Vor Zeiten lebte einmal ein Armer namens Ongeu Bötjuk. Er war ganz allein, und sein ganzer Reichtum bestand in einer alten Jurte und einem Mühlstein. Aber das war kein einfacher Mühlstein. Wenn Ongeu Bötjuk mit seiner kleinen Schaufel gegen den Mühlstein schlug, kamen aus dem Stein verschiedene Speisen hervor. Diesen Mühlstein hatte ihm ein Zauberer geschenkt, weil Ongeu Bötjuk stets fleißig war und es ihn nie nach fremder Habe gelüstete.
Eine Meile entfernt wohnte ein reicher alter Mann, der Ongeu um seinen Mühlstein beneidete. Einmal schickte er seine Kinder zu dem Armen und trug ihnen auf, ihm zu sagen, er wolle ihm für den Mühlstein die Hälfte seines Reichtums hergeben.
Die Kinder kamen zu Ongeu Bötjuk. Ongeu Bötjuk fragte sie: „Meine Lieben, was führt euch zu mir?“ Sogleich schlug er mit seiner kleinen Schaufel auf den Mühlstein und holte Süßigkeiten aus ihm hervor. Die Kinder sagten: „Unser Vater läßt dir sagen: Du bist schon lange ein guter Nachbar unseres Vaters, darum mußt du seinen Wunsch erfüllen und ihm deinen Mühlstein geben, er schenkt dir dafür die Hälfte seines Reichtums.“ Ongeu Bötjuk hörte sich das an und sagte: „Kommt erst einmal her und eßt.“ Die Kinder aßen die Süßigkeiten. Nun antwortete Ongeu Bötjuk: „Bestellt eurem Vater: Würde ich den Mühlstein für die Hälfte seines Reichtums abtreten, käme ich mit diesem Reichtum nur ein Jahr aus. Mein Mühlstein dagegen ernährt mich immer. Das sagt eurem Vater.“ Die Kinder hörten sich das an und gingen.
Als sie dem Vater zu Hause die Antwort ausrichteten, sagte dieser: „Er wollte bloß mit seinem Wunder prahlen. Aber dieses Wunder hat er nur durch Zufall bekommen. Kinder, geht zurück und sagt ihm: Wenn er in Frieden mit mir leben möchte, soll er mir seinen Mühlstein geben, wenn er sich aber weigert, dann bindet ihn, ladet den Mühlstein auf .den Schlitten und schafft ihn her.“ Das bestellten die Kinder dem Armen. Ongeu Bötjuk antwortete: „Mag euer alter Vater es mir nicht übelnehmen, aber den Mühlstein gebe ich nicht her.“ Da stürzten sich die Kinder auf Ongeu Bötjuk und banden ihn an den Mittelpfahl in der Jurte. Er schrie, aber umsonst. Sie luden den Mühlstein auf den Schlitten und schafften ihn fort. Ohne Aufenthalt fuhren sie zu ihrem Haus.
Mittlerweile hatte sich Ongeu Bötjuk ausgeruht und war wieder zu Kräften gekommen. Er spannte seine Muskeln an und sprengte die Fesseln. Er wollte die Jurte verlassen, aber die Tür war von außen mit einem dicken Balken verrammelt. Da ergriff Ongeu Bötjuk einen anderen Balken und stieß damit die Tür auf. Nun rannte er ins Freie und nahm die Verfolgung auf. Unterwegs erblickte er einen See, er bückte sich und begann zu trinken, und schließlich trank er den ganzen See leer, so daß an der Stelle nur ein Sumpf übrigblieb. Das getan, setzte er seinen Weg fort, um die Brüder einzuholen. Er durchquerte ein Tal und lief am Fuße eines felsigen Berges entlang. Plötzlich erblickte er einen Bären. Der Bär stürzte brüllend auf ihn zu. Aber Ongeu Bötjuk verschluckte den Bären. Dann setzte er seinen Weg fort. Als er auf dem Berggipfel einen Fuchs erblickte, rannte er hinter ihm her, überholte ihn und verschluckte auch den Fuchs.
Indes hatte er sich dem Hause des Reichen genähert. Der Reiche sah ihn unter gerunzelten Brauen an und sagte zu seinen Kindern: „Kinder, ich habe euch doch befohlen, ihn gut zu binden. Wenn euch euer Leben lieb ist, dann schafft ihn sofort hinaus und werft ihn den Hunden zum Fraße vor.“ Die Brüder packten Ongeu Bötjuk und schleppten ihn zu den Hunden. Sobald die Hunde sich auf ihn stürzten, ließ er den lebendigen Fuchs aus seinem Mund heraus, der Fuchs rannte davon, die Hunde folgten ihm, und schließlich verschwanden sie alle im Wald. Ongeu Bötjuk stürmte ins Haus und schrie dem Reichen zu: „Gib mir sofort meinen Mühlstein zurück!“ Der Reiche fuhr seine Kinder zornig an; „Ach ihr Lumpen, ihr habt ihn also den Hunden nicht vorgeworfen! Werft ihn den wilden Hengsten vor, damit sie ihn zerstampfen.“ Die Brüder warfen ihn den wilden Hengsten vor die Hufe. Aber Ongeu Bötjuk ließ den Bären aus seinem Mund heraus, und der Bär zerfleischte die Hengste. Ongeu Bötjuk stürmte ins Haus des Reichen. „Was für eine Plage!“ ächzte der Reiche. „Packt ihn sofort, bindet ihn an einen Pfahl, ich will ihn mit einem glühenden Ladestock prügeln.“ Die Brüder führten Ongeu zu einem Pfahl neben der Jurte und banden ihn fest. Aber Ongeu Bötjuk trat mit dem Fuß das Fenster der Jurte ein und spie den ganzen See aus seinem Munde aus.
Der Reiche stand bis an den Hals im Wasser. Da erschrak er sehr und schrie: „Nimm deinen Mühlstein, bloß rette mich und schlucke das Wasser wieder ein.“
In der Jurte des Reichen war das Feuer bereits erloschen, der ganze Hausrat schwamm im Wasser, und der Alte selbst, dem ja das Wasser schon bis an den Hals reichte, bettelte um sein Leben. Ongeu Bötjuk spannte alle seine Muskeln an und sprengte die Stricke. Dann sog er das ganze Wasser wieder ein, nahm den Mühlstein und ging nach Hause. Als er zu der Stelle kam, wo der See gewesen war, ließ er das Wasser aus dem Mund heraus, und nun war der See wieder da. Schließlich langte er bei seiner Jurte an. Er machte eine neue Tür und legte den Mühlstein an seinen Platz.
Es heißt, daß Ongeu Bötjuk nach wie vor ein zufriedenes Leben führt.
Quelle:
(jakutisches Märchen)