1.5
(2)
Ein armer alter Mann, der sich mit Holzhacken ernährt hatte, nach und nach aber den Unterhalt der Seinigen nicht mehr aufzutreiben vermochte, war des Lebens überdrüssig. Eines Tages, auf dem Wege nach der Stadt, wo er das mühsam gefällte Holz verkaufen wollte, nahm er den Strick, mit welchem er seine Last immer zusammenzupacken pflegte, und band ihn an einen Baumast, um sich zu erhängen. Wie er schon den Baum hinauf war, trat der Teufel hinzu und fragte: »Menschlein, was hast du im Sinn?« – »Aufhängen will ich mich«, war hierauf des Verzweifelten Antwort, »aufhängen, weil ich kein Holz mehr schleppen mag!« – »So laß«, meinte jener hierauf, »das Holzschleppen bleiben, wenn dirs nicht gefällt.« – »Das geht nicht«, erwiderte der Holzhacker, »denn wer würde mein Weib, meine Tochter und meinen Hund ernähren?« Da lachte der Teufel und sagte: »Wer wird es aber tun, wenn der alte Holzwurm im Winde fliegt?« Dies brachte den Alten zur Besinnung, und er ließ sich mit dem Teufel auf weitere Reden ein, welche damit endigten, daß dieser ihm einen mächtigen Schatz in Gold und Silber versprach, wenn er ihm überlassen wollte, was ihm an diesem Abend zuerst vor seinem Haus entgegenkäme. Der Holzhacker dachte sogleich an seinen alten treuen Hund, der ihm jeden Abend, wenn er müde vom Wald oder aus der Stadt heimkehrte, zuerst und freudig wedelnd entgegensprang. Diesen glaubte er, wenn er ein recht reicher Mann wäre, am ehesten entbehren zu können, und besann sich deshalb nicht länger, dem Teufel zu versprechen, was er verlangte.
Leicht und froh ging er diesmal nach Hause; er eilte, so sehr es ihm seine alten Beine gestatteten, und kam in der Nähe seiner Hütte fast atemlos an. Wie erschrak er aber, als er schon von weitem seine Tochter, sein einziges Kind, herbeieilen sah, die ihm voll Freude zurief: »O Vater, kommt und eilt nur zu schauen, was der liebe Gott für ein Wunder an uns und unserer Hütte getan hat. Die Streu unter der Ziege und der Flachs auf dem Boden haben sich in lauteres Gold verwandelt.« – »O Tochter«, erwiderte hierauf der Alte niedergeschlagen, »das ist eine traurige Stunde für uns.« Er faßte sich jedoch sogleich, um nicht zu verraten, was zwischen ihm und noch einem im Walde vorgegangen war, und sagte alsdann: »Komm, mein Kind, daß wir sehen, was für ein Wunder uns geschehen ist.« So betraten sie die Hütte, in welcher nun alle, Mutter, Tochter und Hund, nur der Alte nicht, vor Freude in der engen Stube herumsprangen.
Des andern Tags in der Frühe, die Sonne war noch nicht herauf, hieß der Holzhacker seine Tochter sich ankleiden und mit ihm zum Walde gehen. Munter folgte das gute Mädchen, denn es dachte natürlich nichts Arges. Im Wald aber führte der Vater es an die Stelle, wo er gestern mit dem Teufel den Handel gemacht hatte, und befahl ihm, da zu harren, bis er wiederkomme. Es setzte sich, ohne daß sich ein Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieses Wortes bei ihm einstellte, ins Gras, und wartete bis an den Abend, allein umsonst. Endlich wollte es weinend verzagen, da erschien ihm die heilige Jungfrau, die es fragte, was es hier mache, ob es jemand erwarte. Das Mädchen bejahte es, indem es sagte, daß jeden Augenblick sein Vater kommen solle. »O mein Kind«, war der heiligen Mutter Antwort, »dein Vater wird nicht wiederkommen, er hat dich für immer verlassen. Er hat dich für den großen Schatz, den ihr gestern bekommen habt, dem Teufel versprochen, der dich hier abholen soll.« Hierüber erschrak das arme Kind sehr und fing an, heftig zu weinen. Die Mutter Gottes aber sprach ihm Mut ein, indem sie zu ihm sagte: »Sieh, meine Tochter, hier ziehe ich einen Kreis um dich, aus dem du aber durchaus nicht hinaustreten sollst, mag auch vorgehen, was da will. Wenn ich jetzt fort bin, so wird die Hölle alle ihre feurigen Teufel senden, dich zu schrecken und zu bedrohen, aber sie werden dir nichts anhaben können! Sei mutig, in einer Stunde bin ich wieder bei dir!« Mit diesem verschwand die Heilige, und alsbald erschienen in den schrecklichsten und häßlichsten Gestalten Hunderte von Teufeln, die, feurige Räder schlagend, gegen den Kreis anfuhren oder mit stinkenden, kotigen Krallen darüber nach dem armen Kind zu greifen suchten, und wenn sie sahen, daß dies nicht ging, mit Unrat nach ihm warfen und stinkenden Geifer nach ihm ausspieen. Aber alles fiel kraftlos vor dem reinen Kreis nieder. Nach einer Stunde kam die heilige Jungfrau, wie sie verheißen hatte, zurück, und unter wildem Geheule verkrochen sich die Teufel nach allen Seiten hin, weil sie den Glanz der Heiligen nicht schauen konnten.
Nun nahm diese das arme Mädchen bei der Hand und führte es in einen herrlichen Garten, worin ein prächtiges Haus stand. Nachdem sie dieses betreten hatten, übergab sie ihm zum Spielen zwei brennende Tauben, auch viele schöne, heilige Bücher zum Lesen und Lernen, samt einer Kerze. Weiter hängte sie ihm vier Schlüssel um, indem sie zu ihm sagte: »Mit diesen Schlüsseln, liebes Kind, darfst du alle Türen öffnen und in alle Zimmer gehen, nur das eine Zimmer, welches dieser hölzerne Schlüssel öffnet, sollst du meiden.« Das Mädchen versprach zu gehorchen und öffnete, nachdem ihre heilige Beschützerin weggegangen war, eine der ihm erlaubten Türen. Wie es eintrat, konnte es fast nicht vorwärts vor Entzücken über die Herrlichkeit, die sich seinen Augen hier darstellte. Einen Tag verweilte es, dann ging es zurück. Die heilige Mutter kam ihm entgegen und fragte es, wo es gewesen. Es antwortete: »Ich habe einen Tag im Paradies zugebracht.« – »Nicht einen Tag«, entgegnete hierauf Maria, »warst du darin, sondern ein ganzes Jahr.«
Am anderen Tag öffnete sich das Mädchen eine zweite Tür, und sein Entzücken über das, was es hier sah, war noch größer als gestern. Es konnte diesmal nicht länger als eine Stunde verweilen, denn die Herrlichkeit war allzu groß. Beim Heraustreten sah es wieder die heilige Jungfrau vor sich stehen, die es fragte, wo es gewesen. Es antwortete: »Ach, eine Stunde habe ich in einem Paradies zugebracht, welches an Schönheit und Pracht das von gestern weit übertraf.« Hierauf entgegnete die Heilige wieder: »Nicht eine Stunde, sondern drei Menschenleben hindurch hast du die Herrlichkeit Gottes bewundert.«
Am dritten Tage ging das Mädchen durch eine dritte Tür, konnte jedoch vor überirdischem Glanz, der ihm hier entgegenleuchtete, nicht eine Minute lang die Augen offenhalten, sondern mußte mit geschlossenen Augen wieder zurücktreten, und als es wieder in sein Zimmer kam und die heilige Jungfrau es dort befragte, wo es gewesen, da antwortete es: »Heute habe ich nur einen Blick in den Glanz der Himmel getan, aber ich habe sogleich umkehren müssen, weil er mir die Augen blendete.« Da lächelte Maria und sagte: »Du irrst, mein Kind, denn du verbrachtest eine halbe Ewigkeit im Aufenthalt der Seligen.«
Nachdem nun das Mädchen in allen ihm erlaubten Zimmern gewesen war, so widerstand es zwar einige Male der Neugierde, welche es überkam, wenn es den hölzernen Schlüssel betrachtete, den ihm die heilige Mutter Gottes mit den anderen gegeben hatte, allein bald stand es vor der verbotenen Tür, horchte daran und öffnete. Hier sah es die heilige Mutter Gottes, wie sie ihrem Sohne, dem Herrn Christus, die Wunden heilte. Als die Heilige sah, daß das Mädchen ihr Verbot überschritten hatte, rief sie zürnend: »Öffne dich, Erde, und verschlinge die Ungehorsame.« Christus aber sprach: »Nein, eine andere Strafe soll es haben, seinen Fehler zu büßen«, worauf Maria es bei der Hand nahm und es in eine finstere Höhle der Erde führte, ihm dann alle möglichen Lebensmittel übergab, ihm aber streng verbot, mit irgend jemand, wer es auch sei, zu sprechen, und das so lange, bis die hohe Heilige selbst das Verbot wieder aufhöbe.
In strenger Abgeschiedenheit lebte hier das Mädchen lange, lange Zeit, während welcher es nichts von Menschen sah und hörte. Nun trug es sich aber einmal zu, daß der Sohn des Kaisers die Wildnis in der Nähe der Höhle mit großem Jagdgefolge durchstreifte und einem angeschossenen Wilde nach gerade vor die düstere Behausung der einsamen Waldbewohnerin kam. Wie er ihre Schönheit gewahr wurde, trat er näher, begrüßte sie und bat sich einige Erfrischungen aus, mit denen sie ihn aufs willfährigste bewirtete, ohne jedoch auf irgendeine der Fragen zu antworten, die er an sie richtete.
Als der Prinz nach Hause zurückgekehrt war, erzählte er seinem Vater, dem Kaiser, die Begegnung im Wald und sprach den festen Entschluß aus, keine andere zu freien als diese wunderschöne Waldjungfrau, obwohl sie stumm sei. Der Kaiser widersetzte sich dem Willen seines Sohnes, weil er wünschte, daß er eine Fürstentochter heirate. Der Prinz aber ließ sich durchaus nicht abhalten, sondern holte sich aus der Höhle die stumme Waldjungfrau und heiratete sie. Nach einem Jahr hatte sie ihm zwei schöne, goldene Kinder geboren, worüber auch der alte Kaiser eine ausnehmende Freude hatte, so daß er nichts mehr gegen die Verbindung seines Sohnes mit einem Mädchen von so unbekannter Herkunft einwendete. Obgleich es ihm noch immer nicht gefallen wollte, daß seine Schwiegertochter stumm war, trug er doch alle Sorge für sie und ließ dreifache Wache vor dem Zimmer der Wöchnerin aufstellen, damit weder ihr noch seinen lieben goldenen Enkelein ein Leid geschehe.
In der Nacht aber, als sowohl die Mutter als auch ihre Wärterinnen schliefen, erschien die Mutter Gottes und nahm eines der Kinder mit sich. Als die Wärterinnen erwachten und sahen, daß ein Bettchen leer war, erschraken sie und fürchteten sich sehr vor dem Zorn des Kaisers und des Prinzen. Sie fingen deshalb eine Gans, vergoldeten sie und liefen damit, als es Tag wurde, zum Kaiser, dem sie vorlogen, die Frau des Prinzen sei nichts anderes als eine abscheuliche Hexe, denn sie habe diese Nacht eines ihrer Kinder umgebracht und in eine Gans verwandelt. Sie zeigten auch wirklich die Gans dem Kaiser, welcher darüber in großen Zorn geriet und augenblicklich zu seiner Schwiegertochter ins Zimmer ging, um der Sache weiter nachzuforschen. Dies war aber umsonst, denn er brachte nichts heraus als Tränen, welche die Ärmste über den Verlust ihres Kindes weinte.
In der zweiten Nacht nahm die heilige Maria auch das andere Kind, und wieder taten die Wärterinnen so wie gestern, indem sie dem Kaiser mit denselben Lügen eine zweite vergoldete Gans zeigten. Der Kaiser, aufs höchste entrüstet, eilte wieder zu der Wöchnerin, ließ sie aus dem Bette reißen und in einen tiefen Kerker werfen, berief auch alsbald seinen Rat zusammen, um Gericht über die zu halten, die sein Haus und seines Stammes Ehre geschändet habe.
Da jedoch die mißhandelte Mutter, des Verbotes eingedenk, beharrlich nichts sprach, sondern nur immer bittere Tränen vergoß, um ihrem herben Schmerz Luft zu machen, so wollten des Kaisers Räte kein Urteil über sie fällen. Sie sprachen sich am Ende dahin aus, man solle die Sache bei drei Klöstern vorbringen, und was diese beschlössen, solle man vollziehen. So geschah es auch. Man sandte an drei Klöster vertraute Gesandte, welche alle mit dem Ausspruch zurückkamen, daß die Frau des Prinzen lebendig eingemauert werden solle. Dieses Urteil wurde nun an der Unglücklichen vollzogen, und bald war sie am Hofe und in der Stadt vergessen, nur der arme Prinz, ihr Gemahl, gedachte ihrer immer mit großem Herzeleid, weil er sie sehr liebte.
Die arme Mutter aber, die, als der letzte Stein über ihrem Haupt eingesetzt wurde, der Verzweiflung nahe war, bekam alsbald von der heiligen Mutter Gottes süße Tröstung, denn diese brachte ihr ihre beiden Kinder gesund und wohlbehalten in ihren dunklen Gewahrsam, gab ihr auch Lebensmittel und die Erlaubnis, wieder zu reden. Drei lange Jahre hatte die Unglückliche so in der engen Mauerhaft zugebracht, da ließ der Prinz, welcher die Sehnsucht nach seiner geliebtesten Frau nicht länger bezwingen konnte, die Mauer aufbrechen und sah zu seiner unaussprechlichen Freude die Mutter mit ihren goldenen Kindern blühend vor sich stehn. Er fiel ihr um den Hals, und als er sie nun reden hörte, kam er vor Entzücken fast außer sich. Er führte seine Gemahlin sogleich vor den Kaiser, der nicht minder freudig erstaunte über das herrliche Wunder, das an der Frau seines Sohnes und an seinen lieben Goldenkelein geschehen war. Die glückliche Mutter mußte nun ihr ganzes Schicksal wiederholt erzählen, worüber ihr Gemahl und der alte hohe Herr zu Tränen gerührt wurden und sie wegen des Unrechts, das sie ihr angetan hatten, inständig um Verzeihung baten.
Der Kaiser gab hierauf ein großes Freudenfest, worauf alle noch lange glücklich und vergnügt miteinander lebten. Aus den goldenen Kindern aber wurden mit der Zeit die herrlichsten Jünglinge.
Leicht und froh ging er diesmal nach Hause; er eilte, so sehr es ihm seine alten Beine gestatteten, und kam in der Nähe seiner Hütte fast atemlos an. Wie erschrak er aber, als er schon von weitem seine Tochter, sein einziges Kind, herbeieilen sah, die ihm voll Freude zurief: »O Vater, kommt und eilt nur zu schauen, was der liebe Gott für ein Wunder an uns und unserer Hütte getan hat. Die Streu unter der Ziege und der Flachs auf dem Boden haben sich in lauteres Gold verwandelt.« – »O Tochter«, erwiderte hierauf der Alte niedergeschlagen, »das ist eine traurige Stunde für uns.« Er faßte sich jedoch sogleich, um nicht zu verraten, was zwischen ihm und noch einem im Walde vorgegangen war, und sagte alsdann: »Komm, mein Kind, daß wir sehen, was für ein Wunder uns geschehen ist.« So betraten sie die Hütte, in welcher nun alle, Mutter, Tochter und Hund, nur der Alte nicht, vor Freude in der engen Stube herumsprangen.
Des andern Tags in der Frühe, die Sonne war noch nicht herauf, hieß der Holzhacker seine Tochter sich ankleiden und mit ihm zum Walde gehen. Munter folgte das gute Mädchen, denn es dachte natürlich nichts Arges. Im Wald aber führte der Vater es an die Stelle, wo er gestern mit dem Teufel den Handel gemacht hatte, und befahl ihm, da zu harren, bis er wiederkomme. Es setzte sich, ohne daß sich ein Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieses Wortes bei ihm einstellte, ins Gras, und wartete bis an den Abend, allein umsonst. Endlich wollte es weinend verzagen, da erschien ihm die heilige Jungfrau, die es fragte, was es hier mache, ob es jemand erwarte. Das Mädchen bejahte es, indem es sagte, daß jeden Augenblick sein Vater kommen solle. »O mein Kind«, war der heiligen Mutter Antwort, »dein Vater wird nicht wiederkommen, er hat dich für immer verlassen. Er hat dich für den großen Schatz, den ihr gestern bekommen habt, dem Teufel versprochen, der dich hier abholen soll.« Hierüber erschrak das arme Kind sehr und fing an, heftig zu weinen. Die Mutter Gottes aber sprach ihm Mut ein, indem sie zu ihm sagte: »Sieh, meine Tochter, hier ziehe ich einen Kreis um dich, aus dem du aber durchaus nicht hinaustreten sollst, mag auch vorgehen, was da will. Wenn ich jetzt fort bin, so wird die Hölle alle ihre feurigen Teufel senden, dich zu schrecken und zu bedrohen, aber sie werden dir nichts anhaben können! Sei mutig, in einer Stunde bin ich wieder bei dir!« Mit diesem verschwand die Heilige, und alsbald erschienen in den schrecklichsten und häßlichsten Gestalten Hunderte von Teufeln, die, feurige Räder schlagend, gegen den Kreis anfuhren oder mit stinkenden, kotigen Krallen darüber nach dem armen Kind zu greifen suchten, und wenn sie sahen, daß dies nicht ging, mit Unrat nach ihm warfen und stinkenden Geifer nach ihm ausspieen. Aber alles fiel kraftlos vor dem reinen Kreis nieder. Nach einer Stunde kam die heilige Jungfrau, wie sie verheißen hatte, zurück, und unter wildem Geheule verkrochen sich die Teufel nach allen Seiten hin, weil sie den Glanz der Heiligen nicht schauen konnten.
Nun nahm diese das arme Mädchen bei der Hand und führte es in einen herrlichen Garten, worin ein prächtiges Haus stand. Nachdem sie dieses betreten hatten, übergab sie ihm zum Spielen zwei brennende Tauben, auch viele schöne, heilige Bücher zum Lesen und Lernen, samt einer Kerze. Weiter hängte sie ihm vier Schlüssel um, indem sie zu ihm sagte: »Mit diesen Schlüsseln, liebes Kind, darfst du alle Türen öffnen und in alle Zimmer gehen, nur das eine Zimmer, welches dieser hölzerne Schlüssel öffnet, sollst du meiden.« Das Mädchen versprach zu gehorchen und öffnete, nachdem ihre heilige Beschützerin weggegangen war, eine der ihm erlaubten Türen. Wie es eintrat, konnte es fast nicht vorwärts vor Entzücken über die Herrlichkeit, die sich seinen Augen hier darstellte. Einen Tag verweilte es, dann ging es zurück. Die heilige Mutter kam ihm entgegen und fragte es, wo es gewesen. Es antwortete: »Ich habe einen Tag im Paradies zugebracht.« – »Nicht einen Tag«, entgegnete hierauf Maria, »warst du darin, sondern ein ganzes Jahr.«
Am anderen Tag öffnete sich das Mädchen eine zweite Tür, und sein Entzücken über das, was es hier sah, war noch größer als gestern. Es konnte diesmal nicht länger als eine Stunde verweilen, denn die Herrlichkeit war allzu groß. Beim Heraustreten sah es wieder die heilige Jungfrau vor sich stehen, die es fragte, wo es gewesen. Es antwortete: »Ach, eine Stunde habe ich in einem Paradies zugebracht, welches an Schönheit und Pracht das von gestern weit übertraf.« Hierauf entgegnete die Heilige wieder: »Nicht eine Stunde, sondern drei Menschenleben hindurch hast du die Herrlichkeit Gottes bewundert.«
Am dritten Tage ging das Mädchen durch eine dritte Tür, konnte jedoch vor überirdischem Glanz, der ihm hier entgegenleuchtete, nicht eine Minute lang die Augen offenhalten, sondern mußte mit geschlossenen Augen wieder zurücktreten, und als es wieder in sein Zimmer kam und die heilige Jungfrau es dort befragte, wo es gewesen, da antwortete es: »Heute habe ich nur einen Blick in den Glanz der Himmel getan, aber ich habe sogleich umkehren müssen, weil er mir die Augen blendete.« Da lächelte Maria und sagte: »Du irrst, mein Kind, denn du verbrachtest eine halbe Ewigkeit im Aufenthalt der Seligen.«
Nachdem nun das Mädchen in allen ihm erlaubten Zimmern gewesen war, so widerstand es zwar einige Male der Neugierde, welche es überkam, wenn es den hölzernen Schlüssel betrachtete, den ihm die heilige Mutter Gottes mit den anderen gegeben hatte, allein bald stand es vor der verbotenen Tür, horchte daran und öffnete. Hier sah es die heilige Mutter Gottes, wie sie ihrem Sohne, dem Herrn Christus, die Wunden heilte. Als die Heilige sah, daß das Mädchen ihr Verbot überschritten hatte, rief sie zürnend: »Öffne dich, Erde, und verschlinge die Ungehorsame.« Christus aber sprach: »Nein, eine andere Strafe soll es haben, seinen Fehler zu büßen«, worauf Maria es bei der Hand nahm und es in eine finstere Höhle der Erde führte, ihm dann alle möglichen Lebensmittel übergab, ihm aber streng verbot, mit irgend jemand, wer es auch sei, zu sprechen, und das so lange, bis die hohe Heilige selbst das Verbot wieder aufhöbe.
In strenger Abgeschiedenheit lebte hier das Mädchen lange, lange Zeit, während welcher es nichts von Menschen sah und hörte. Nun trug es sich aber einmal zu, daß der Sohn des Kaisers die Wildnis in der Nähe der Höhle mit großem Jagdgefolge durchstreifte und einem angeschossenen Wilde nach gerade vor die düstere Behausung der einsamen Waldbewohnerin kam. Wie er ihre Schönheit gewahr wurde, trat er näher, begrüßte sie und bat sich einige Erfrischungen aus, mit denen sie ihn aufs willfährigste bewirtete, ohne jedoch auf irgendeine der Fragen zu antworten, die er an sie richtete.
Als der Prinz nach Hause zurückgekehrt war, erzählte er seinem Vater, dem Kaiser, die Begegnung im Wald und sprach den festen Entschluß aus, keine andere zu freien als diese wunderschöne Waldjungfrau, obwohl sie stumm sei. Der Kaiser widersetzte sich dem Willen seines Sohnes, weil er wünschte, daß er eine Fürstentochter heirate. Der Prinz aber ließ sich durchaus nicht abhalten, sondern holte sich aus der Höhle die stumme Waldjungfrau und heiratete sie. Nach einem Jahr hatte sie ihm zwei schöne, goldene Kinder geboren, worüber auch der alte Kaiser eine ausnehmende Freude hatte, so daß er nichts mehr gegen die Verbindung seines Sohnes mit einem Mädchen von so unbekannter Herkunft einwendete. Obgleich es ihm noch immer nicht gefallen wollte, daß seine Schwiegertochter stumm war, trug er doch alle Sorge für sie und ließ dreifache Wache vor dem Zimmer der Wöchnerin aufstellen, damit weder ihr noch seinen lieben goldenen Enkelein ein Leid geschehe.
In der Nacht aber, als sowohl die Mutter als auch ihre Wärterinnen schliefen, erschien die Mutter Gottes und nahm eines der Kinder mit sich. Als die Wärterinnen erwachten und sahen, daß ein Bettchen leer war, erschraken sie und fürchteten sich sehr vor dem Zorn des Kaisers und des Prinzen. Sie fingen deshalb eine Gans, vergoldeten sie und liefen damit, als es Tag wurde, zum Kaiser, dem sie vorlogen, die Frau des Prinzen sei nichts anderes als eine abscheuliche Hexe, denn sie habe diese Nacht eines ihrer Kinder umgebracht und in eine Gans verwandelt. Sie zeigten auch wirklich die Gans dem Kaiser, welcher darüber in großen Zorn geriet und augenblicklich zu seiner Schwiegertochter ins Zimmer ging, um der Sache weiter nachzuforschen. Dies war aber umsonst, denn er brachte nichts heraus als Tränen, welche die Ärmste über den Verlust ihres Kindes weinte.
In der zweiten Nacht nahm die heilige Maria auch das andere Kind, und wieder taten die Wärterinnen so wie gestern, indem sie dem Kaiser mit denselben Lügen eine zweite vergoldete Gans zeigten. Der Kaiser, aufs höchste entrüstet, eilte wieder zu der Wöchnerin, ließ sie aus dem Bette reißen und in einen tiefen Kerker werfen, berief auch alsbald seinen Rat zusammen, um Gericht über die zu halten, die sein Haus und seines Stammes Ehre geschändet habe.
Da jedoch die mißhandelte Mutter, des Verbotes eingedenk, beharrlich nichts sprach, sondern nur immer bittere Tränen vergoß, um ihrem herben Schmerz Luft zu machen, so wollten des Kaisers Räte kein Urteil über sie fällen. Sie sprachen sich am Ende dahin aus, man solle die Sache bei drei Klöstern vorbringen, und was diese beschlössen, solle man vollziehen. So geschah es auch. Man sandte an drei Klöster vertraute Gesandte, welche alle mit dem Ausspruch zurückkamen, daß die Frau des Prinzen lebendig eingemauert werden solle. Dieses Urteil wurde nun an der Unglücklichen vollzogen, und bald war sie am Hofe und in der Stadt vergessen, nur der arme Prinz, ihr Gemahl, gedachte ihrer immer mit großem Herzeleid, weil er sie sehr liebte.
Die arme Mutter aber, die, als der letzte Stein über ihrem Haupt eingesetzt wurde, der Verzweiflung nahe war, bekam alsbald von der heiligen Mutter Gottes süße Tröstung, denn diese brachte ihr ihre beiden Kinder gesund und wohlbehalten in ihren dunklen Gewahrsam, gab ihr auch Lebensmittel und die Erlaubnis, wieder zu reden. Drei lange Jahre hatte die Unglückliche so in der engen Mauerhaft zugebracht, da ließ der Prinz, welcher die Sehnsucht nach seiner geliebtesten Frau nicht länger bezwingen konnte, die Mauer aufbrechen und sah zu seiner unaussprechlichen Freude die Mutter mit ihren goldenen Kindern blühend vor sich stehn. Er fiel ihr um den Hals, und als er sie nun reden hörte, kam er vor Entzücken fast außer sich. Er führte seine Gemahlin sogleich vor den Kaiser, der nicht minder freudig erstaunte über das herrliche Wunder, das an der Frau seines Sohnes und an seinen lieben Goldenkelein geschehen war. Die glückliche Mutter mußte nun ihr ganzes Schicksal wiederholt erzählen, worüber ihr Gemahl und der alte hohe Herr zu Tränen gerührt wurden und sie wegen des Unrechts, das sie ihr angetan hatten, inständig um Verzeihung baten.
Der Kaiser gab hierauf ein großes Freudenfest, worauf alle noch lange glücklich und vergnügt miteinander lebten. Aus den goldenen Kindern aber wurden mit der Zeit die herrlichsten Jünglinge.
[Rumänien: Arthur und Albert Schott: Rumänische Volkserzählungen aus dem Banat]