Es lebte einmal ein Mann mit seiner Frau. Sie hatten eine Tochter. Eines Tages wurde die Frau unerwartet krank und verstarb kurz darauf. Nach einer Weile heiratete der Mann wieder. Nur war die zweite Frau ein böses Weib. Von Anfang an hat sie ihre Stieftochter nicht geliebt, hat sie gescholten und geprügelt. Mit allen Mitteln wollte sie das Mädchen loswerden. Eines Tages fuhr der Mann aus dem Haus. Die Stiefmutter sprach zu dem Mädchen:
Ihre Schwester war aber Baba-Jaga, die grausige Hexe. Doch konnte das Mädchen nicht widersprechen und ging aus dem Haus. Unterwegs kehrte sie bei ihrer Tante ein.
„Guten Tag, liebe Tante“. „Grüße dich! Was führt dich zu mir?
„Meine Stiefmutter hat mich zu ihrer Schwester geschickt, um Nadel und Zwirn zu holen“.
„Du hast sehr recht daran getan, dass du vorher zu mir gekommen bist!“ – antwortete die Tante.
„Nehme dieses Band, dieses Brot, das Öl und das Stück Fleisch. Eine Birke wird dich mit ihren Ästen schlagen und beim Gehen stören wollen, binde ihre Äste mit dem Band zusammen. Das Tor wird quietschen und knallen und wird dich nicht passieren lassen, du musst die Angeln mit dem Öl bestreichen. Die Hunde werden dich beißen und reißen, also gib ihnen das Brot. Der Kater wird versuchen dein Gesicht und deine Augen zu zerkratzen, du gibst ihm aber das Fleisch“.
Das Mädchen hatte alles verstanden, bedankte sich und machte sich auf den Weg. Sie ging, ging und kam schließlich zu dem Wald.
Hinter einem großen Zaun sah sie Baba-Jagas Hütte auf Hühnerfüßen stehen. In der Hütte saß Baba-Jaga, die knöcherne Hexe und webte.
„Guten Tag, Großmutter“. „Guten Tag, Mädchen. Was willst du von mir?“
„Meine Stiefmutter hat mich zu dir geschickt mit der Bitte um Nadel und Zwirn, damit sie mir ein Kleid nähen kann“.
„Jawohl, du sollst alles bekommen, aber vorher setze dich und webe“.
Das Mädchen setzte sich ans Fenster und begann zu weben. Baba-Jaga ging währenddessen aus dem Zimmer und sprach zu ihrem Dienstmädchen:
„Ich gehe jetzt ins Bett. Du sollst die Banja heizen und das Mädchen gründlich waschen. Nach dem Schlaf fresse ich das kleine Ding auf“.
Das Mädchen aber hörte ihre Worte und erschreckte sich fürchterlich. Nachdem Baba-Jaga gegangen war, bat sie die Magd:
„Erbarme dich, zünde nicht das Feuer im Ofen an, sondern gieße Wasser darüber“ – und sie schenkte ihr ein Tuch.
Als Baba-Jaga während der Nacht erwachte, fragte sie:
„Webst du, meine Liebe?“ „Ich webe, Tantchen“ – antwortete das Mädchen und wendete sich an den Kater:
„Brüderchen Kater, sag mir, wie kann ich von hier fliehen?“ Dann gab sie ihm das Fleisch, damit er ihr nicht das Gesicht zerkratzte.
Der Kater sprach: „Hör mir gut zu. Schau, auf dem Tisch liegt ein Handtuch und ein Kamm. Nimm beide und laufe schnell davon. Baba-Jaga wird dich verfolgen. Du musst laufen und laufen, ab und zu musst du dich hinlegen und der Erde zuhören. Wenn du hörst, dass Baba-Jaga schon ganz nah ist, so wirf den Kamm auf die Erde. An dieser Stelle entsteht sofort ein dicker Wald. Während Baba-Jaga den Wald passiert, musst du aus allen Kräften weiterlaufen. Wenn du wieder hörst, dass Baba-Jaga ganz nahe ist, dann wirf das Handtuch auf den Boden. Sofort entsteht an dieser Stelle ein Fluss.“
„Vielen Dank, Brüderchen Kater“ – erwiderte das Mädchen, bedankte sich, nahm den Kamm und ein Handtuch und lief aus der Hütte.
Alsbald sprangen die Hunde auf sie und wollten das Mädchen in Stücke reißen. Es gab ihnen das Brot und sie ließen es sofort in Ruhe.
Das Tor quietschte und wollte sich vor ihr schließen. Das Mädchen goss Öl in die Angeln und sofort ließ sie das Tor durch.
Die Birke breitete ihre Äste aus, um es aufzuhalten. Doch das Mädchen knotete die Äste mit dem Band zusammen. Die Birke ließ sie sofort weiterlaufen.
Und dann rannte das Mädchen aus vollen Kräften, ohne zurückzuschauen.
Inzwischen hatte der Kater Platz am Fenster genommen und begann zu weben. Da erwachte Baba-Jaga wieder und fragte:
„Webst du, Mädchen? Webst du, Liebe?“
Der Kater antwortete: „Ich webe, Tantchen“.
Baba-Jaga lief ins Zimmer und sah: Anstatt des Mädchens saß der Kater am Fenster und webte. Da wurde Baba-Jaga zornig:
„Du Betrüger, du Räuber! Warum hast du das Mädchen nicht aufgehalten? Weshalb hast du ihr nicht das Gesicht und die Augen zerkratzt?“
Der Kater sprach: „Ich diene dir nun schon seit vielen Jahren, doch hast du mir nie etwas gegeben, nicht einmal einen Knochen. Das Mädchen aber hat mir ein Stück Fleisch geschenkt!“
Baba-Jaga lief aus der Hütte zu den Hunden: „Warum habt ihr das Mädchen nicht in Stücke gerissen, warum habt ihr sie nicht gebissen?“
„Wir stehen schon seit so vielen Jahren in deinen Diensten. Doch gibst du uns nicht einmal eine trockene Brotrinde zu fressen. Das Mädchen aber hat uns Brot gereicht!“
Baba-Jaga lief auf das Tor zu: „Warum hast du nicht gequietscht, nicht geknallt? Warum hast du das Mädchen durchgelassen?“
„Ich diene dir schon seit vielen Jahren. Doch du gießt mir nicht einmal in die Angeln. Das Mädchen aber hat meine Angeln mit Öl geschmiert!“
Baba-Jaga lief auf die Birke zu: „Warum hast du die Augen des Mädchens nicht mit deinen Ästen zerstochen?“
Die Birke antwortete: „Ich diene dir schon seit vielen Jahren. Doch schenkst du mir nicht einmal einen Zwirn. Das Mädchen aber hat mir ein Band geschenkt!“
Da begann Baba-Jaga die Magd zu beschimpfen: „Du so dumm! Wieso hast du mich nicht geweckt? Warum hast du nicht gerufen? Warum hast du dem Mädchen gestattet wegzulaufen?“ „Ich arbeite bei dir seit so vielen Jahren. Doch du sprichst nie zärtlich zu mir. Das Mädchen aber hat mir ein Tuch geschenkt!“
Da sprang Baba-Jaga in ihren fliegende Reibschale und nahm die Verfolgung auf. Mit dem Stößel beschleunigte sie, mit dem Besen verbarg sie ihre Spur. Währenddessen lief das Mädchen weiter und weiter. Nach einer Weile legte sie sich auf die Erde, und hörte wie die Erde zitterte und bebte. Da wurde dem Mädchen klar, dass Baba-Jaga schon ganz in der Nähe. Es holte den Kamm heraus und warf ihn über die rechte Schulter auf die Erde. Auf dieser Stelle entstand sofort ein hoher Wald. Die Wurzeln der Bäume gruben sich tief ins Erdreich, die Gipfel ragten den Himmel. Und da kam schon Baba-Jaga angeflogen. Sie versuchte den Wald zu passieren, doch sie stieß gegen die Bäume. Um hindurchzukommen, musste sie die Bäume umknicken und die Äste durchbeißen. Das Mädchen aber machte keine Pause und lief weiter.
Ob lang, ob kurz, hörte das Mädchen die Erde wieder zittern. Baba-Jaga war wieder ganz nah! Das Mädchen nahm das Handtuch und warf es über die rechte Schulter auf die Erde. An der Stelle entstand sofort ein Fluss, sehr tief und sehr breit. Baba-Jaga gelangte ans Ufer und musste vor Zorn mit den Zähnen knirschen. Sie konnte nicht über den Fluss! Sie kehrte zurück und trieb eine Herde von Stieren zu dem Fluss und zwang sie, das Wasser zu trinken. Die Stiere tranken und tranken. Das Wasser wurde aber nicht weniger. Da wurde Baba-Jaga wild vor Wut. Sie legte sich ans Ufer und begann selbst zu trinken. Sie trank, trank und trank, bis sie schließlich platzte!
Am Abend kehrte der Vater des Mädchens zurück nach Hause und fragte seine Frau:
„Wo ist denn meine Tochter?“
„Sie ist zu meiner Schwester gegangen, um sie um Zwirn und um eine Nadel zu bitten. Sie ist noch nicht wieder zurückgekommen“.
Als der Vater schon so besorgt war, dass er die Tochter suchen gehen wollte, lief das Mädchen ins Haus herein, vom Laufen ganz außer Atem.
„Wo warst du denn?“ – fragte sie der Vater.
„Oh, Vater. Die Stiefmutter hat mich zu ihrer Schwester geschickt. Ihre Schwester aber ist Baba-Jaga, die knöcherne Hexe! Sie wollte mich fressen, ich konnte ihr kaum entkommen“.
Als der Vater das erfuhr, nahm er einen schmutzigen Besen und vertrieb damit das böse Weib aus dem Haus. Seitdem wohnte er mit seiner Tochter zusammen, glücklich und im Wohlstand. Und damit ist das Märchen schon zu Ende.
Quelle:
(Russisches Märchen)