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Märchenbasar

Verdienter Lohn

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Ein Mann hatte einen Sohn, der war ein Faulpelz. Der Vater schaffte von früh bis spät, der Sohn aber tat nichts anderes, als daß er von früh bis spät faulenzte. Er aß und trank, was nicht er erworben, und trug Kleidungsstücke, die fremde Hände genäht hatten. Mit des Vaters Geld ging er auch nicht sparsam um, sondern warf es mit beiden Händen zum Fenster hinaus.
Der Vater wollte das nicht länger mit ansehen. Er beschloß, dem Sohn Fleiß und Sparsamkeit beizubringen. Darum brachte er ihn in einen benachbarten Aul und verdingte ihn als Knecht. Der Faulpelz aber wollte nicht arbeiten. Als sein Herr erfuhr, dah der Faulpelz ein Sohn wohlhabender Eltern war, dachte er bei sich: Warum soll ich den Burschen zur Arbeit anhalten wie meine anderen Knechte? Sicherlich hat ihn der Vater nicht dazu hergebracht. Zwinge ich ihn mit Gewalt zur Arbeit, wird der Vater es mir noch übelnehmen. Darum ließ der Bauer den neuen Knecht nicht arbeiten, gab dem jungen Taugenichts gut zu essen und versorgte ihn mit schönen Kleidern.
So verging ein Jahr, der Bauer gab dem Faulpelz wie vereinbart ein Goldstück und ließ ihn ziehen. Der Sohn langte daheim an. „Nun Söhnchen, warst du fleißig?“ fragte der Vater. „Gewiß.“ — „Hast du den Lohn für deine Arbeit bekommen?“ — „Ja.“ — „Gib mal her!“ Der Sohn gab dem Vater das Goldstück. Ohne hinzusehen, schleuderte der Vater das Goldstück in den Fluß. Der Sohn wunderte sich nicht darüber und beachtete das sonderbare Verhalten des Vaters überhaupt nicht. „Nun Söhnchen“, sagte der Vater, „arbeite jetzt ein weiteres Jährchen.“
Damit brachte er ihn in einen anderen Aul, zu einem anderen Bauern. Der dachte genauso wie der erste:
Vielleicht hat man den Burschen hergebracht, um festzustellen, was ich für einer bin. Nein, zwingen will ich ihn nicht zur Arbeit, sonst heißt es nachher, ich sei unbarmherzig. Also zwang er den Faulpelz nicht fleißig zu sein, sondern ließ ihm freie Hand: Wollte er arbeiten, war es gut, wollte er nicht arbeiten, war es auch gut. Und doch gab er dem Faulen gutes Essen und gute Kleider.
Nachdem das Jahr um war, gab der Herr dem Faulpelz ein Goldstück und ließ ihn ziehen.
Der Sohn kehrte zum Vater zurück. „Nun Söhnchen, hast du fleißig geschafft?“ — „Aber ja.“ — „Hast du den Lohn für deine Arbeit bekommen?“ — „Das habe ich.“ — „Gib her!“ Der Sohn gab dem Vater das Goldstück. Der Vater warf es in .den Fluß. Wie das erstemal beachtete der Sohn das Tun des Vaters nicht und fagte nicht einmal, warum er das tat.
Der Vater sah, daß die Dinge gar nicht liefen, wie er wollte. Auch diesmal brachte er den Sohn in einen entfernten Aul und verdingte ihn wiederum als Knecht. „Ich sehe“, sagte der Vater zu dem neuen Herrn, „daß du nicht reich bist, darum verlange ich für die Arbeit meines Sohnes keinen Lohn von dir. Mag er unentgeltlich arbeiten.“ Da erriet der Bauer, daß es mit dem Jungen eine besondere Bewandtnis haben müsse. Gleich vom ersten Tag an ließ er ihn hart arbeiten und setzte ihm erst nach Sonnenuntergang etwas zu essen vor.
Und so ging es nun Tag für Tag: Der Hausherr erhob sich bei Tagesgrauen, machte sich an die Arbeit und ließ auch den Faulpelz aufstehen. Er selbst arbeitete unverdrossen und verbot auch dem Burschen, müßig zu sein. Das Arbeiten kam den Faulen sauer an: Er ächzte und krächzte und schwitzte, aber der Bauer schien nichts davon zu merken. Er sagte nur immer wieder: „So wie ich arbeite, so mußt auch du arbeiten. Bleibe nicht hinter mir zurück.“
Da sah der Faulpelz, dah es vor der Arbeit kein Entrinnen gab. Mit der Zeit gewohnte er sich so ans Arbeiten, dah keine Ermahnungen mehr nötig waren. Früher mußte der Bauer ihn antreiben und rügen, jetzt lobte er ihn sogar hin und wieder. So schaffte der Bursche ein Jahr, bekam schwielige Hände und nutzte seine schönen Kleider ab.
Als die Frist um war, sagte der Bauer: „Dein Vater hat für deine Arbeit keinen Lohn verlangt, aber du warst so fleißig, dah ich dich nicht mit leeren Händen ziehen lassen kann. Hier hast du zwei Goldstücke, und nun lebe wohl.“ Der Sohn kehrte nach Hause zurück. Der Vater musterte ihn verstohlen schmunzelnd und fragte: „Nun lieber Sohn, hast du tüchtig geschafft?“ — „Glaube schon …“ — „Hat der Bauer dir einen Lohn ausgezahlt?“ — „Zwei Goldstücke hat er mir gegeben.“ — „Gib einmal her!“
Der Sohn reichte dem Vater die beiden Goldstücke. Der nahm sie, holte aus, um sie ins Wasser zu schleudern, aber da sprang der Sohn herzu und fiel ihm in den Arm. Der Vater sah ihn an und fragte: „Warum erschrickst du denn?“ Da rief der Sohn: „Wirf die Goldstücke nicht ins Wasser, Vater! Sie haben mich viel Schweiß gekostet.“ Da sagte der Vater lächelnd: „Jetzt sehe ich, Söhnchen, daß es dein verdienter Lohn ist. Jawohl, wohlverdienten Lohn wirft man nicht einfach weg. Hast du das jetzt begriffen?“

Quelle:
(kabardinisches Märchen)

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