachten ihn zur Kaiserin. „Hör zu, du alter Narr“, sagte sie, „geh zu deinem kleinen goldenen Fisch und sage ihm, ich will nicht mehr länger Kaiserin sein. Ich will die Herrscherin über alle Meere werden, und die Wellen und die Fische haben mir zu gehorchen.“ Der alte Mann wollte etwas erwidern, aber da befahl die alte Frau: „Wenn er nicht gehen will, schlagt ihm den Kopf ab!“
So nahm er allen Mut zusammen, ging zur Küste und rief:
„Kleiner Fisch, sei so gut,
schwimm zu mir,
tauch aus der Flut.“
Aber kein Fisch erschien. Der alte Mann rief noch einmal, wieder geschah nichts. Als er ein drittes Mal rief, begann das Meer plötzlich zu stürmen, die Wogen türmten sich hoch, und der Himmel wurde schwarz. Der kleine Fisch kam herangeschwommen, stützte sich auf seinen Schwanz, zeigte seinen Kopf und fragte: „Was wünschst du, alter Mann?“
„Das alte Weib wird immer närrischer. Sie will nicht länger Kaiserin sein. Sie will Herrscherin der Meere werden, um Macht zu haben über die Wellen und die Fische und ihnen befehlen könnnen.“ Der kleine goldene Fisch sagte gar nichts, sondern drehte sich um und verschwand in der Tiefe des Meeres. Da ging der alte Mann nch Haus zurück, und als er dort ankam, wollte er seinen Augen nicht trauen. Das Schloß mit allem Zubehör war verschwunden, und an seiner Stelle stand wieder die kleine baufällige Hütte. Drinnen saß die Frau in ihren zerlumpten Kleidern.
Nun lebten sie wieder so, wie sie es früher getan hatten. Der alte Mann knüpfte Netze und fuhr aufs Meer hinaus zum Fischen. Aber sooft er auch sein Netz auswarf, niemals wieder fing er einen goldenen Fisch.
Quelle: Aus achtbändiger Ausgabe russischer Märchen 1860 Moskau.
Alexander Nikolajewitsch Afanasjew